Bob Dylan

Mutmaßungen über eine Maske

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

1.

Bob Dylan war immer von Missverständnissen umstellt. Darüber ist oft Klage geführt worden, auch von ihm selber, wenn er sich einmal in eigener Sache zu Wort meldete. Ihn misszuverstehen, zumindest nicht so zu verstehen, wie er es tat oder tut, ist allerdings fast unvermeidlich, vor allem wenn man seinen eigenen Verlautbarungen Glauben schenkt. Denn der größte Urheber aller Missverständnisse über Bob Dylan ist immer noch Bob Dylan. Das einzig Beständige in seiner langen Laufbahn ist die Unbeständigkeit. Sie ist gezeichnet von irritierenden Wandlungen und Schwankungen, die nicht vorhersehbar und allenfalls im Nachhinein erklärbar waren. Eine Entwicklungslogik ist dabei nicht zu erkennen. Dass sich das ändern wird, ist kaum anzunehmen. Was immer man über Bob Dylans künstlerische Persönlichkeit sagt, kann deshalb letztlich nur Mutmaßung sein – begründete Mutmaßung immerhin, wenn man bedenkt, wie sie sich seit mehr als einem halben Jahrhundert zeigt.

2.

Bob Dylan, so ist dieser Tage zu lesen, ist der größte, zumindest einer der größten Popmusiker der letzten 50 Jahre. Tatsächlich hat er vor 50 Jahren aufgehört, ein bedeutender Künstler zu sein – auch wenn er, in mancher Hinsicht, noch eine wichtige Figur sein mag. Blonde On Blonde, 1966 veröffentlicht, war sein letztes herausragendes Album. Allerdings war es mit einigen verzichtbaren Stücken schon weniger gelungen als das 1965 erschienene Highway 61 Revisited, das dichter und frischer wirkte, zudem auch musikalisch entschiedener war als das überraschende Bringing It All Back Home aus demselben Frühjahr.

Diese drei Alben haben die populäre amerikanische Musik verändert. Sie sind im Wesentlichen Dylans künstlerisches Vermächtnis, mit der einen oder anderen Zugabe. Alles, was nach ihnen kam, war schwächer, manches nur ein wenig wie John Wesley Harding oder Blood On The Tracks, das meiste aber sehr viel schwächer. Einiges Spätere – und für einen frühen Verehrer viel zu viel über die Jahrzehnte – fiel so sehr gegen das Beste ab, dass man kaum glauben konnte, dass alles von ein und demselben Künstler stammt.

Was Dylan mit seinen drei Alben von 1965 und 1966 anstrebte, wenn es auch nicht durchweg gelang, war die Verbindung von elektrisch verstärkter Musik in der Nachfolge des Rock ’n’ Roll und literarisch ambitionierten Texten. Das war aufregend neu. Manchem Lied, auch manchem hochgelobten, merkt man allerdings – und merkte man schon damals – die Anstrengung an. „Desolation Row“, sein seinerzeit längster Song, ist in seiner überdehnten Hybridität und unvollkommenen Komposition am Ende ästhetisch unbefriedigend. Sogar „Like A Rollin’ Stone“, der Song, der Dylan nach Ansicht seiner Verehrer unsterblich gemacht hat, weist Längen auf. Ist der Anfang nicht auch schon sein Höhepunkt? Steckt nicht in der ersten Strophe, mehr als in den folgenden, die ganze Spannung, die diesen ungewöhnlichen Songs ausmacht? Beide Lieder, die zu Dylans besten gezählt werden, sind, wie vieles, was er versucht hat, kühn und forciert zugleich. Besser gelungen sind ihm in diesen Jahren schwungvolle, vorderhand weniger ambitionierte Liebeslieder wie „Love Minus Zero“ oder „I Want You“, auch sein neben „Blind Willie McTell“ schönster Blues „It Takes A Lot to Love And A Train To Cry“ entstand in dieser Zeit.

Nicht erst zu seinem Geburtstag sagen Bob Dylan viele nach, er sei ein Genie. Hätte er 1966, nach seinem Rückzug aus der Öffentlichkeit, seine Karriere beendet, würde man das bis heute annehmen. Sein weiterer Weg, bis in die Gegenwart, hat dann immer größere Zweifel an der Berechtigung seines Ruhms geweckt. Heute kann man ihm kaum mehr zubilligen, als dass er ein paar Geniestreiche vollbracht hat. Das allerdings ist schon viel – auch wenn es bereits 50 Jahre zurückliegt und inzwischen vor allem den Stoff für eine selige Erinnerung an die größte Zeit populärer Musik bildet, zu der er entscheidend beigetragen hat.

3.

Als Dylan begann, war die Welt der populären Musik geordnet. Sie war säuberlich getrennt in verschiedene Sphären wie Folk, Rock ’n’ Roll, Blues, Country and Western, Ghospel, dazu das, was hierzulande Schlager heißt, in Musik-Manufakturen produzierte Hits für einen möglichst großen Markt. Diese Sphären berührten einander kaum. Der junge Bob Dylan hat gezeigt, dass man, wenn nicht alles, so doch vieles anders machen konnte, als man es gewohnt war. Man musste nicht gefällig singen, um gehört zu werden, man konnte die Stile vermischen, und man konnte sich die Songs selbst schreiben, die man singen wollte, dabei sogar viele Worte machen, unter anderen auch solche, die man nicht aus Radioprogrammen, sondern aus Dichterlesungen kannte. Vor allem konnte man fast spielerisch die Seiten wechseln – von Folk zu Rock, von Rock zu Country, von Country zu Ghospel – und dabei so tun, als gehörte das alles zusammen und als ließe es sich weiter vorantreiben, wenn man es mit der Literatur der Zeit in Verbindung bringen würde. Der Folksinger Bob Dylan verwandelte sich so in den Künstler Bob Dylan, der sich zu seinen Texten die passenden Melodien suchte. Mit ihm hatte die populäre Musik auf einmal einen ambitionierten Autor, der erstaunlicherweise ein immer größeres Publikum erreichte.

4.

Dylans Anstrengung, populäre Musik in eine Kunst zu verwandeln, zumindest in eine größere, als sie es schon vorher bei vielen gewesen war, ist vielleicht im Ganzen kühner als im Einzelnen. Als Autor wie als Komponist war er nicht immer originell. In dem meisten Fällen fällt es nicht schwer, die Vorlagen für seine Melodien und seine Texte zu erkennen. Dennoch sind viele seiner Songs eindrucksvoll, gerade im Vergleich mit dem seinerzeit Üblichen und Erfolgreichen. Die Beatles sangen „Love me do“, als er damit beschäftigt war, sein zweites Album The Freewheelin’ Bob Dylan aufzunehmen, und als sie 1965 mit dem zwei Minuten langen „Yesterday“ einen ihrer größten Hits hatten, arbeitete Dylan an ungleich anspruchsvolleren Songs wie eben „Like A Rollin’ Stone“ und „Desolation Row“.

Als er anfing, wortreiche, mitunter ausladende Songs voller Anspielungen vor allem auf die moderne Literatur zu schreiben, haben ihn schnell Autoren wahrgenommen. Sein größter Fürsprecher unter ihnen wurde Allen Ginsberg, mit dem er sich befreundete und mit dem er auch gelegentlich zusammenarbeitete. Ginsberg war der erste, der anregte, Bob Dylan den Literaturnobelpreis zu verleihen. Auch das hatte es noch nicht gegeben: ein Songwriter als möglicher poeta laureatus.

Dylans treueste Verehrer, Literaturwissenschaftler und Kritiker eingeschlossen, halten ihn bis heute für einen bedeutenden Autor, dessen Texte für sich bestehen können. In Stockholm ist man offenbar noch nicht so weit. Die Schwedische Akademie hat, seit Bob Dylan angefangen hat, sich einen Namen zu machen, eine Reihe von großen Lyrikern und Lyrikerinnen ausgezeichnet: Nelly Sachs, Pablo Neruda, Eugenio Montale, Vicente Aleixandre, Odysseas Elytis, Czeslaw Miłosz, Jaroslav Seifert, Joseph Brodsky, Octavio Paz, Derek Walcott, Seamus Heaney, Wisława Szymborska, Tomas Tranströmer. Bob Dylan reicht an keinen von ihnen heran.

Manche seiner Lieder lassen sich tatsächlich lesen, ohne dass sie viel verlieren. Doch unter ihnen – um von seiner nicht zuletzt stilistisch mehr oder weniger misslungenen Prosa zu schweigen – ist kaum eines, das als Gedicht höchsten künstlerischen Ansprüchen genügen würde. Kaum eines ist ästhetisch makellos. Manches ist stark, manches witzig und raffiniert, manches sogar atemberaubend, „Subterranean Homesick Blues“ etwa, oder unerhört wie „Highway 61 Revisited“ – aber mehr auf der Platte als auf dem Papier, also immer zusammen mit der Musik und der Stimme Dylans.

Fast alles, was große Literatur auszeichnet, fehlt seinen Texten. Eine eigenständige Sicht auf die Welt ist in ihnen kaum auszumachen, ebensowenig ein Gefühl oder ein Gedanke von bedenkenswerter Tiefe. Vor allem aber mangelt es ihnen an einer eigenen Sprache. Die Worte, die Dylan verwendet, sind zum größten Teil gebraucht. Er arbeitet nicht nur mit erlesenen literarischen Zitaten, sondern zu oft auch mit Allerwelts-Floskeln, und selbst wenn er sie nur ausstellen will, kommt er doch über sie nicht hinaus. Seine autobiografische Prosa ermüdet nicht zuletzt durch die Aneinanderreihung von bekannten, der Phrase nahen Worten und Wendungen. Dylan erfindet weniger, als dass er verbindet, was er findet. Für das ganz Eigene hat er kaum Worte, und die Worte, die er hat, sind meist nicht seine eigenen.

5.

Bis heute ist für Dylans Kritiker schwer zu entscheiden, mit wem man ihn letztlich vergleichen soll, um ihm gerecht zu werden: mit Jimmy Rodgers und Woody Guthrie – oder mit Bertolt Brecht und Arthur Rimbaud? Mit Allen Ginsberg oder doch nur mit John Lennon? Er war einmal belesener als seine Kollegen, aber inzwischen scheint er auch auf seine Lektüren mehr angewiesen zu sein als viele von ihnen. Dass seine Texte wieder überwiegend literarische Montagen sind, hat ihm noch einmal das Interesse und die Achtung von Philologen eingetragen, die ihn mit der Weltliteratur in Zusammenhang bringen, auf die er allerdings auch schon früher angespielt hat. Kein Zweifel: Bob Dylan ist, zumindest von Zeit zu Zeit, ein neugieriger, vielleicht sogar hungriger Leser, der auch in schwierige Bücher hineinschaut. Aber ist man schon ein Shakespeare, wenn man Shakespeare zitiert?

6.

Das Publikum hat Dylan immer wieder, verständlicherweise, nicht verstanden, und er hat genauso oft sein Publikum nicht verstanden. Zweimal hat es sich von ihm abgewandt, nachdem er seine Erwartungen nicht mehr erfüllte und den Weg verließ, auf dem es ihn sehen wollte. Beide Seiten haben aus dieser für sie offenbar schmerzlichen Erfahrung verschiedene Konsequenzen gezogen, die ihr Verhältnis zueinander heute bestimmen.

Das Publikum hat seinen Kampf um den ‚richtigen’, den ‚wahren’ Bob Dylan aufgegeben und sich fast rückhaltlos für alles geöffnet, was von ihm kam und kommt, in der nicht unbegründeten Angst, er könnte ihm ein weiteres Mal abhanden kommen. Dieser Haltung haben sich auch viele seiner Rezensenten angeschlossen, die weniger Kritiker und mehr Publikum sind, als sie ahnen. Sie zollen Dylan, was immer er vorlegt, ihr Lob wie einen fälligen Tribut, als wollte sie alte Zweifel ungeschehen machen.

Dass seine Zuhörer inzwischen fast alles dankbar, ja begeistert aufnehmen, was er von sich gibt (oder zu geben scheint), schlechte Alben und noch schlechtere Konzerte eingeschlossen, gehört zur Eigenart der Rockmusik. Dem Publikum, auf das sie zielt, fehlt zumeist die „kritische Distanz“, weniger von seiner Bildung als von seinen Bedürfnissen her. Es ist, wenn es auf Konzerte geht, „nicht anwesend, um zu beurteilen und gutzuheißen, sondern um sich der Musik hinzugeben, mit den Musikern zu (…) verschmelzen“. Es sucht „die Identifikation, nicht das Vergnügen, das Verströmen, nicht das Glück“. Das hat, ohne Namen zu nennen, Milan Kundera geschrieben, vielleicht der beste Musikkenner unter den lebenden Autoren. Er hätte all das auch von Bob Dylans Publikum sagen können.

7.

Die fast bedingungslose Begeisterung seiner Hörer, die ästhetische Ansprüche manchmal gar nicht mehr zu kennen scheinen, hat Dylan nicht zugänglicher werden lassen. Jenseits seiner Auftritte meidet er die Öffentlichkeit. Längst hat er sich aber auch sphinxhaft gegen sein Konzertpublikum verschlossen. Er präsentiert sich ihm immer wieder als wortkarger, äußerlich regungsloser, mitunter erstarrt, dabei launisch wirkender, letztlich unberechenbarer Interpret seines Repertoires. Seine Auftritte umgibt eine merkwürdige Kühle, die nur trunkenen Fans verborgen bleibt, die sogar zu seiner Musik tanzen wollen.

Umso erstaunlicher ist Dylans Distanziertheit. Sie mag habituell sein; das schließt nicht aus, dass sie auch Kalkül ist. In ihrer Mischung aus Selbstbezogenheit und Misstrauen mag sie sogar ein heimlicher Appell an die Zuhörer sein, sie zu überwinden. Für diesen immer wieder herausgeforderten Liebesbeweis scheint Dylan seine Tournee nicht enden lassen zu wollen. Der Lohn, den er dafür empfängt, kann jedoch über den Preis, den er als Künstler zahlt, nicht hinwegtäuschen.

Die grundlegende Entscheidung in seiner Karriere war es offenbar, vor Publikum aufzutreten – noch bevor er etwas Eigenes gefunden hatte, das über diese Selbstpräsentation hinausging. Nach seinem mythisch überhöhten Motorradunfall hat er diese Entscheidung gewissermaßen ausgesetzt und dann nach Jahren auf unbestimmte Zeit erneuert. Seine Konzertourneen bilden inzwischen die einzige Konstante seines Lebens als Künstler. Kein anderer bekannter Popmusiker dürfte so viele Auftritte absolvieren wie er. Die Ende der 80er Jahre angekündigte „never ending tour“ läuft bis heute.

Dylans Auftritte haben allerdings wenig gemein mit den Konzerten großer Musiker oder Schauspieler, die, nach intensiver Vorbereitung, dem Publikum ihre Kunst auf höchstem Niveau, in größtmöglicher Vollendung vorführen. Die Konzerte Dylans wirken dagegen oft auf schlechte Weise spontan, von Mal zu Mal improvisiert, ohne ausgereiftes Konzept, seltsam gleichgültig gegenüber dem musikalischen Material, Personal und Instrumentarium.

Wenn Dylan zu Beginn seiner Auftritte lange Zeit als „Columbia recording artist“ angekündigt wurde, dann war das mehr die Beschwörung eines Markennamens als eine treffende Kennzeichnung. Der wahre „Columbia recording artist“ war schon tot, als Dylan sich so nennen ließ. Es war Glenn Gould, der sich früh in seiner Karriere ganz vom Konzertbetrieb zurückzog, um nur noch im Studio zu arbeiten – der Musik vor allem Bachs, nicht dem Publikum ergeben. Außer dem Mikrophon duldete er im Aufnahmeraum allenfalls eine Kamera. Sein Ideal war das bis ins Letzte kontrollierte und dadurch perfektionierte Spiel: künstlerische Vollendung, die nur in einsamer Arbeit zu erreichen ist.

Als Musiker ist Gould der Antipode zu Dylan, nicht nur von seinem klassischen Repertoire her. Für Dylan gibt es nicht die endgültige, vollkommene oder der Vollkommenheit angenäherte Interpretation. Künstlerische Reife kennt er nicht, nur den immer neuen Versuch. Seine Studioaufnahmen haben keinen verbindlichen Charakter für seine Auftritte. Sie sind kaum mehr als ein Halt auf dem nicht endenden Weg ständig veränderter, sozusagen tagesaktueller Interpretationen, die sich auch dem Wunsch nach Abwechslung  verdanken mögen, der auf einer langen Tournee zwangsläufig aufkommt. Im besten Fall sind sie das Gedächtnis einer Klasse, die er kurz erreicht hat und dann nicht halten konnte.

8.

Die Angst des Publikums, Dylan zu verlieren, rührt daher, dass seine künstlerische Identität – oder was seine Identität zu sein scheint – instabil ist. In seiner Laufbahn hat er einige dem Anschein nach tiefgreifende Wandlungen durchgemacht, von denen fast jede mit der vorangegangenen unvereinbar schien. Kein anderer populärer Musiker hat sich das getraut; für die meisten wäre es auch ohne Zweifel ruinös gewesen. Nichts verstört ein Publikum so sehr, wie wenn sich ein einmal gefundenes Idol vor seinen Augen bis zur Unkenntlichkeit verwandelt. Im Fall Dylans dient die unaufhörliche Veränderung jedoch mittlerweile als Beweis seiner künstlerischen Größe – auch wenn sich in die Bewunderung immer leise Beunruhigung mischt. Doch ist es nicht letztlich der Ausweis wahrer Kunst, dass der Künstler sein eigener Souverän ist, der, nur seiner Subjektivität verpflichtet, tut, was er will?

Bis heute rätselt allerdings mancher darüber, wer oder was sich hinter dem Namen Bob Dylan verbirgt. Seine Texte verraten über die Person nicht viel, dafür alles über den Künstler. Unübersehbar fehlt ihm nicht nur eine stabile Identität als Musiker. Auch als Autor ist er wesentlich, was er sich angeeignet hat, und er eignet sich an, was ihm gefällt, selbst wenn es nicht passt, auch für ihn nicht. Dass ihn das nie irritiert hat, verrät mehr als nur einen Mangel an Geschmack und Selbstkritik. Es verweist auf ein künstlerisches Konzept, das ihm selber verborgen sein mag, das er gleichwohl lebt.

Über Bob Dylans Namenswechsel ist viel diskutiert worden. Er ist aber nicht nur als eine Tatsache hinzunehmen, sondern als ein Signal zu verstehen. Bob Dylan ist nicht Robert Zimmerman, der bürgerliche jüdische Junge aus dem Mittleren Westen. Er war von Anfang an etwas Anderes, das im Lauf der Zeit dann immer deutlicher hervortrat. Sein Künstlername, weit entfernt davon, nur ein Pseudonym zu sein, ist der Name für eine Maske: eine Künstler-Maske. Die Maske ist seine Kunst.

Dylan ist eine histrionische Künstlerpersönlichkeit, einer, der in die unterschiedlichsten Rollen schlüpft und sie alle nach einer Zeit wieder abstreift. Jede verkörpert er mit einer Überzeugungskraft, die nur von eigener Überzeugtheit herrühren kann. Dass keine lange gültig bleibt, er sich vielmehr schnell wieder auf die Suche nach einer neuen begibt, ist kein Widerspruch. Denn im Wechsel der Rollen erschafft er sich nicht neu – er schafft sich in ihm erst. Er kreiert, als sein öffentliches Ich, ständig etwas anderes, das keineswegs ganz neu, vielmehr stets etwas Altes in neuem Gewand ist und für das er, eine Zeit lang, mit seinem Namen steht.

Diese wechselnden Selbstentwürfe nach bekannten Vorbildern sind vielleicht Dylans eigentliche Kreativität. Sie verraten den Wunsch und über den Wunsch hinaus die Hoffnung, im Künstlersein zu sein. Sie sind sein Versprechen auf eine eigene Existenz jenseits der ihm von seinem Milieu vorbestimmten. Die Vermutung, dass das Eigene, das er vor aller Anreicherung durch Rollen besitzt, limitiert sein muss, ist jedoch schwer von der Hand zu weisen. Ja, die Unabschließbarkeit der Rollensuche, die nicht endende Reise dürfte eher eine Leere im Zentrum der künstlerischen Persönlichkeit verraten.

Darauf zielte wohl auch die Kritik einiger Musiker-Kollegen Dylans, die ihm, wie John Lennon, vorwarfen, nicht unter seinem bürgerlichen Namen aufzutreten, oder die ihn als nicht authentisch empfanden, wie Joni Mitchell. Die Identität von Künstler und Person, von Musik und Leben gehörte, als Ausweis ihrer Verbindlichkeit, zum Credo der fortschrittlichen Popkultur der späten 60er Jahre. Bob Dylan hat es sich, vor allem in New Morning, zueigen gemacht und dann als ein weiteres Rollenspiel hinter sich gelassen.

9.

Auf seiner endlosen Suche ist Bob Dylan offensichtlich von einer großen Leidenschaft getrieben: der für populäre amerikanische Musik. Ihr Repertoire ist so groß, dass er in ihm immer aufs Neue fündig werden kann, auch für sich selber. Die Neugier und die Entdeckerfreude, die er dabei zu aller Überraschung Mal um Mal zeigt, sind allerdings unerlässlich. Ohne sie bräche die Suche zusammen. Weil sie kein Ziel und damit keine Vollendung kennt, darf sie nicht enden. Fast ebenso unvermeidlich führte sie, von Anfang an, zu einer artistischen Angestrengtheit. Das ist die Gefahr jedes Rollenspiels.

Die vielen Möglichkeiten der populären amerikanischen Musik hat Bob Dylan auszuschöpfen versucht, doch ist er dabei oft erkennbar über seine Begabung hinaus gegangen. Er ist weder ein großer Sänger – nur ein eigenwilliger – noch ein großer Musiker – welches Instrument er auch spielen mag –, schon gar nicht ein Bandleader, gar ein Dirigent. Größere Ansammlungen von Musikern – von einem Orchester wagt man in seinem Fall kaum zu sprechen – und anspruchsvollere Kompositionen überfordern ihn. Wo die Kunst kunstlos ist und die Kunstlosigkeit Kunst wird, wo die Beschränkung Konzentration auf ihn bedeutet, kann er am meisten überzeugen. Allein oder mit wenigen Begleitmusikern ist er am besten.

Die Grenzen seiner Begabung scheint Bob Dylan allerdings nicht zu kennen. Gerade seine Versuche, Lieder anderer zu interpretieren, endeten meist in einem Fiasko, nicht erst, seit er sich des Repertoires eines Frank Sinatra angenommen hat. Aber auch über die Grenzen seines künstlerischen Konzepts scheint sich Dylan nicht im Klaren zu sein. Dass der ständige künstlerische Wechsel gelingen, ja, dass es überhaupt möglich sein könnte, in immer andere artistische Bereiche vorzudringen, auf denen nicht nur die Besten besser als er waren, ist sein großes Missverständnis, das ein Selbstmissverständnis einschließt. Es scheint jedoch seinem Konzept inhärent zu sein. 

10.

Die gewaltige Aufmerksamkeit, die Bob Dylan nicht nur zu seinem Geburtstag entgegengebracht wird, steht in keinem angemessenen Verhältnis mehr zur Bedeutung seiner Musik und ihrer Präsentation, sei es auf einem Tonträger, sei es im Konzert. Es wäre schon viel an künstlerischer Gerechtigkeit gewonnen, wenn man sie auf andere noch lebende Musiker verteilte. Dylan hat diese Zeitgenossen, die zum Teil auch seine Weggefährten waren, zwar zumindest zeitweise in mancher Hinsicht überragt. Doch auch sie überragen ihn auf ihre Weise, manche sogar nachhaltig. Joan Baez in ihrer besten, allerdings auch schon lange zurückliegenden Zeit gehört als Sängerin und Gitarristin zu diesen Künstlern; auch Judy Collins, die gleichfalls früh ihr Repertoire erweiterte, nicht immer glücklich, dennoch in ihrem Ernst künstlerische Beliebigkeit vermeiden konnte; Joni Mitchell, die mit der mitunter schmerzlichen Ehrlichkeit ihrer Bekenntnisse und ihrer für das Publikum nicht immer erfreulichen Experimentierfreude der populären Musik neue Spielräume eröffnet hat; Rosanne Cash, die begabte und zeitweise sehr erfolgreiche Tochter Johnny Cashs, die vergleichsweise spät, erst nachdem sie die Hitparaden verlassen hatte, als Autorin und Sängerin zu seltener künstlerischer Sicherheit fand; Kris Kristofferson, der als Musiker ähnlich tief gesunken ist wie Dylan und als alter Mann aus diesem traurigen Tal herausgefunden hat; Roger McGuinn, der, ohne The Byrds, zu seinen Anfängen zurückkehrte und dabei zu einem musikalisch versierten Archivar der Folkmusic avancierte; Levon Helm, der Schlagzeuger von The Band, der als Solomusiker, von schwerer Krankheit beeinträchtigt, mit neu interpretierten traditionellen Songs an die großen Zeiten der Gruppe anschließen konnte; und natürlich, trotz seiner Lust auf Krach, der immer wieder beeindruckende, unverbesserlich eigensinnige Neil Young. Nicht nur den Reichtum, auch die Güte der populären amerikanischen Musik verkörpern sie – und andere, die man noch nennen könnte – nicht weniger und nicht selten überzeugender als Bob Dylan.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz