„My theme song“
Bob Dylans Ballade vom dünnen Mann
Von Heinrich Detering
1
Ein Mann betritt ein fremdes Zimmer, vielleicht den Zuschauerraum eines Theaters oder Variétés, und gerät in einen Alptraum. Wo er Zuschauer sein wollte, wird er in rätselhafte Vorgänge verwickelt. Unbekannte Menschen bedrängen ihn, reden unverständlich über ihn, richten absurde Forderungen an ihn; und immer wiederholt sich als Refrain die spöttische Frage:
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones?[1]
Nein, er weiß es nicht, der Mann mit dem amerikanischen Allerweltsnamen, und er wird es nie erfahren; am Ende des Alptraums hat er den unsinnigen Wunsch, sein Erscheinen an solchen Orten möge künftig gesetzlich verboten werden – oder wenigstens möge man Leute wie ihn verpflichten, an Orten wie diesem nur mit Kopfhörern zu erscheinen.
Was Mr. Jones hören muss, hören wir alle mit, und wir sehen die schaurig-grotesken Figuren und Szenen durch seine schreckensgeweiteten Augen, sechs faszinierende und unheimliche Minuten lang – jedenfalls wenn wir Bob Dylans Ballad of a Thin Man hören, die am 2. August 1965 bei Columbia Records in New York in nur drei Takes aufgenommen und wenig später veröffentlicht wurde,[2] als letzter Song der A-Seite jenes mittlerweile kanonischen Albums Highway 61 Revisited, an dessen Anfang Like a Rolling Stone stand. Oft ist seither die Ballade von Mr. Jones als Gegenstück dieses epochalen Songs verstanden worden – und jedenfalls als eines der wichtigen Kunstwerke der New Yorker Pop-Avantgarde der sechziger Jahre, unendlich oft nachgeahmt, paraphrasiert und variiert bis in den Punk hinein. In Ballad of a Thin Man wie in Like a Rolling Stone wird eine Person angeredet, die unterlegen ist und verloren hat, die ironisch so angeredete, aus allen gesellschaftlichen Sicherheiten herausgefallene „Miss Lonely“ dort, der bestürzte und verwirrte „Mr. Jones“ hier. In beiden Songs wird die Musik getragen von Dylans scharfer, herausfordernder, manchmal höhnisch heulender Intonation und getrieben vom aggressiven Zusammenspiel zwischen Dylans hämmerndem Klavier und der heulenden Orgel Al Koopers. Nur haben jetzt düster hallende Mollklänge überhandgenommen; auch wer kein Wort des Textes versteht, hört den Sound eines Alptraums, den man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Folgerichtig vagabundiert „Mr. Jones“ in der Dylan folgenden Popmusik als Chiffre und Gestalt durch diverse Songs. Aber wovon handelt Dylans Ballad eigentlich?
Bis heute ist Ballad of a Thin Man immer wieder als Musterbeispiel für den „Surrealismus” von Dylans Songwriting der sechziger Jahre gedeutet worden, als rätselhaft und womöglich unentschlüsselbar; noch in Klaus Walters Essay von 2013 gilt als abgemacht, dass man nicht „jede Zeile entschlüsseln muss“: „Um Dylan zu verstehen, muss man ihn hören.“[3] So ist es – aber warum der Interpretationsverzicht? Was die musikalische Intonation, Phrasierung, Instrumentierung des Songs hier mit szenischer Dramatik inszenieren, ist ja ein komplexes Geschehen, dessen Verlauf ebenso provozierend rätselhaft erscheint wie die handelnden Figuren, ja wie schon der Schauplatz selbst. Wo Deutungen versucht wurden, galt die Aufmerksamkeit oft eher dem angeredeten „Mr. Jones“ selbst als der befremdlichen Welt, in der er sich vorfindet, von den Dylan-Biographien Anthony Scadutos[4] und Robert Sheltons[5] bis zu Todd Haynes‘ Kinofilm I‘m Not There (2007). Darin erscheint ein tadellos gekleideter, konventionell-stereotyper Journalist namens „Mr. Jones“ als zudringlicher und verständnisloser Verfolger der in diversen Metamorphosen auftauchenden Dylan-Figur.
Dabei scheinen gerade diese acht Strophen zu denjenigen Texten zu gehören, die sich leicht entschlüsseln lassen, wenn man nur den richtigen Schlüssel mitbringt. Den aber konnte oder wollte die amerikanische Kritik seit den sechziger Jahren nicht anfassen. Denn was sich zeigt, wenn man die Szenen und Figuren der Reihe nach anschaut, läuft hinaus auf ein gar nicht so surreal-disparates, sondern vielmehr ziemlich kohärentes Panorama.
Am Anfang steht Nacktheit; sie ist das erste, was beim Betreten des Schauplatzes zu sehen ist. Dieser Schauplatz heißt „the room“, mit bestimmtem Artikel, als sei er schon bekannt. Und Mr. Jones betritt ihn mit einem Bleistift in der Hand; er will sich offenbar Notizen machen. Tatsächlich ist es zunächst die Nacktheit selbst, gewissermaßen die nackte Nacktheit, mit der er sich konfrontiert sieht: „You walk into the room / With your pencil in your hand / You see somebody naked“ – und erst dann identifiziert er das Geschlecht des nackten Menschen, in einer hilflosen Frage an irgendwen: „And you say, ‚Who is that man?‘“ Ein nackter Mann also, gleich an der Türe. Das ist schlimm für Mr. Jones, denn es ist auf jeden Fall verboten. Nicht mehr die Identität des Nackten interessiert ihn nun, sondern sogleich, geradezu reflexhaft die Frage, wie er diesen Anblick später zuhause erklären soll: „You try so hard / But you don’t understand / Just what you’ll say / When you get home“. Und in dieser Hilflosigkeit stellt sich ihm zum ersten Mal die Refrain-Frage:
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones?
Wie eine spöttische Rätselfrage fordert der Refrain zur Suche nach dem Thema auf, das die scheinbar disparaten Elemente des Songs zusammenhält. Aber wer spricht da? Jedenfalls nicht Mr. Jones, sondern jemand anders. In einem Gespräch mit Robert Shelton hat Dylan vorgeschlagen, dies als die Stimme des Traums selbst aufzufassen. Diese Stimme ist es, die dem armen Mr. Jones all das entgegenschleudert, was er nicht wahrhaben will, indem sie ausspricht, was er sieht und hört und am liebsten vergessen würde. Und in einer eindringlichen Schlusswendung insistiert sie darauf, dass das Gesehene ein Rätsel sei, das Mr. Jones auflösen müsse und doch nicht auflösen könne, „do you, Mister Jones?“ Der schaut sich um und fragt nach und gerät in einen Dialog wie aus dem absurden Theater – die zweite Strophe:
You raise up your head
And you ask, „Is this where it is?“
And somebody points to you
And says „It’s his“
And you say, „What’s mine?“
And somebody else says, „Where what is?“
And you say, „Oh my God
Am I here all alone?“
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones?
Hinter dem nackten Mann wird eine Gruppe erkennbar, Menschen reden und gestikulieren durcheinander, und irgendwie beziehen sich ihre Reden und Gesten auf Mr. Jones – der, wie gleich der erste Vers wieder zu erkennen gibt, den Blick lieber zu Boden wendet, weil er möglichst gar nicht hinhören und hinsehen will. Aber schon bevor die Anwesenden ihn dazu zwingen, zwingt er sich selbst. Denn offensichtlich ist dies, „the room“, genau der unbekannte Ort, den er betreten wollte: „Is this where it is?“ fragt er, ‚bin ich hier richtig?‘, und lässt offen, was „it“ eigentlich ist. An seinem Ziel angekommen, findet er sich verwirrt und verlassen, inmitten der Gruppe „all alone“, und er ruft um Hilfe: „Oh my God“.
Trotzdem dringt er weiter ins Innere vor: gibt seine Eintrittskarte ab (man muss also Geld bezahlen, um hier eingelassen zu werden)[6] und geht, um sich die Aufführung von „the geek“ anzuschauen. Das Wort geek in dieser Verwendung ist kaum übersetzbar. Dylan selbst hat es seinen Zuhörern in einem Konzert 1978 mit einer Erinnerung an seine Kindheit in der Nachkriegszeit erklärt: „In the mid-West during the Fifties, you’d have carnivals come through town, and every carnival would have what you’d call a geek. A geek is a man who eats a live chicken, he bites off the head off. Working a job like that, he got insulted most of the time by people who would pay a quarter to see him.”[7] Eine archaische Erscheinungsform des Artisten als stigmatisierter und begaffter, erniedrigter und aggressiver Außenseiter, so erscheint the geek auch in Dylans Song. Augenblicklich kommt er auf den Besucher zu, beschimpft ihn als den Verrückten und Außenseiter, als „freak“, und drückt ihm, der nur hilflos „Impossible“ sagt, einen Gegenstand in die Hand, die eben noch den Bleistift hielt (mit der Like A Rolling Stone-Frage „How does it feel?“). Die dritte Strophe:
You hand in your ticket
And you go watch the geek
Who immediately walks up to you
When he hears you speak
And says, „How does it feel
To be such a freak?“
And you say, „Impossible“
As he hands you a bone
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones?
In diesem Augenblick der äußersten physischen Bedrängnis unterbricht die Erzählstimme den Bericht, wendet den Blick von der Szenerie ab und der Vergangenheit von Mr. Jones zu. Musikalisch bilden die folgenden acht Verse die Bridge des Songs, die dann wieder in das melodische Grundschema zurück gleitet, für die verbleibenden vier Strophen. Was zunächst klingt wie eine erläuternde Rückblende, erweist sich als Selbstgespräch, als Gedankenflucht, in der Form der gehässig insistierenden Anrede:
You have many contacts
Among the lumberjacks
To get your facts
When someone attacks your imagination
But nobody has any respect
Anyway they already expect
You to just give a check
To tax-deductible charity organizations
Mr. Jones, der im zweiten Vers mit dem Bleistift in der Hand auftrat, kennt sich auch in Kreisen aus, in denen man mit Axt und Säge hantiert und in denen man von ihm, dem Intellektuellen, auch noch finanzielle Unterstützung erwartet – mit einer Respektlosigkeit, die hier unter den geeks und freaks bedrohliche Formen annimmt. Die „lumberjacks“ sind seit der Landnahme und der frontier ein stabiles amerikanisches Stereotyp: die Männer, die mit Körperkraft und Willensstärke das Land erschlossen haben. (Mit ihrer befreienden oder bedrohlichen Ankunft endet Dylans Tarantula-Buch.) Umso mehr sucht er seine Selbstvergewisserung darin, dass seine Fakten stimmen und seine „imagination“ unangreifbar ist. Denn auch hier, in „the room“, in den er mit dem Bleistift in der Hand eintritt, benötigt er offenkundig Fakten aus erster Hand, die er gleich an Ort und Stelle notiert: ein Reporter, ein Kritiker oder ein realistischer Schriftsteller. Darum ist er hier, mit dem Bleistift in der Hand: um etwas zu beweisen.
Seine Selbstvergewisserung – immer noch dem geek gegenüber, immer noch mit dem Knochen in der Hand – beansprucht eine weitere Strophe. Ansehen genießt er in der akademischen wie in der politisch-juristischen Welt, unter Professoren und Anwälten; auch der Lieblingsschriftsteller, der dem anerkanntermaßen belesenen Intellektuellen jetzt einfällt, weiß von Sex und Nacktheit einiges – und genau in diesem Augenblick kehrt die beharrliche Frage danach zurück, was um alles in der Welt sich hier, in „the room“ eigentlich abspielt:
You’ve been with the professors
And they’ve all liked your looks
With great lawyers you have
Discussed lepers and crooks
You’ve been through all of
F. Scott Fitzgerald’s books
You’re very well read
It’s well known
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones?
Damit ist der Versuch einer stabilisierenden Erinnerung an die eigene Identität, an Bildung und sozialen Status vorüber, der genau in der Mitte des Songs das Geschehen unterbrochen hat. Was nun geschieht, treibt das Entsetzen auf die Spitze. Als zweiter nach the geek erscheint the sword swallower in diesem sonderbaren Etablissement, und auch diesmal geht der Artist den Besucher direkt an:
Well, the sword swallower
He comes up to you and then he kneels
He crosses himself
And then he clicks his high heels
And without further notice
He asks you how it feels
And he says, „Here is your throat back
Thanks for the loan“
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones? Ein Schwertschlucker in high heels? Rätsel über Rätsel. Warum kniet er nieder vor Mr. Jones, warum erkundigt er sich, wie sich „das anfühle“, warum bedankt er sich dafür, dass Mr. Jones ihm seine Kehle (in den Tournee-Konzerten 1966 singt Dylan „your mouth“) ausgeliehen habe? Und warum bekreuzigt er sich, bevor er all das tut? Noch immer weiß Mr. Jones nicht, was hier geschieht, dabei weht die Antwort doch längst im Wind. Mr. Jones aber hört sie so wenig wie erstaunlich viele seiner belesenen, gebildeten, politisch liberalen Hörer. In der 1966er Fassung bringt der Refrain eine unruhige Bewegung in die Verse: „Yes and you begin to really know something’s happening / And you wish you knew what it is“.[8] Aber was jetzt kommt, will er nicht wissen.
Denn auf den blow job folgt der cum shot, in pornographischer Großaufnahme. Die vierte Figur nach dem Nackten Mann, the geek und dem Transvestiten ist der Penis persönlich, der Penis als Person – der unaussprechliche Körperteil, der im obszönen Wortschatz des Englischen traditionell und stereotyp mit komischen Rätselwörtern wie „the one-eyed trouser snake“ umschrieben wird oder, wie hier, als „der einäugige Zwerg“:
Now you see this one-eyed midget
Shouting the word „NOW“
And you say, „For what reason?“
And he says, „How?“
And you say, „What does this mean?“
And he screams back, „You’re a cow
Give me some milk
Or else go home“
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones?
Spätestens jetzt wird unübersehbar, dass Mr. Jones von den Regeln dessen, was hier gespielt wird, mehr weiß, als er sich selbst einzugestehen vermag. Schon die vorige Strophe deutete ja unmissverständlich an, dass nicht nur der kniende Mann mit den hochhackigen Schuhen zum Schwertschlucken bereit ist, sondern dass Mr. Jones ihm zuvor schon einen ähnlichen Dienst erwiesen hat. Nun schließlich ist es also Jones selbst, der wie eine Kuh gemolken werden – oder gefälligst wieder nach Hause gehen soll.
Was von all diesen Vulgaritäten könnte der Kenner der eleganten Dekadenz F. Scott Fitzgeralds, der investigative Schnüffler mit der Nase am Boden („your nose on the ground“) zuhause erzählen? Besser wäre es, wenn sein Besuch hier gesetzlich verboten wäre, oder wenn er sich, da er nun schon einmal hier ist, wenigstens die Ohren verschlösse. Die letzte Strophe:
Well, you walk into the room
Like a camel and then you frown
You put your eyes in your pocket
And your nose on the ground
There ought to be a law
Against you comin’ around
You should be made
To wear earphones
Because something is happening here
But you don’t know what it is
Do you, Mister Jones?
Damit endet der Song, und die noch immer nicht ausgesprochene Lösung des Rätsels kann die folgenden Jahrzehnte der Dylan-Deutung auf Trab halten.
2
Tatsächlich ist der Song rätselhaft. Gewiss nicht im Blick auf die schwule Party, durch die er sich zweideutig und mokant bewegt, sehr wohl aber im Blick auf seine beabsichtigten Wirkungen. Wäre es nur darum gegangen, die Hörer mit dem Tabubruch zu konfrontieren, hätte Dylan das sehr viel einfacher haben können. Nackte Männer und Drag queens, blow jobs und cum shots sind nicht nur in der avantgardistischen counter culture New Yorks im Jahr 1965 allgegenwärtig. Dylan lebt in dieser Zeit im Umkreis von Andy Warhols factory; Warhol hat ihn dort unter anderem mit seinen Elvis-Siebdrucken fotografiert und einen seiner screen tests mit ihm gedreht, dieser langen stummen Filmportraits. Songs wie Visions of Johanna beziehen sich offenkundig auf diese Kunst-Szene.[9] Wichtiger noch ist seine Freundschaft mit Alan Ginsberg, der schon zehn Jahre zuvor in Gedichten wie Howl eine beispiellose Offenheit auch in der Darstellung seiner Homosexualität demonstriert und seinen Verleger, den Dichter Lawrence Ferlinghetti, und sich selbst damit in erhebliche juristische Schwierigkeiten gebracht. Sieht man Dylans Song über Mr. Jones in der Nachbarschaft zu Ginsbergs Versen über jene,
who […] purgatoried their torsos night after night
with dreams, with drugs, with waking nightmares, alcohol and cock and endless balls […]
who let themselves be fucked in the ass by saintly motorcyclists, and screamed with joy,
who blew and were blown by those human seraphim, the sailors, caresses of Atlantic and
Caribbean love –
dann zeigt sich drastisch, was in dieser Literatur der Subterraneans möglich war.[10] Im Vergleich zu Ginsbergs „invincible mad houses granite cocks!“ erscheinen die phallischen Knochen, Schwerter und Bleistifte in Dylans Song eher bescheiden.[11]
Nun schrieb Dylan seinen Song allerdings nicht für einen subkulturellen Kleinverlag wie Ferlinghettis City Lights Books in San Francisco, sondern für eines der größten amerikanischen Platten-Labels und für ein Publikum, das spätestens in diesem Jahr weltweite Ausmaße angenommen hatte. Aber zumindest das Spiel mit Gender-Klischees mitsamt der Mannweiblichkeit von Drag Queens war ihm auch in den Columbia Studios durchaus geläufig – wie das in denselben Aufnahme-Sessions wie Ballad of a Thin Man entstandene Songfragment Jet Pilot zeigt (eine Vorstudie zum Tombstone Blues):
Well, she’s got Jet Pilot eyes from her hips on down.
All the bombardiers are trying to force her out of town.
She’s five feet nine and she carries a monkey wrench.
She weighs more by the foot than she does by the inch.
She got all the downtown boys, all at her command
But you’ve got to watch her closely ‘cause she ain’t no woman
She‘s a man.[12]
Das Fragment wurde zwar erst 1985 veröffentlicht (auf der Kompilation Biograph). Aber schon auf Dylans offiziellen Rockalben der sechziger Jahre begegnen wir Figuren wie den „jelly-faced women […] with a moustache“ in Visions of Johanna[13] und anderen sexuell ambivalenten Gestalten; auch der Refrain von Just Like A Woman ist von einigen Hörern beim Wort genommen und auf einen Transvestiten bezogen worden.
Doch nicht um die in komischer Camouflage umschriebene homosexuelle Party selbst geht es in Dylans Song; sie liefert nur Anlass und Anschauungsbeispiel für die Unfähigkeit des liberalen Intellektuellen, sich einzugestehen, was ihm offen vor Augen liegt, was er am eigenen Leib erlebt. Die Rätselfrage „Something is happening here but you don’t know what it is – do you, Mr. Jones?“ richtet sich nicht auf das Geschehen, sondern auf die Angst des Beobachters. Erst infolge seiner Verdrängungen und Verschiebungen nimmt die banale Szenerie die alptraumhaft entstellten Züge an, die der Songtext vergegenwärtigt und die Dylans Musik dramatisch inszeniert.
Nun gehört dieser Song zu denen, die Dylan in den folgenden Jahren am häufigsten im Konzert gespielt hat. Schon während der Großbritannien-Tournee mit The Band 1966 bildete Ballad of a Thin Man den letzten Höhepunkt vor Like A Rolling Stone. Und je länger Dylan in den folgenden Jahren mit dem Song, wie mit so vielen anderen, zu experimentieren begann, desto mehr affizierten seine musikalischen Varianten auch den Text. Nun begann eine Entstellung des Wortlauts, die genau dort, wo das scheinbar surreale Durcheinander sich bis dahin trivial hatte auflösen lassen, den surrealen Nonsens auskostete. So wurden aus den Versen „here’s your throat back / thanks for the loan“ die Zeilen „here’s your coat back / thanks for the loan” und aus dem Schluss der letzten Strophe, „you should be made to wear earphones“, der Ausruf „You should be made to be wearing a telephone!” – eine Variante, deren Absurdität 1966 durch die metrische Überfüllung des Verses noch drastischer ausgestellt wurde: „You should be made to be wearing at all times a telephone”; eine noch spätere Fassung treibt das Spiel auf die parodistische Spitze: „Remember before you come home at least please first telephone!”[14]
Mit solchen Änderungen ändern sich nicht nur einzelne Szenen, sondern die Kohärenz der im Song evozierten Welt selbst. Nun ist sie tatsächlich absurd. Nun hat sich der Übertragungsbereich der obszönen Metaphern verselbständigt zu einem Panoptikum leerer, nur noch einer assoziativen Traumlogik und reimseliger Sprachdynamik folgender Signifikanten.
3
Dylans Song inszeniert die Homosexualität als Spiel mit der Camouflage, als ein selbstreflexives Spiel mit einem ‚offenen Geheimnis’:[15] eigentlich unschwer erkennbar für jeden Hörer, der auch nur den populären Wortspiel-Typus vom Penis als der „einäugigen Hosenschlange“ kennt und hinreichend offen ist, um zu sehen, was er sieht – aber zugleich wieder bedrohlich-geheimnisvoll durch die Verfremdung zum Alptraum des verängstigten, verdrängenden Mr. Jones. In ihrer defensiven Funktion erlaubt die Camouflage ein Aussprechen sexueller Details, die zwar nicht im New York von Warhol und Ginsberg, aber sehr wohl auf einer Schallplatte von Columbia Records unaussprechlich waren. Die produktiven Effekte aber gehen darüber weit hinaus: Sie entwickeln aus dem Spiel mit der Psychodynamik und den sozialen Konventionen von Verdrängung und Verschiebung eine archetypische Situation, die dank dieser Sprachbewegung zu derjenigen der Hörer selber wird – und zwar ganz gleich, ob sie die Anspielungen dechiffrieren oder nicht: das Umkippen des aufgeklärten Alltags ins Spiegelkabinett der Bilder und Rätsel.
Das hat wesentlich mit der misslingenden Kommunikation zu tun, die den Song hindurch differenzierter modelliert wird als alle sexuellen Anspielungen. Mit „try to understand“ und „just what you’ll say“ beginnt das gleich in der ersten Strophe, setzt sich fort im sinnlosen Dialog in der zweiten, schließt dann den Tausch von Objekten ein (Knochen, Milch) und kulminiert im entschlossenen und vergeblichen Wunsch nach Kommunikationsverzicht in der Schlussstrophe. Dylans spätere Ersetzung der „earphones“ durch „a telephone“ beendet diese Reihe ironisch mit der emblematischen Benennung des 1965 modernen Kommunikationsmittels schlechthin. Im zweiseitigen Spiel mit defensiver und produktiver Camouflage demonstrieren Songs wie die Ballade vom dünnen Mann an von Tabudrohung und Emanzipationswunsch umstellten Beispielen des Redens vom Unaussprechlichen den Zerfall der etablierten Kommunikationsformen. Sie demonstrieren ihn als Scheitern und Befreiung gleichermaßen. Eben deshalb interessieren den Dylan dieser Jahre auch andere Bereiche der Subkultur, in denen die Spannung von erzwungenem Versteckspiel und der Verständigungsbedarf diverse Formen der Geheimsprache erzeugt. Im Subterranean Homesick Blues ist das die Sprachwelt des anarchistischen Untergrunds (mit jargonhaft-camouflierenden Umschreibungen für die Polizei, Abhörgeräte, Drogen, subversive Aktionen), in Mr. Tambourine Man und Just Like Tom Thumb’s Blues sind es Drogenerfahrungen, in Ballad of a Thin Man ist es die Bohème von Greenwich Village.
Die Subkultur-Szenerien in Dylans Songs von 1964 bis 1966 sind keineswegs beliebig, aber sie sind prinzipiell austauschbar. Denn das produktive Wirkungspotential dieser Songs liegt weniger in der subversiv-augenzwinkernden Verständigung über die Grenzen der Zensur hinweg als vielmehr im Spannungsverhältnis zwischen Alltagssprache und den ihrerseits konventionell gewordenen Codes des Underground und in den bizarren Mehrdeutigkeiten, die diese Spannung erzeugt. Nicht nur dass Schwert und Knochen ‚eigentlich‘ Penisse sind, wirkt in der Wahrnehmung von Mr. Jones und seinen belesenen Hörern als Schockeffekt – sondern umgekehrt auch, dass Penisse sich in Schwerter und Knochen verwandeln; nicht nur die Durchschaubarkeit der Verkleidungen, sondern auch das Umkippen des Bekannten in ein groteskes Maskenspiel. Neben den satirischen Effekt, dass Mr. Jones sich in einem Alptraum wiederfindet, den seine Verdrängungsarbeit selber erst erzeugt, tritt die Verselbständigung des Alptraums, der aus einer Sexparty eine Schreckenskammer des Unbegreiflichen werden lässt und zugleich eine dionysische Feier der nicht mehr stillzustellenden Sprachdynamik der Unbegreiflichkeit. Die Autonomisierung des Sprachspiels, die in den weiteren, allein dem Assoziations- und Reimzwang folgenden Verwandlungen von throat in coat, von earphone in telephone kulminiert, lässt den nur noch instrumentell genutzten Anlass einer homosexuellen Camouflage ganz hinter sich. Auch hier geht es am Ende nicht um Sex, Drogen und Anarchie, sondern um die Mechanismen ihrer sprachlichen Codierung. Sie wird in jedem dieser Songs entfesselt zur Dynamik von Bedeutungen, die sich keinem Code mehr fügen. Das dürfte Dylan meinen, wenn er in Konzerten der achtziger Jahre ausgerechnet die Ballade vom dünnen Mann ankündigt als „my theme song“.
Anmerkungen
[1] Der Song wird zitiert nach der Ausgabe Bob Dylan: The Lyrics. Hg. von Christopher Ricks, Lisa Nemrow, Julie Nemrow. New York u. a. 2014, 212 (Textfassung des Albums) und 228f. (Varianten).
[2] Clinton Heylin: Revolution in the Air. The Songs of Bob Dylan Vol. 1: 1957-73. London 2010, 319-325.
[3] Klaus Walter: Ein Lied morpht um die Welt oder Musik liegt in der Luft. „Ballad of a Thin Man“. In: Code of the Road. Dylan interpretiert. Hg. von Knut Wenzel. Stuttgart 2013, 87-97, hier: 89.
[4] Anthony Scaduto: Bob Dylan. New York 1971.
[5] Robert Shelton: No Direction Home. New York 1987.
[6] In der 1978 gesungenen Version wird die Szene konkretisiert: Hier ist ausdrücklich das Fenster erwähnt, an dem man die Eintrittskarte erwirbt: „You sneak into the window, say ‚Is this where it is?‘“ (Lyrics, 229; zu hören auf Bob Dylan at Budokan.)
[7] Zitiert bei Heylin 2010, 322f.
[8] Lyrics, 229; zu hören auf Bootleg Series Vol. 7: No Direction Home.
[9] Vgl. dazu meinen Aufsatz Visions of Johanna / Visionen von Johanna. In: Bob Dylan. 5 Songs. Lectures Accompanying the Exhibition Bob Dylan, The Drawn Blank Series. Hg. von Ingrid Mössinger und Wolfram Ette. Chemnitz 2009, 30-59.
[10] Die Bezeichnung, die Jack Kerouacs Roman The Subterraneans (1958) und danach Dylans Subterranean Homesick Bues (1964) den Titel gab, geht zurück auf Ginsberg, der diesen Ausdruck anstelle des „Underground“ verwendete.
[11] Allan Ginsberg: Howl. San Francisco 1956.
[12] Text bei Heylin, 227; Heylin bemerkt, dass „Dylan again demonstrates a keen fascination with transvestism“.
[13] Lyrics, 242.
[14] Lyrics, 229; zu hören auf dem Album Real Live, 1984.
[15] Mit dem hier vorausgesetzten Modell literarischer Camouflage beziehe ich mich auf meine Studie Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann. Göttingen: Wallstein 1994 (3., überarbeitete Auflage ebd. 2013). Vgl. auch Marita Keilson-Lauritz’ grundlegenden Aufsatz: Masks and signals. Textual strategies of homoeroticism. In: Literature & Art 1 (1987), 168–180, sowie den von Gerhard Härle, Maria Kalveram und Wolfgang Popp hg. Band Erkenntniswunsch und Diskretion. Erotik in biographischer und autobiographischer Literatur, Berlin 1992.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur Reihe „Lyrik aus aller Welt. Interpretationen, Kommentare, Übersetzungen“. Herausgegeben von Thomas Anz und Dieter Lamping.
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