„Eine gewisse Bergesluft der Gerechtigkeit“

Die päpstliche Enzyklika als rhetorisches Kunstwerk

Von Wolfgang BeutinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Beutin

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das rhetorische Kunstwerk als Schriftstück?

Mit der päpstlichen Enzyklika Laudato Si’ sich vertraut machend, werden die Leserin und der Leser – ob sie sich der römischen Kirche zurechnen, einer sonstigen Glaubensgemeinschaft oder auch keiner – kaum dem Eindruck zu widerstehen vermögen hier liege eine „leidenschaftliche Rede“ vor, „Sprache als Gestaltung“, kurz: ein rhetorisches Kunstwerk. Kaum in erster Linie als Reiz für Liebhaber der Sprache gedacht, sondern als Ermahnung aller Erdbewohner, die Existenz der gegenwärtigen Generation ebenso wie jeglicher zukünftigen bewahren zu helfen, zu bewahren den blauen Planeten als Stätte vielfältigen Lebens, der Menschen, der Tiere und Pflanzen.

Aber – ein Schriftstück als Rede?

Einstmals erkannte Adam Müller (1779–1829), ein Staatsphilosoph der Romantik: „Die in unsern Tagen am weitesten verbreitete Anwendung der Redekunst ist die Schriftstellerei.“ (Müller, 1983, S. 121) Er bestimmte also diese als Sonderfall der Rhetorik, wie denn ja der „Redekunst“ älterer Epochen in jüngerer Zeit die Stilistik (Stiltheorie) entwuchs.

Demnach ist der Sprachwissenschaftler berechtigt, die Enzyklika stilkritisch zu untersuchen.

Stilkritik

Da – aus der Sicht heutiger Linguistik – jeder Äußerung Stil zugesprochen wird (vgl. Krahl & Kurz, S. 84, zum Eintrag „Rede“), weil sie die Spur der Stilgebung an sich trägt, wird für deren Untersuchung der Begriff Stilkritik benutzt. In der Stilkritik wiederum lassen sich unterschiedliche Arbeitsgänge sondern, darunter die Analyse der gedanklichen Struktur der Äußerung oder der Logik der Rede (Argumentation), wofür auch der Terminus Denkstilkritik eintritt. Denkstilkritik und die Kritik am Inhalt der Aussage (Inhaltskritik) gemeinsam zielen auf die Denkweise in einem Einzeltext oder im Gesamtwerk eines Verfassers. Es ist unzweifelhaft der Denkstil der Enzyklika, der ihr ihre Größe verleiht. Als dessen kennzeichnende Elemente sind zum Beispiel ermittelbar: kombinatorischer Elan, Pathos, Bildlichkeit, Lyrismus, Exaktheit, hier und da Lakonismus. Andere fehlen gänzlich, etwa: Widersprüchlichkeit, Laxheit, Monotonie, Sentimentalität.

Stilistische Funktionen

Bei der Stilkritik am Einzeltext ist ferner der Blick auf das System der stilistischen Funktionen dienlich, unter denen als primäre die kognitive und die kommunikative gelten, als sekundäre die archivalische, die rhetorische und die poetische. Die zwei letztgenannten lassen sich mit Karl Kraus (1874–1936) auch apart stellen unter der Überschrift „Sprache als Gestaltung“, das heißt: die Sprache in rhetorischer und poetischer Verwendung. Für deren Spezifik beruft Kraus sich in seiner Polemik „Hier wird Deutsch gespuckt“ (1986–1994, Bd. 7, S. 9) auf eine Aussage von Goethe im Schlusspassus von dessen Abhandlung „Deutsche Sprache“ (1817). Sie gehört in den Zusammenhang einer Überlegung des älteren Dichters darüber, wer berufen sei, sich an der Sprachreinigung zu beteiligen. – Antwort: Wer vom Leben der Sprache weiß. Und woher rühre dies? Goethe: „Poesie und leidenschaftliche Rede sind die einzigen Quellen, aus denen dieses Leben hervordringt […].“

Bezweckt Franziskus mit seinem Text, energisch zur Erhaltung des Lebens auf der Erde beizutragen, zur Rettung der Schöpfung, so konnte er dafür kein besser geeignetes Mittel wählen als dies, die Sprache, aus der leidenschaftliches Leben „hervordringt“ – sprachliches Leben als Fürsprech des Lebens und der Schöpfung.

Adressierung

Zur guten Tradition der Literatur in Europa zählt seit alters, dass in ihr der Titel eines Werks als Aufbauelement des Textes fungieren kann; anzuführen wären dafür einige berühmte Beispiele: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung (Luther, 1520); An den Mond (Goethe, im Titel zweier Gedichte, 1768/69 und später); Brecht, An die Nachgeborenen (1938). Indessen wählte Papst Franziskus als Titel seiner Enzyklika nicht die Adresse, doch trug er sie alsbald in seinem dritten Abschnitt nach, zugleich die Tradition ausweisend, in die er seinen Text stellt:

Vor mehr als fünfzig Jahren, als die Welt am Rand eines Nuklearkrieges stand, schrieb der heilige Papst Johannes XXIII. eine Enzyklika, in der er sich nicht damit begnügte, einen Krieg abzulehnen, sondern einen Vorschlag für den Frieden unterbreiten wollte. Er richtete seine Botschaft Pacem in terris an die gesamte „katholische Welt“, fügte aber hinzu: „und an alle Menschen guten Willens“. Angesichts der weltweiten Umweltschäden möchte ich mich jetzt an jeden Menschen wenden, der auf diesem Planeten wohnt.

Ersichtlich geht es dem Verfasser also darum, anstatt einer selektiven Adressierung eine umfassende – die ganze Menschengattung meinende – vorzunehmen. Dies in einer Situation ernstlicher Bedrängnis, so wie damals Johannes XXIII. in einem Augenblick des Aufblitzens der Gefahr der Vernichtung allen Lebens auf dem Planeten eingriff, so Franziskus jetzt in einem Augenblick des Sichtbarwerdens „der weltweiten Umweltschäden“, die das Ende der Menschengattung, der Pflanzen- und Tierwelt auf der Erde bewirken könnten.

Eine zweite Parallele: Wie der frühere Papst außer der Markierung der Gefahr die Benennung des Rettungsmittels nicht unterließ, kündigt der jetzige mittelbar – durch Verweis auf das Vorbild – schon hier an, dass auch er sich nicht mit der Aufzählung eingetretener oder eintretender Schäden begnüge, sondern Möglichkeiten der Abhilfe vorschlagen werde.

Zwei Linien

Näherhin betrachtet, enthält die Schrift zwei kategorial zu separierende Ansprachen, zwei miteinander verflochtene: eine an die katholische Christenheit, eine zweite an dieselbe sowie zugleich an den nicht der katholischen Glaubenslehre anhängenden Teil der Menschengattung, womit der Verfasser „an jeden Menschen“ appelliert. Der zwiefachen Möglichkeit der Zuweisung entsprechen zwei rhetorische Verästelungen der Darlegung, denen der Verfasser sich abwechselnd widmet: erstens eine theologisierende Linie, spezifisch für die Gläubigen der römischen Kirche bestimmte, zweitens eine wissenschaftliche, säkular argumentierende, die sich von dem aktuellen Forschungsstand herleitet und in ihn einmündet.

Dazu kommt eine poetisierende Stilaura

als weitere wesentliche Textkomponente, die jene beiden überwölbt.

Die geistliche Tradition, in die der Papst sich eingereiht weiß, bezeichnete er dadurch, dass er bei seiner Erwählung den Namen eines mittelalterlichen Heiligen für sich erkor, des Franziskus von Assisi (1182–1226; heilig gesprochen 1228). Von diesem rührt ein Gedicht her, womit die volkssprachliche italienische Lyrik überhaupt erst anhebt: Il Cantico delle creature (entstanden 1224/25; in deutschen Übersetzungen unterschiedlich betitelt: Sonnengesang, auch Lobgesang). Nicht zufällig beginnt Franziskus, der jüngere, seine Enzyklika damit, dass er ihre Leserschaft zurück an den Beginn italienischer Dichtung geleitet. Er schreibt (förmlich ein klassisches Spitzenzitat):

„LAUDATO SI’, mi Signore – Gelobt seist du, mein Herr“, sang der heilige Franziskus von Assisi. In diesem schönen Lobgesang erinnerte er uns daran, dass unser gemeinsames Haus wie eine Schwester ist, mit der wir das Leben teilen, und wie eine schöne Mutter, die uns in ihre Arme schließt: „Gelobt seist du, mein Herr, durch unsere Schwester, Mutter Erde, die uns erhält und lenkt und vielfältige Früchte hervorbringt und bunte Blumen und Kräuter“ (1).[1]

Es ist jedenfalls die Mutter Erde, so versicherte vor einem Jahrhundert Sigmund Freud, über deren Wichtigkeit bereits „in den Vorstellungen und Kulten der alten Zeit“ das Publikum sich durch die „Mythologen belehren“ lassen möge (Freud, 1916–17a, S. 165). Mit Partikeln der Dichtung seines Namensgebers durchsetzte der Autor-Papst die ganze Enzyklika, auf die Verwandtschaft aller Lebenden in einer einzigen Familie ebenso pochend wie auf die innige Verbundenheit der Naturgegebenheiten untereinander und mit der Menschengattung.

Hinzu kommt die Allegorie des Hauses, die der Verfasser mit der Allegorik der Familie verflicht, wie dies bereits im Untertitel in Erscheinung tritt: „Über die Sorge für das gemeinsame Haus“. Bildliche Momente aus dem Franziskus-Gedicht wie ebenso die Bildlichkeit des Hauses oder Anspielungen darauf bilden die Leitmotive im gesamten Wortlaut, wobei die Bezeichnungen der Familienmitglieder gelegentlich ineinander verfließen.

So heißt es gleich im folgenden Abschnitt (2):

Diese Schwester schreit auf wegen des Schadens, den wir ihr aufgrund des unverantwortlichen Gebrauchs und des Missbrauchs der Güter zufügen, die Gott in sie hineingelegt hat. Wir sind in dem Gedanken aufgewachsen, dass wir ihre Eigentümer und Herrscher seien, berechtigt, sie auszuplündern. Die Gewalt des von der Sünde verletzten menschlichen Herzens wird auch in den Krankheitssymptomen deutlich, die wir im Boden, im Wasser, in der Luft und in den Lebewesen bemerken.

Der Verfasser bleibt dabei, die Mutter Erde mit der Schwester Erde zu kontaminieren, und es ist daher deren Leid, das sich Luft machen muss:

Diese Situationen rufen das Stöhnen der Schwester Erde hervor, die sich dem Stöhnen der Verlassenen der Welt anschließt, mit einer Klage, die von uns einen Kurswechsel verlangt. Niemals haben wir unser gemeinsames Haus so schlecht behandelt und verletzt wie in den letzten beiden Jahrhunderten. Doch wir sind berufen, die Werkzeuge Gottes des Vaters zu sein, damit unser Planet das sei, was Er sich erträumte, als Er ihn erschuf, und seinem Plan des Friedens, der Schönheit und der Fülle entspreche (53).

Im letzten Satz des Abschnitts lässt der Autor nicht nur den Silberstreif am Horizont aufschimmern, der Planet könnte unter den Händen der Menschengattung immer noch werden, wie er ursprünglich konzipiert war, sondern er präsentiert zugleich auch den Schöpfer, Gottvater. So freimütig sich der Autor allgemein geriert, so drängend didaktisch tritt er hier auf, indem er die Notwendigkeit des Gottesglaubens betont:

Wir können nicht eine Spiritualität vertreten, die Gott als den Allmächtigen und den Schöpfer vergisst. Auf diese Weise würden wir schließlich andere Mächte der Welt anbeten oder uns an die Stelle des Herrn setzen und uns sogar anmaßen, die von ihm geschaffene Wirklichkeit unbegrenzt mit Füßen zu treten. Die beste Art, den Menschen auf seinen Platz zu verweisen und seinem Anspruch, ein absoluter Herrscher über die Erde zu sein, ein Ende zu setzen, besteht darin, ihm wieder die Figur eines Vaters vor Augen zu stellen, der Schöpfer und einziger Eigentümer der Welt ist (75).

Mit dem Beharren auf der Existenz des göttlichen Vaters glückt es dem Autor, die Familie zu komplettieren, und er hat sie in der Tat beisammen, wo er dem Bruder (Sonne), der Schwester (Luna [Mond] und Sterne), der Mutter (Terra [Erde]) den Vater(Gott) hinzugesellt. Die Verschmelzung beider, der Bildlichkeit der Familie und des Hauses, entspringt der Absicht, ein gemeinschaftliches Handeln sämtlicher engen Verwandten – sprich: der Summe aller gegenwärtig auf der Erde Lebenden – zugunsten der Erhaltung ihrer Bleibe (des Planeten) zu inspirieren:

Die dringende Herausforderung, unser gemeinsames Haus zu schützen, schließt die Sorge ein, die gesamte Menschheitsfamilie in der Suche nach einer nachhaltigen und ganzheitlichen Entwicklung zu vereinen, denn wir wissen, dass sich die Dinge ändern können. Der Schöpfer verlässt uns nicht, niemals macht er in seinem Plan der Liebe einen Rückzieher, noch reut es ihn, uns erschaffen zu haben. Die Menschheit besitzt noch die Fähigkeit zusammenzuarbeiten, um unser gemeinsames Haus aufzubauen (13).

Die katholische Linie der Argumentation

Im ersten Kapitel (vom Abschnitt 17 an) wagt der Autor sich an ein Tableau, worin er die Menge der bereits vorhandenen Schäden summiert – keine leicht zu überschauende Zahl –: „WAS UNSEREM HAUS WIDERFÄHRT“. Zum guten Ende heißt es dann immerhin, dass das vom Autor angestrebte Ziel nahe gerückt sei: „Inzwischen vereinigen wir uns, um uns dieses Hauses anzunehmen, das uns anvertraut wurde, da wir wissen, dass all das Gute, das es darin gibt, einst in das himmlische Fest aufgenommen wird“ (244).

Das der katholischen Welt entstammende Gedankenmaterial der Enzyklika zeigt sich sofort in der Fülle der Zitate aus der kirchlichen Tradition. Ihre Quellen sind: schon einmal die Bibel, zweitens – und in noch umfassenderer Auswahl – ältere Enzykliken, Beschlüsse und Äußerungen von bischöflichen und anderen Versammlungen. Generell bilden Zitate in einem Text sowohl ein formales Aufbauelement wie ein inhaltliches, in der Regel auch ein Mittel der Verankerung eines Gedankengangs in bestimmtem historischen Kontext und institutionellen Zusammenhang. Der Papst selber nominiert den von ihm herangezogenen Ausschnitt aus der Lehrverkündigung der Kirche, den er bei der Abfassung als Grundtext nutzte: Er veröffentliche eine Enzyklika, „die sich an die Soziallehre der Kirche anschließt“ (15). Allerdings nicht ohne in aller Offenheit zu fragen: „Warum in dieses, an alle Menschen guten Willens gerichtete Dokument ein Kapitel aufnehmen, das auf Glaubensüberzeugungen bezogen ist?“ (2. Kap.; mit Einschluss der Formel „alle Menschen guten Willens“ aus dem Aufruf von Johannes XXIII.)

Es ist des Autors Frage nach dem weltanschaulichen Fundament seiner Überlegungen – eine Frage zugleich: Werde die Adressierung „an jeden Menschen“ nicht durch die Beanspruchung christlicher Glaubensinhalte dementiert? Ein solcher ist vielleicht bereits die Behauptung der Priorität des Instituts Familie: „Ich möchte jedoch die zentrale Bedeutung der Familie hervorheben […]“ (213) und sicher das Verbot der Abtreibung (120). Wie weit sei er verpflichtet, muss der Papst überlegt haben, präponderante Bestandteile christlicher Dogmatik einzubringen? So zum Beispiel wenn er ausführt – besondere Aufmerksamkeit erheischend mit dem Signal „christlich“ am Kopfende –: „Nach dem christlichen Verständnis der Wirklichkeit geht die Bestimmung der gesamten Schöpfung über das Christusmysterium, das vom Anfang aller Dinge an gegenwärtig ist“ (99).

Es ist wahr, einige von Franziskus beigebrachte Einsprengsel aus christlicher Quelle irritieren. So stammt merkwürdigerweise einmal ein Zitat von einer geistlichen Autorin, in deren literarischer Hinterlassenschaft Gedankenelemente auffallen, die der Intention des Papsts Franziskus geradezu widersprechen. Im Passus 230 beruft er sich auf die heilige Therese von Lisieux (1873–1897) wegen ihres Liebesbegriffs. Doch ist ein bei ihr auffälliger Grundzug ein sonst in der Kirchenlehre heutzutage glücklicherweise kaum mehr akzentuierter: ihr Asketismus, ihre Weltverneinung, wenn sie schreibt (Lisieux, 2003, S. 67): „Der liebe Gott hat mir die Gnade gewährt, die Welt nur eben genug zu kennen, um sie geringzuschätzen und mich von ihr abzuwenden.“ Die päpstliche Enzyklika dagegen ist ein eindringliches Zeugnis der Hochschätzung der Schöpfung und eine Mahnung, sich gerade von ihr keinesfalls abzuwenden, sondern sich ihr schützend und heilend zuzuwenden! Dieselbe Hochschätzung schließt auch die menschliche Leiblichkeit nicht aus, wie Franziskus schreibt:

Zu lernen, den eigenen Körper anzunehmen, ihn zu pflegen und seine vielschichtige Bedeutung zu respektieren, ist für eine wahrhaftige Humanökologie wesentlich. Ebenso ist die Wertschätzung des eigenen Körpers in seiner Weiblichkeit oder Männlichkeit notwendig, um in der Begegnung mit dem anderen Geschlecht sich selbst zu erkennen. (155)

Ein kluger Kritiker möchte wohl einwerfen, dass die hier vorhandene Sicht auf die Geschlechter – nämlich die disjunktive Vorstellung beider – in der modernen Biologie und Psychologie kaum noch akzeptiert werde, wie ja dem wissenschaftlichen Standard unserer Tage die Aufmerksamkeit zugleich auf die Varietäten der Intersexualität entspreche. Dennoch: Ausdruck einer sinnvollen Modernität ist es, dass Franziskus die Weiblichkeit an erster Stelle nennt; womit er einer mittelalterlichen Tradition seine Reverenz erweist: Germanisten wissen, wie hoch im Minnesang der Begriff „wîp“ gestellt wurde, und so darf wohl vom älteren Franziskus der Blick zu seinem Zeitgenossen Walther von der Vogelweide gehen und wieder auch von diesem zum gegenwärtigen Franziskus.

Nun: Weshalb rhetorisches Meisterstück?

Was lässt die päpstliche Enzyklika Laudato Si’ als rühmliche Besonderheit[2] hervortreten, was sichert ihr den Charakter der „leidenschaftlichen Rede“, was berechtigt dazu, sie als rhetorisches Meisterstück zu qualifizieren?

Sicherlich die Verbindung aus vorzüglich poetisierender Grundstimmung und außerordentlich stringenter Gedankenführung.

Wilhelm Dilthey (1833–1911) untersuchte vor mehr als einem Jahrhundert Lessings theoretische – vor allem theologische und philosophische – Schriften, und er resümierte (1988, S. 75): Der Dichter „ging von der Theologie aus und fand in ihr, wie sie zwischen Geschichte, Philologie und Philosophie gestellt ist, einen kombinatorischen Zug, der seinem Geiste zusagte“. Es ließe sich Diltheys Sentenz wie folgt variieren: Franziskus ging von der Theologie aus und fand in ihr, wie sie zwischen Ökologie, Anthropologie und Philosophie gestellt ist, einen kombinatorischen Zug. Genau dieser ist es, der sich in der Enzyklika überall greifen lässt. Des Autors methodologisches Axiom lautet, dass „die Probleme der Welt isoliert weder analysiert noch erklärt“ werden können (61; und praktisch gelöst schon gar nicht). Der kombinatorische Zug bleibt das übergeordnete Kennzeichen des den Text charakterisierenden Denkstils.

Er bedeutet zugleich die Realisation des Vorhabens, welches Franziskus avisiert: „Dann werde ich versuchen, zu den Wurzeln der gegenwärtigen Situation vorzudringen, so dass wir nicht nur die Symptome betrachten, sondern auch die tiefsten Ursachen“ (15). Damit verspricht Franziskus, sich der Problematik mit der gebotenen Radikalität zu nähern.

Sein Versprechen löst er vollauf ein.

Der energisch kombinatorische Zug verlangt beim Lesen, die diversen Einzelvorgänge im Text, die zu bündeln waren, zu beobachten. Ein Beispiel ist das oben bereits festgestellte Zitieren. Ein anderes eminentes Verfahren das Definieren, etwa des Terminus Ökologie – zugleich mit integrierter Kritik am landläufigen Umweltbegriff –:

Die Ökologie untersucht die Beziehungen zwischen den lebenden Organismen und der Umwelt, in der sie sich entwickeln. Das erfordert auch darüber nachzudenken und zu diskutieren, was die Lebens- oder Überlebensbedingungen einer Gesellschaft sind, und dabei die Ehrlichkeit zu besitzen, Modelle der Entwicklung, der Produktion und des Konsums in Zweifel zu ziehen. Es ist nicht überflüssig zu betonen, dass alles miteinander verbunden ist. […] Wenn man von „Umwelt“ spricht, weist man insbesondere auf die gegebene Beziehung zwischen der Natur und der Gesellschaft hin, die sie bewohnt. Das hindert uns daran, die Natur als etwas von uns Verschiedenes oder als einen schlichten Rahmen unseres Lebens zu verstehen. Wir sind in sie eingeschlossen, sind ein Teil von ihr und leben mit ihr in wechselseitiger Durchdringung (138f.).

Strikt warnt Franziskus indes davor, eine für alle Völker und jegliche Kulturen einförmige Begrifflichkeit zu oktroyieren:

Es ist nötig, sich die Perspektive der Rechte der Völker und der Kulturen anzueignen, und auf diese Weise zu verstehen, dass die Entwicklung einer sozialen Gruppe einen historischen Prozess im Innern eines bestimmten kulturellen Zusammenhangs voraussetzt und dabei verlangt, dass die lokalen sozialen Akteure ausgehend von ihrer eigenen Kultur ständig ihren zentralen Part übernehmen. Nicht einmal den Grundbegriff der Lebensqualität kann man vorschreiben, sondern muss ihn aus dem Innern der Welt der Symbole und Gewohnheiten, die einer bestimmten Menschengruppe eigen sind, verstehen (144).

Die Methode des Differenzierens: Ökologie wird dabei als zerlegbar gedacht in „Sozialökologie“, „Kulturökologie“ und „Humanökologie“ (142f., 155); unvermeidlich muss sogar auch mit einer bloß vorgetäuschten Ökologie gerechnet werden (59). Als Ideal gilt die „ganzheitliche Ökologie“, als deren frühen Repräsentanten der Papst keinen anderen als den heiligen Franziskus benennt: „Ich glaube, dass Franziskus das Beispiel schlechthin für die Achtsamkeit gegenüber dem Schwachen und für eine froh und authentisch gelebte ganzheitliche Ökologie ist“ (10).

Ebenfalls zerlegbar erscheint in der Enzyklika die Geschichte, zu unterteilen in mehrere Stufen, von denen eine jede unter anderem nach dem Maß einzuschätzen wäre, in welchem sie die Ökologie schädigte:

Während die Menschheit des post-industriellen[3] Zeitalters vielleicht als eine der verantwortungslosesten der Geschichte in der Erinnerung bleiben wird, ist zu hoffen, dass die Menschheit vom Anfang des 21. Jahrhunderts in die Erinnerung eingehen kann, weil sie großherzig ihre schwerwiegende Verantwortung auf sich genommen hat (165).

Die historischen Epochen können aber auch nach dem Maß beurteilt werden, in welchem die Menschengattung sich jeweils der natürlichen Grundlagen ihrer Existenz bewusst wurde. Dabei schneidet die Gegenwart nicht unbedingt übel ab: „Es ist eine steigende Sensibilität für die Umwelt und die Pflege der Natur zu beobachten, und es wächst eine ehrliche, schmerzliche Besorgnis um das, was mit unserem Planeten geschieht“ (19).

Als weiteres Stilmittel der Enzyklika findet sich dazu etwa die Aufstellung oder Auflistung (von Schäden). Auch der Fragenkatalog:

Um zu erkennen, ob ein Unternehmen zu einer wahren ganzheitlichen Entwicklung beiträgt, müssten in der gesamten Diskussion die folgenden Fragestellungen bedacht werden: Wozu? Weshalb? Wo? Wann? In welcher Weise? Für wen? Welches sind die Risiken? Zu welchem Preis? Wer kommt für die Kosten auf, und wie wird er das tun? (185)

Deliberative Rede

Nach der überlieferten, aus der Antike ererbten Skala der unterschiedlichen Arten der Rede liegt in der päpstlichen Enzyklika das Musterbeispiel einer deliberativen vor. Darin schildert der Redner einen von ihm als misslich registrierten Sachverhalt mit Verve, wonach er seinen Ratschlag erteilt, wie dem Übelstand abgeholfen werden kann. So nicht anders Franziskus: Die Brennpunkte des gedanklichen Inhalts seiner Enzyklika sind die Darlegung eines Sachverhalts – die Bedrohung des Lebens auf dem Planeten Erde – und der Ratschlag, wie hier zu bessern wäre.

Zum Sachverhalt

Die anfängliche Übersicht (1. Kap.) könnte kaum eindrucksvoller sein. Indem der Autor die Gesamtheit der Umweltschäden in einem vollständigen Konspekt veranschaulicht, enthüllt er eine erschreckende Wahrheit, wie sie so kompakt anderswo selten erscheint (Club of Rome!): wie weit die Zerstörung der Natur und der Gesellschaft auf der Erde schon jetzt fortgeschritten ist. Und die Ursachen? Geistige (immaterielle) wie ebenso materielle. Am tiefsten Grunde:

Papst Benedikt XVI. legte uns nahe anzuerkennen, dass die natürliche Umwelt voller Wunden ist, die durch unser unverantwortliches Verhalten hervorgerufen sind. Auch die soziale Umwelt hat ihre Verwundungen. Doch sie alle sind letztlich auf dasselbe Übel zurückzuführen, nämlich auf die Idee, dass es keine unbestreitbaren Wahrheiten gibt, die unser Leben lenken, und deshalb der menschlichen Freiheit keine Grenzen gesetzt sind (6).

Franziskus nennt dies Übel „Relativismus“ und schreibt:

Die Kultur des Relativismus ist die gleiche Krankheit, die einen Menschen dazu treibt, einen anderen auszunutzen und ihn als ein bloßes Objekt zu behandeln, indem er ihn zu Zwangsarbeit nötigt oder wegen Schulden zu einem Sklaven macht. Es ist die gleiche Denkweise, die dazu führt, Kinder sexuell auszubeuten oder alte Menschen, die den eigenen Interessen nicht dienen, sich selbst zu überlassen (123).

Dem Relativismus benachbart seien die „Interessenlosigkeit“ und „Gleichgültigkeit“ einer großen Anzahl von Menschen (14).

Wenn er hier den Mangel verbindlicher Wertmaßstäbe konstatiert, stimmt sein Monitum überein mit demjenigen bedeutender Denker des 20. Jahrhunderts. Schon Leonard Nelson (1882–1927) empörte sich seinerzeit darüber, dass die Basis des menschlichen Lebens verloren zu gehen drohe, weil verloren zu gehen drohe: eine unabdingbare „Voraussetzung“, „die unseren Relativisten nicht in den Kopf will: die Voraussetzung des Vorhandenseins und der Erkennbarkeit eindeutiger Wertmaßstäbe“ (Nelson, 1927, S. 164).

An materiellen Ursachen nominiert Franziskus vor allem das Bündnis von Wirtschaft und Technologie, insofern es sich über Ökologie und gemeinen Nutzen hinwegsetzt (54), im Konnex damit den „Konsumismus“ (203), primär jedoch: das „Prinzip der Gewinnmaximierung, das dazu neigt, sich von jeder anderen Betrachtungsweise abzukapseln“; es sei „eine Verzerrung des Wirtschaftsbegriffs“:

Wenn die Produktion steigt, kümmert es wenig, dass man auf Kosten der zukünftigen Ressourcen oder der Gesundheit der Umwelt produziert; wenn die Abholzung eines Waldes die Produktion erhöht, wägt niemand in diesem Kalkül den Verlust ab, der in der Verwüstung eines Territoriums, in der Beschädigung der biologischen Vielfalt oder in der Erhöhung der Umweltverschmutzung liegt (195).

Ratschläge

Die Darlegungen der Enzyklika gipfeln, wie die deliberative Rede es erfordert, in hilfreichen Ratschlägen. Franziskus stellt und beantwortet die Frage: Wie aber die auf dem ganzen Planeten, in der Erde, im Wasser, in der Luft, in allem Leben feststellbaren, nicht wegzuleugnenden ökologischen Schäden beseitigen?

Zunächst einmal gebiete es die Aufrichtigkeit, dass die Menschengattung sich eingesteht, dass sie bisher der ausreichenden kulturellen Grundlagen ermangele, die benötigt werden, um der Gefährdung allen Lebens erfolgreich entgegenzuwirken (53). Gewiss, der Rückgriff auf die Tradition könnte helfen (63). Mehr noch die kulturelle Revolution (zu beachten wiederum die Bildlichkeit, diesmal aus der Autotechnik):

Was gerade vor sich geht, stellt uns vor die Dringlichkeit, in einer mutigen kulturellen Revolution voranzuschreiten.[4] Wissenschaft und Technologie sind nicht neutral, sondern können vom Anfang bis zum Ende eines Prozesses verschiedene Absichten und Möglichkeiten enthalten und sich auf verschiedene Weise gestalten. Niemand verlangt, in die Zeit der Höhlenmenschen zurückzukehren, es ist aber unerlässlich, einen kleineren Gang einzulegen, um die Wirklichkeit auf andere Weise zu betrachten, die positiven und nachhaltigen Fortschritte zu sammeln und zugleich die Werte und die großen Ziele wiederzugewinnen, die durch einen hemmungslosen Größenwahn vernichtet wurden (114).

Im Einzelnen postuliert Franziskus ein effektiv melioriertes Rechtssystem und eine durchdringende „Ethik der internationalen Beziehungen“ (51, 53, 229).

Wir haben schon sehr viel Zeit moralischen Verfalls verstreichen lassen, indem wir die Ethik, die Güte, den Glauben und die Ehrlichkeit bespöttelt haben, und es ist der Moment gekommen zu merken, dass diese fröhliche Oberflächlichkeit uns wenig genützt hat. Diese Zerstörung jeder Grundlage des Gesellschaftslebens bringt uns schließlich um der Wahrung der jeweils eigenen Interessen willen gegeneinander auf, lässt neue Formen von Gewalt und Grausamkeit aufkommen und verhindert die Entwicklung einer wahren Kultur des Umweltschutzes (229).

Nicht zuletzt verlangt Franziskus die Aufhebung der Priorität des Privateigentums, oder umgekehrt: „Das Prinzip der Unterordnung des Privatbesitzes unter die allgemeine Bestimmung der Güter und daher das allgemeine Anrecht auf seinen Gebrauch ist eine ,goldene Regel’ des sozialen Verhaltens und das ,Grundprinzip der ganzen sozialethischen Ordnung’“ (93). Was müsste die gewissenhafte Anwendung eines solchen Prinzips für den Umgang des Menschen mit der Natur bedeuten?

Er hätte sich fortan nicht mehr als ihren Herrn, ihren Ausbeuter zu betrachten, sondern als ihren „verantwortlichen Verwalter“ (116; biblische Begrifflichkeit!)

Und ein jeder Mensch hätte sich als Glied einer „universalen Gemeinschaft“ zu erkennen und einzuordnen, die keinem Rassismus mehr verfällt: „Wenn andererseits das Herz wirklich offen ist für eine universale Gemeinschaft, dann ist nichts und niemand aus dieser Geschwisterlichkeit ausgeschlossen.“ Liebe zur Natur erwächst nicht anders als im Junktim mit der Nächstenliebe: „Ein Empfinden inniger Verbundenheit mit den anderen Wesen in der Natur kann nicht echt sein, wenn nicht zugleich im Herzen eine Zärtlichkeit, ein Mitleid und eine Sorge um die Menschen vorhanden ist“ (91f.).

„Das wahre Sprechen also ist eine wirkliche Tat“

Nach alledem darf die Enzyklika, obgleich ein schriftlich vorliegender Text, als „leidenschaftliche Rede“ bezeichnet werden, mit Adam Müller: als ein „wahres Sprechen“ (1983, S.119). „Das wahre Sprechen also ist eine wirkliche Tat, und es sind solche rednerische Taten, die ich von der Kanzelberedsamkeit verlange.“

Das Lob, welches Müller jedem „großen Redner“ spendete – es kommt dem Autor der Enzyklika aus gutem Grund ebenfalls zu (ebd., S. 111):

„Es ist eine gewisse Region der Tugend, sage ich, eine gewisse Bergesluft der Gerechtigkeit, worin der große Redner atmen muss […].“

Anmerkungen

[1] Der Text des mittelalterlichen Autors scheint hier eher frei mitgeteilt worden zu sein. Bei Franziskus von Assisi ist die Reihenfolge so, dass zunächst der Bruder Sonne („lo frate Sole“) erwähnt wird, hernach die „sora Luna e le stelle“ (die Herrin Luna [der Mond] mit den Sternen), endlich unsere Herrin Mutter Erde („sora nostra matre Terra“)“. Vgl. die Wiedergabe (Enzyklika, Abschnitt 87): „Gelobt seist du, mein Herr, mit allen deinen Geschöpfen, zumal dem Herrn Bruder Sonne […] Gelobt seist du, mein Herr, durch Schwester Mond und die Sterne […].“

[2] Im Unterschied zu den meisten anderen Enzykliken der Kirchengeschichte, auch der jüngeren und der Überzahl sonstiger kirchlicher Grundtexte. – vgl. z.B.: Mirbt (1924, passim).

[3] Zur Terminologie: Nicht vielmehr des „industriellen“?

[4] Der Begriff der „kulturellen Revolution“ im Denken des Papstes fällt keineswegs mit dem der „Kulturrevolution“ in Maos China zusammen. Eher schon erweist er sich als mit dem der „kulturellen Revolution“ in der Ära des Expressionismus verwandt (etwa bei Kurt Hiller [um 1920]). Auch er strebte mit seiner Lehre des „Aktivismus“ eine Re-Ethisierung des öffentlichen Lebens an.

Literatur

Dilthey, W. (1988). Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing – Goethe – Novalis – Hölderlin. Leipzig: Reclam.

Freud, S. (1916–1917a). Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse. GW XI.

Krahl, S. & Kurz, J. (1975). Kleines Wörterbuch der Stilkunde. Leipzig: VEB Bibliographisches Institut.

Kraus, K. (1986–1994). Schriften (Hrsg. von C. Wagenknecht. 20 Bände). Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Mirbt, C. (1924). Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus (4. Aufl.). Tübingen: Mohr Siebeck.

Müller, A. (1983). Zwölf Reden über die Beredsamkeit. Gehalten zu Wien im Frühlinge 1812 (Hrsg. von J. Wilke). Stuttgart: Reclam.

Nelson, L. (1927). Demokratie und Führerschaft (2. Aufl.). Stuttgart: Verlag „Öffentliches Leben“

Lisieux, Therese von (Therese vom Kinde Jesus). (2003). Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text (15. Aufl.). Einsiedeln: Johannes-Verlag.

Hinweise der Redaktion

Erstveröffentlichung: Wolfgang Beutin (2017): „Eine gewisse Bergesluft der Gerechtigkeit“. Die päpstliche Enzyklika als rhetorisches Kunstwerk. In: Wolfgang George (Hg.): Laudato Si’. Wissenschaftler antworten auf die Enzyklika von Papst Franziskus. Gießen (Psychosozial-Verlag), S. 39-52. © Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Psychosozial-Verlags, Gießen 2017, www.psychosozial-verlag.de. Der Text der jeweils mit Angabe der Absatz-Nummer zitierten Enzyklika ist frei zugänglich auf der Seite http://w2.vatican.va/content/francesco/de/encyclicals/documents/papa-francesco_20150524_enciclica-laudato-si.html.

Titelbild

Wolfgang George (Hg.): Laudato Si’. Wissenschaftler antworten auf die Enzyklika von Papst Franziskus.
Psychosozial-Verlag, Gießen 2017.
367 Seiten , 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783837926422

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