Für ein offnes Land mit freien Menschen

In „Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution“ erzählt der Reporter Peter Wensierski, wie es 1989 zum friedlichen Aufstand in Leipzig kam

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht der 9. November 1989 in Berlin ist das entscheidende Datum des Untergangs der DDR, sondern der 9. Oktober 1989 in Leipzig. Während der Mauerfall in Berlin von Günter Schabowskis gestammelten Worten „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich“ wie aus Versehen eingeleitet wurde, geschah einen Monat vorher in Leipzig das Wunder einer friedlichen Revolution.

Zu DDR-Zeiten galt Leipzig als heimliche Hauptstadt, war Messemetropole, Buchstadt, Musikstadt, Arbeiterstadt, weltoffene Stadt und zuletzt die „Heldenstadt“. Aber wer waren eigentlich die heimlichen Helden, die all die unzufriedenen Massen endlich auf die Straßen brachten? Der Journalist Peter Wensierski erzählt von ihnen in der detailreichen und spannenden Großreportage Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution. Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte.

Er berichtet aus persönlicher Kenntnis der damaligen Verhältnisse und zugleich mit professioneller Distanz. Wensierski begann 1979 seine Arbeit als Journalist mit Berichten und Reportagen aus der DDR, mit 24 Jahren war er der jüngste westliche Reisekorrespondent. Die aufkommende Oppositionsbewegung begleitete er als Dokumentarfilmer, Reporter und Buchautor, unter anderem ab 1986 für das ARD-Fernsehmagazin „Kontraste“. Für dieses Buch hat er eine große Zahl der damals unmittelbar Beteiligten befragt und aus den jeweiligen Erinnerungen, den einzelnen Aktionen, Streichen, Niederlagen, aus den deprimierenden Knastmonaten wie auch den hoffnungsvollen Hinterhofnächten eine einfühlsame Gruppengeschichte gewoben.

Leipzig in den späten 1980er-Jahren, die Atmosphäre einer verfallenden Stadt: „Ganze Häuserzeilen waren unbewohnt, die Fensterscheiben eingeworfen, der Bürgersteig gesperrt oder mit Brettergerüsten gegen herunterfallende Mauerteile und Dachziegel geschützt. Immer wieder große Brachen, Reste von Kellern, über denen einmal Häuser gestanden hatten, Trümmer von abgerissenen Gebäuden, vor kurzem erst zusammengeschobene Haufen, aus denen schwarze Holzbalken in die Luft ragte.“ Die verseuchte Pleiße wird unterirdisch durch die Stadt geleitet.

Die jungen, unzufriedenen Studenten suchen sich Wohnungen in den heruntergekommenen und aufgegebenen Vierteln, wo sie einigermaßen ungestört sind. Sie engagieren sich im Umkreis der Kirche, die Raum für Unangepasste gibt und Schutz vor Repressalien bietet. Die Motive der rebellierenden jungen Generation sind nicht genuin kirchlich – ihnen geht es um Umweltschutz, Redefreiheit, Reisefreiheit, um elementare bürgerliche Rechte also, und doch um weit mehr: um die Luft zum Atmen.

Der Marsch an der Pleiße im Juni 1988, angezettelt von der „Initiativgruppe Leben“, wird zu einem ersten Zeichen, dass eine Gegenöffentlichkeit sich finden und zeigen kann. Im November kommt es zu einer spontanen Aktion vor dem Capitol-Kino: als Zeichen des Protests gegen das Verbot der liberalen russischen Zeitschrift „Sputnik“ steigen Luftballons auf. Im Januar 89 demonstrieren 800 Menschen nach einer improvisierten Rede von Fred Kowasch auf dem Leipziger Markt. Ausreiseantragsteller und Basisgruppen zeigen sich auch während der Messezeit. Bei den offiziellen Maiaufmärschen gibt es plötzlich Gegendemonstrationen, in den Wochen danach wütende Proteste gegen die offensichtlich gewordenen Wahlfälschungen. Im Juni findet in der Leipziger Innenstadt trotz massiver Behinderungen von Polizei und Stasi ein Straßenmusikfestival statt. Ende September sind es schon 8.000 Teilnehmer, die nach dem Friedensgebet von Pfarrer Wonneberger durch die Straßen ziehen. Soweit die äußeren Ereignisse. Wensierski gibt dazu die Hintergründe, er schildert die heimlichen Treffen, die konzertierten Aktionen, um einige tausend Flugblätter heimlich zu drucken und zu verteilen, und zeigt das Geflecht der verschiedenen Gruppen und Strömungen, auch innerhalb der Kirche. Er lässt eine versunkene Zeit noch einmal lebendig werden.

Wensierski ist Reporter, nicht aber ein geborener Erzähler. Sein Stil ist knapp, aktionsbetont, unprätentiös. Dass die Lektüre immer atemloser wird, liegt auch am einfachen Duktus, mehr noch an den Ereignissen, die an Zug gewinnen. Die Personen allerdings, von denen Wensierski berichtet, bleiben etwas schemenhaft. Sie heißen Susanne, Kathrin, Gesine, Conny, Thomas, Rainer, Jochen, bekommen aber kaum persönliche Kontur und keine eigene Stimme. Gewöhnungsbedürftig ist auch die Entscheidung des Autors, die Reden und Schriftstücke jener Zeit in die Erzählung hineinzucollagieren. Diese Texte sind zwar kursiv abgesetzt, aber sie verströmen ein überaus bürokratisches, gespreiztes, ausgedörrtes Schrift- und DDR-Deutsch, das dem heutigen Leser einiges Grausen einflößt. Nicht nur die Protokolle und Lageberichte der Stasileute, sondern auch die Aufrufe und Eingaben der Basisgruppen sind in dieser formelhaft erstarrten Sprache verfasst: „Unser erster Pleiße-Gedenkumzug hat viele Widersprüche bewusst werden lassen. Es kommt nun darauf an, aus der gesegneten Unruhe heraus Veränderungen zu erzielen und die breite Öffentlichkeit mit einzubeziehen.“ Man schüttelt sich, liest aber als sympathisierender Armlehnensesselrevoluzzer doch ergriffen weiter.

Was lange prekärer Untergrund war, misstrauisch geduldet von den Kirchenoberen und zunehmend panisch beäugt und verfolgt von den Sicherheitsbehörden, entwickelt schließlich eine öffentliche und unaufhaltsame Dramatik, die zu den großen Montagsdemonstrationen in der Leipziger Innenstadt führte. Allein die anekdotische Erzählung, wie es zum Slogan „Für ein offnes Land mit freien Menschen“ kam, hinter dem sich das unzufriedene Volk sammeln konnte, ist die Lektüre des Buches wert.

Etwas rätselhaft bleibt, weshalb Wensierski vor dem 9. Oktober, dem Tag der legendären, der ersten wirklich großen Demonstration, aufhört zu erzählen. Nun sind es nicht mehr die Basisgruppen, die etwas in Gang setzen, denn die Geschehnisse verselbständigen sich immer mehr. Aber genau an diesem Tag fiel auch die denkbar knappe Entscheidung, dass Regierung, Staatssicherheit und Polizei ebenso auf ein Blutbad verzichteten wie die Demonstranten, die ihrerseits auf Gewaltlosigkeit achteten. Es wurde eine friedliche Revolution. „Plötzlich war da die Erkenntnis, dass dies die Revolution ist, die süße, die lang herbeigesehnte, die in Gedanken schon aufgegebene.“

Als Ergänzung zu Wensierskis Buch sehr zu empfehlen ist der Dokumentarfilm „Leipzig im Herbst/ Aufbruch 89“, den Andreas Voigt und Gerd Kroske in jenen Wochen filmten. Natürlich gibt es eine ganze Reihe von Büchern, die sich mit dem Umbruch jener Jahre beschäftigen, Memoiren damaliger Akteure und historische Analysen und Aufarbeitungen. Wensierskis besondere Leistung liegt in der eigensinnigen Innenansicht jener Graswurzelbewegung, mit der es anfing.

Das Buch ist ausgestattet mit mehreren sehr instruktiven Bildtafeln, einem Glossar, einer Chronik von 1987 bis 1990 und einem Straßenplan der Leipziger Innenstadt mit den Hauptorten des Geschehens. Im Anhang „Wie es für sie weiterging“ liefert Wensierski kurze Biografien seiner Protagonisten und ihrer Lebenswege nach dem Untergang der DDR.

Der Titel Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution stammt allerdings wohl aus der Marketing-Abteilung, die sich durch den Anklang an den Bestseller-Roman von Milan Kundera wohl einen zusätzlichen Kaufanreiz verspricht. Von Leichtigkeit ist hier selten die Rede, mehr von Enge, Stillstand, Verzweiflung. Andererseits auch von Mut, Risikobereitschaft und einem Ziel, für das es sich lohnte, auf die Straße zu gehen: „Für ein offnes Land mit freien Menschen“.

Titelbild

Peter Wensierski: Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution. Wie eine Gruppe junger Leipziger die Rebellion in der DDR wagte.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2017.
464 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783421047519

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch