Historie schlägt Intrige

Hochmittelalter und Renaissance in den Romanen von Marion Harder-Merkelbach

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seitdem das Mittelalter zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Zuge der Romantik neu entdeckt wurde, scheint seine Popularität kontinuierlich voranzuschreiten. Im 21. Jahrhundert lässt sich dies an einer schier unüberschaubaren Fülle von nicht selten zweit- und drittklassigen Unterhaltungsromanen erkennen. Nicht nur weil sie oftmals das Bild vom düsteren Mittelalter kolportieren, sind sie in einer langen Epigonenreihe der Gothic novel zu positionieren. Man denke an Kassenschlager wie Die Wanderhure oder Das Geheimnis der Hebamme, fiktive Biographien aus dem Mittelalter, deren Folgebände die Geschichte mehrerer Generationen umfassen. Der Buchmarkt hat eine Vielzahl weiterer reißerischer Mittelalterromane auf Lager, Mittelalterkrimis gibt es zuhauf und auch im Kinderbuch ist die Epoche gut vertreten.

Marion Harder-Merkelbach, promovierte Kunsthistorikerin, nähert sich dem Mittelalter als ebendiese. Die erzählte Zeit ihrer Romantrilogie Der Medicus vom Bodensee (2008/15), Bodenseele (2012) und Das Geheimnis des Medicus (2015) umfasst die Jahre 1416 bis 1510, erstreckt sich über zwei Generationen und spielt in erster Linie am Bodensee sowie in Italien.

Im Medicus vom Bodensee entfaltet sich intradiegetisch das Leben des Andreas Reichlin, der in Konstanz und später in Überlingen praktiziert. Mit vierzehn Jahren verlässt Andreas Konstanz um in Heidelberg zunächst die „septem artes liberales“ und danach in Padua Medizin zu studieren. Nach dem Studienabschluss kehrt er nach Konstanz zurück, heiratet und erlangt Berühmtheit, als es ihm gelingt einen Bischof zu heilen, an dessen Leiden die Leibärzte gescheitert sind. Nicht lange nach dem Tod seiner ersten Frau macht er Anna von Ulm den Hof, die in den ersten sieben Jahren der Ehe sechs Kinder gebiert. Andreas reist noch einmal nach Italien, trifft dort Freunde aus Studienzeiten und den Papst. Wenig später gerät er mit der Stadt Konstanz in Konflikt, weil die Apothekerzunft Klage gegen ihn erhoben hat. Er solle in seinem Haus keine Medikamente mehr verkaufen. In diese Querelen hinein wird seine Frau von einem Fuhrwerk überrollt und stirbt. Mit drei seiner sechs Kinder zieht Andreas nach Überlingen, wird dort Stadtmedicus und lässt sich hoch über den anderen Häusern einen Palast nach italienischem Vorbild erbauen. Da seine jüngste Tochter Elisabeth nicht akzeptiert, dass ihr Vater eine Ehe mit Barbara Besserer, ihrer Freundin, eingehen möchte, bringt Reichlin seine Tochter kurzerhand in die Rekluse bei St. Paul, wo sie abgeschieden von der Welt leben soll. Dort stirbt sie innerhalb weniger Tage. Reichlin wird angeklagt, weil er seiner Tochter nicht zu Hilfe gekommen ist, doch die Anklage wird schnell wieder fallengelassen. An diesem Punkt endet die Binnenerzählung. Barbara Besserer und ihr Kind, so wird ergänzt, sterben nur wenige Monate nach der Hochzeit während der Geburt. In einem Epilog (30 Jahre später) geht es knapp um Clemens Reichlin, einen der Söhne des Medicus, der das Amt des Bürgermeisters von Überlingen innehat.

BodenSeele werde, im Gegensatz zu Der Medicus vom Bodensee, der ein „architekturhistorischer Roman“ sei, von Charakteren dominiert, die weniger verstandes- als eher gefühlsorientiert seien – so Harder-Merkelbach in ihrem Nachwort. Genauso wie der erste Band besteht auch der zweite aus einem Rahmen und einer Binnenerzählung. Im Jahre 1510 erinnert sich Matthias Reichlin an Simarna, mit der er 47 Jahre zuvor auf der Burg Hohen Twiel eine Liebesnacht verbracht hat. Danach verbannt ihr Vater sie in eine Zisterzienserabtei, wo sie eigentlich schreiben lernen möchte. Weil ihr dies nur mit der linken Hand gelingt, wird sie gezüchtigt und gerät zum ersten Mal in den Verdacht mit dem Teufel im Bunde zu stehen. Nach vielen Demütigungen reißt sie aus und kommt im Zisterzienserkloster Wald unter. Für Matthias, den sie ein zweites Mal trifft, verfasst sie in Geheimschrift einen Brief, in dem sie ihre Herkunft erläutert. Als Matthias zum Studium der Medizin in Pavia eintrifft, wird ihm der Brief nachts von einem Dominikanermönch gestohlen. Zurück in Überlingen organisiert er ein weiteres Treffen mit Simarna, die jedoch bereits unter dem dringenden Verdacht steht eine Hexe zu sein und aufgrund eines „Schadenzaubers“ die Verantwortung für Unwetter und Säuglingssterblichkeit zu tragen. Nach einem nächtlichen Zusammensein auf dem See versteckt Matthias seine Freundin in einer Höhle. Doch sie wird aufgespürt, verhört und gefoltert. Ihre Freiheit erlangt sie nur dank der Intervention von Ulrich Molinarius, der Matthias einen Gefallen schuldet.

Im Laufe der Lektüre fügen sich die Puzzlestücke zu Simarnas Herkunft allmählich zu einem einigermaßen stimmigen Bild: Ihre Mutter ist eine Waldenserin, die von Italien auf die Burg Hohen Twiel kam. Seitdem sie bei der Verbrennung eines Waldensers als Ketzer die Waldenser Bibel, die Bibel in deutscher Sprache, an sich nehmen konnte, wird sie verfolgt. Daher musste sie überstürzt aus der Burg fliehen ohne Simarna mitzunehmen.

Das Geheimnis des Medicus folgt demselben Konstruktionsprinzip wie die beiden ersten Bände. Etwas irritierend wirkt, dass Matthias‘ Rückblick im Jahre 1484 erfolgt, dieser also 26 Jahre vor der ersten Szene des zweiten Bandes liegt. Allerdings setzt die Binnenerzählung unmittelbar nach den zuvor in Bodenseele geschilderten Ereignissen ein. Simarna, aus den Klauen der Inquisition und ihrer Schergen entkommen, irrt durch unwegsames Gelände in der Nähe von Überlingen und fällt in die Höhle, in der Matthias sie versteckt hatte. Dort trifft sie, in einer äußerst gothicnovel-typischen Szene, ihre schwangere Mutter, die vor ihren Augen stirbt. Zuvor trägt ihr diese auf, die deutsche Fassung der Bibel, die sogenannte „Ketzerbibel“, „Quelle des Lebens“ der Barben und Waldenser, in Pavia zu finden. Aus einer erneuten Gefangenschaft, diesmal in Freiburg, kann Simarna sich befreien, bevor sie unter dramatischen Umständen über die Alpen reist. Sie entkommt nur knapp einer Lawine, für die erneut ein Schadenszauber verantwortlich gemacht wird. Nachdem sie in Pavia völlig entkräftet, krank und zerlumpt von der Waldenserin Anna aufgefunden und gesund gepflegt worden ist, führt sie ein Leben als Bettlerin und folgt Annas Sohn Gian auf die umliegenden Dörfer, wo dieser, ein eloquenter Waldenser Prediger, verhaftet wird. Nur in allerletzter Minute gelingt es Simarna mit der Hilfe von Matthias, inzwischen Rektor der Universität, Gian begnadigen zu lassen. Fünf Jahre später weilt Matthias in Überlingen, sein Vater stirbt, er selbst entkommt nur knapp der Pest. Er ist verheiratet, bleibt aber kinderlos. Simarna lebt während dieser Zeit mit Gian in Mailand zusammen, hört dort von „Maestro Leonardo“, der nur Männer liebe und wie ein Gott male und musiziere. Als Mann verkleidet, arbeitet sie in Leonardo da Vincis Atelier, erhält Einblicke in das Entstehen der Felsgrottenmadonna und eine Einführung in die Grundzüge der Alchemie. Schließlich lernt sie Bruder Franziskus kennen, den ehemaligen Liebhaber ihrer Mutter, der ihr einen Brief und die lange gesuchte Bibel aushändigen kann. Damit kehrt Simarna zurück nach Überlingen und trifft Matthias, ihren Seelenverwandten, der sie – so schließt sich der Kreis – in Sicherheit bringt.

Obwohl Harder-Merkelbach ihre Romane in einer angenehm zu lesenden Prosa formuliert, gelingt es ihr nur sehr bedingt und punktuell ihre Leser zu packen. Die an sich starken und schwungvollen Anfangsakkorde lösen sich schnell auf, zerfleddern in verschiedene Motive hinein, so dass der Eindruck entsteht, dass es an guten Ideen, deren Intensivierung und Dynamisierung fehlen, nicht mangelt. Die meisten Charaktere bleiben flach und werden marionettenhaft von den Zeitläufen gesteuert. Protagonisten und Antagonisten sind jeweils als Inkarnationen des Guten und des Bösen klar erkennbar, bleiben aber schablonenhaft. Harder-Merkelbach lässt historisch belegte und erfundene Gestalten nebeneinander auftreten und in nicht selten hölzernen Dialogen so interagieren, dass der Austausch von Wissen im Mittelpunkt steht. Eine große Ausnahme bildet Simarna, die nicht nur als psychosomatisch-intellektuelle Entität angelegt ist, sondern auch die Motive ihres Handelns aus diesem Hintergrund bezieht. Damit ragt sie aus der Fülle der Figuren empor und beweist, welch unerfüllte Möglichkeiten sich in diesen verbergen.

Von Anfang an ergeben sich eine Reihe von Situationen, deren Potenzial grandios ist und die geradezu nach weiterer Elaboration schreien. Es beginnt im ersten Band mit dem (als gotteslästerlich angesehenen) Sezieren von Leichen in Padua, bewegt sich über das erste Zusammentreffen mit der noch jungen Anna von Ulm und das Wüten der Pest in Konstanz bis hin zu den Umständen des Todes von Elisabeth. Weiter geht es in BodenSeele mit der Frage, warum Matthias und Simarna „seelenverwandt“ sind. Die Gründe dafür kann sich zwar jede/r LeserIn selbst zusammenreimen, aber – auch unabhängig von der erwähnten Frage – oft auf Leerstellen zu treffen, in denen Themen nur kurz angerissen und zugunsten neuer, für die Intrige irrelevanter Details fallengelassen werden, wirkt mehr als unbefriedigend. Wenn man den dritten Band, Das Geheimnis des Medicus, erstmals zur Hand nimmt und vorab einen Blick auf Harder-Merkelbachs Nachwort wirft, geht man davon aus, dass Leonardo da Vinci innerfiktional eine zentrale Rolle spielt. Doch weit gefehlt: der Maestro hat lediglich im letzten Drittel des Romans seinen Auftritt und das, was von ihm in den Roman hineinspielt, erweist sich als nahezu intrigenirrelevantes Füllsel. Beim Lesen fragt man sich des Weiteren, was aus dem zweiten Kind von Simarnas Mutter, das angeblich noch lebte, geworden ist. Und ein überdimensionales Fragezeichen bildet sich, wenn Matthias, ein glänzender Lateinschüler und studierter Mediziner, im letzten Dialog mit Simarna gesteht, dass er nie in der Lage war, ihre Geheimschrift (Spiegelschrift von rechts nach links) zu entziffern. Dieses Manko hätte zumindest einer Begründung bedurft.

Quantitativ und qualitativ intensiv zeigen sich hingegen alle Szenen, in deren Mittelpunkt philosophisch-theologische Diskussionen sowie Kunst und Architektur stehen. So gewährt Harder-Merkelbach einen relativ profunden Einblick in die Situation des Übergangs vom Hochmittelalter zur Renaissance, greift etwa die strittige Frage auf, ob das Wissen der Kirchenväter mit dem Studium der antiken Schriften ergänzt werden dürfe. Die Bedeutung der Schnabelmaske während der Pestepidemie kommt genauso zur Sprache wie die Gewohnheit vieler Überlinger Bürger ihre Notdurft in der Öffentlichkeit zu verrichten. Mit der sehr detaillierten Darstellung architektonischer Projekte, so etwa die Planung des Neubaus von St. Peter in Rom, bleibt die Autorin ihrer Profession treu.

Im ersten Band folgt die Binnenerzählung einer strengen Chronologie, die nicht selten auf Sprungraffungen basiert und somit den Eindruck des stark Additiven fördert. Dann, wenn sich die Dramatik der Ereignisse verdichtet, so etwa während der Pest in Konstanz, sind Zufälle so lose in die Ereignisse eingestreut, dass sie nicht zur fiktionalen Notwendigkeit avancieren. Intradiegetische Verschachtelungen, Rückblicke im Rückblick, finden sich vor allem in BodenSeele. Da zusätzlich die emotionalen Höhen und Tiefen stärker modelliert erscheinen, ergibt sich eine insgesamt raffiniertere Konstruktion mit stärkeren Narrativen. Im dritten Band meint man zunächst, dass Harder-Merkelbach ihre Erzählweise im Vergleich zu den Vorgängerbänden noch ein bisschen weiterentwickelt habe. Leider erweist sich dies als trügerisch, denn nach einem narratologisch guten ersten Drittel wählt die Autorin grobe und unmotivierte Sprungraffungen, die das eigentliche Thema des Romans in den Hintergrund drängen. Etwas versöhnlich wiederum, so ist einzuräumen, stimmen die circa letzten vierzig Seiten des Romans.

Als insgesamt erzähltechnisch problematisch einzustufen ist, dass die Erzählstimmen und Fokalisierungen im Binnenbereich, zudem auf einer nicht immer gänzlich klaren heterodiegetischen/auktorialen Basis, sehr stark variieren und daher als beliebig zu klassifizieren sind. Schnelle Wechsel in den Fokalisierungen und die Verknüpfung der Handlungen über die Bände hinweg (im ersten Band etwa kommt der Tod des Andreas Reichlin zur Sprache, keineswegs als Prolepse, sondern Endpunkt des Romans, im dritten Band geht es um seinen Tod und den darauffolgenden Trauermarsch) unterminieren ebenfalls die ästhetische Qualität der Romane.

In letzter Konsequenz erweist sich das immense (kunst-)historische Wissen der Autorin als breites Fundament der Fiktion. Daraus erwächst weder ein literarisches Kunstwerk noch ein reißerischer Mittelalterroman noch eine lesenswerte Mischung aus beidem. In der Sequenz des Werdens dieser Texte war das Wissen ohne jeden Zweifel als erstes vorhanden. In dieses wurde ein Plot eingefügt, der sich als dürftig und holzschnittartig entpuppt, weil das Wissen nicht in ihn integriert ist, sondern das umgekehrte Prinzip herrscht. Die Wogen des Wissens ertränken den Plot und seine durchaus guten Ansätze.

Harder-Merkelbachs Romane verdeutlichen, dass es ein schwieriges Unterfangen ist, einen „Flow“ zwischen Historie, Spannung und Ästhetik zu finden. Der Prototyp für ein solches Gelingen ist nach wie vor Umberto Ecos Der Name der Rose. Hilary Mantel, Rebecca Gablé und vielleicht sogar Sabine Ebert sind auf einem ganz guten Weg. In den Medicus-Romanen von Harder-Merkelbach indessen ist noch ganz viel Luft nach oben vorhanden.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Marion Harder-Merkelbach: BodenSeele. Roman.
MHM Verlag, 2014.
334 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9783000399534

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marion Harder-Merkelbach: Der Medicus vom Bodensee. Roman.
MHM Verlag, 2014.
229 Seiten, 11,99 EUR.
ISBN-13: 9783000459917

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Marion Harder-Merkelbach: Das Geheimnis des Medicus. Roman.
MHM Verlag, Überlingen 2015.
288 Seiten, 11,99 EUR.
ISBN-13: 9783981723410

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