Mann ist so alt, wie Mann sich fühlt

J. Paul Henderson lässt in „Daisy“ einen naiven alten Mann von seinen karikaturenhaften Freunden und einer späten Liebe erzählen

Von Charly RichterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Charly Richter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Herod Pinkney, genannt Rod, ist wirklich kein schlauer Kerl. Der Ich-Erzähler in J. Paul Hendersons Roman Daisy ist so naiv, dass es fast wehtut. Und seine Eltern mögen ihn auch nicht, schließlich ist er nicht so toll wie sein früh gestorbener Bruder. Aber auch die Eltern sterben glücklicherweise kurz nach seiner Volljährigkeit und lassen ihn mit einem Haufen Geld zurück, von dem sich Rod gleich ein Haus kauft. Von da an lebt er so vor sich hin. Hat mal kurz einen Job, den er aber gar nicht braucht. Hat auch mal eine Freundin, die sich aber umbringt. Freundet sich mit seiner Putzhilfe und deren Mann an. Baut sein Haus weiter aus. Was man halt so macht, wenn man reich ist. Doch dann sieht er in einer Fernsehshow eine junge Frau, die titelgebende Daisy, in die er sich sofort verguckt und die er per Privatdetektiv unbedingt finden möchte – damit sie ihn heiratet, wenn möglich.

Super Stoff für einen Roman, sagt sein Freund Ric, ein verkrachter Literaturagent. Und so beginnt Rod, seine Geschichte zu erzählen. Kapitelweise trägt er sie zu Ric, um sich beraten zu lassen, so beschreibt er es in einer zweiten, kursiv gesetzten Ebene des Buches in seinem Tagebuch. Nur vermag leider auch Rics Betreuung Daisy nicht zu retten. Man stellt sich vor, dass dieses Literaturagenten-Konzept vom Lektorat vorgeschlagen wurde, um den Romaneigenheiten, die einem das Lesen mühsam machen, auf einer Meta-Ebene zu begegnen und sie geschickt als Absicht darzustellen. Zum Beispiel wenn Ric Rods Naivität entschuldigt:

Wenn dir jemand erzählen würde, ein Homöopath wäre ein schwuler Psychopath, würdest du ihm sofort glauben, und mit so was gewinnt man die Zuneigung der Leser. Leser mögen schlichte Gemüter.

Vielleicht hat Ric grundsätzlich recht. Aber Rods penetrante Fehlinterpretation von Informationen ist nur für kurze Zeit sympathisch und danach vor allem: bemüht, unglaubwürdig und sehr anstrengend. Auch Rics Kritik, dass Rods Freunde in dessen Erzählung alle die gleiche Stimme hätten, hilft dem Roman nicht, denn sie ändert nichts am kritisierten Punkt.

Im Verlauf des Buches nähert sich die von Rod erzählte Geschichte der Gegenwart an, in der er die Geschichte erzählt. Zumindest kann man sich das zusammenreimen, wenn man zum Beispiel liest, dass Rod das Ende des letzten Kapitels umschreiben musste, weil er „vergessen hatte, dass Ihre Gegenwart meine Vergangenheit und meine Gegenwart Ihre Zukunft ist“. Was ein geschicktes Strukturelement sein könnte, wirkt so leider nur verwirrend. Auch die Orientierung gebenden Tagebucheinträge werden zum Ende hin seltener, unter anderem, weil Ric angesichts des vegetarischen Lebensstils seiner Frau eine Fleischobsession entwickelt und mit einem Nervenzusammenbruch erstmal aus der Geschichte verschwindet.

Ric ist nicht die einzige Figur in Daisy, die einen merkwürdigen bis unglaubwürdigen Auftritt hat. ‚Krude‘ und ‚skurril‘ sind Wörter, die in Rezensionen oft auf hilflose Weise inflationär gebraucht werden. Aber wie sonst soll man die Geschichte von Rods Nachbar bezeichnen, der im Vietnamkrieg Tunnel im Dschungel kartiert hat und jetzt in Rods Keller Pampelmusen versteckt, weil seine Frau den Geruch dieser Früchte nicht mag? Ansonsten sind die Figuren des Buches in auffallendem Maß stereotyp. Rods Putzhilfe „sah aus wie ein fröhlicher Wasserball“, also „klein, fast ebenso breit wie hoch“, während ihr Mann als genaues Gegenteil dargestellt wird. Die neuen Nachbarn von gegenüber trinken Bio-Wein, essen nur vegetarisch und erziehen ihr Kind genderneutral. Der muskelbepackte Bauunternehmer, der Rods Haus unterkellert, hat eine Narbe im Gesicht und bietet Rod in – selbstverständlich – osteuropäischem Akzent an, jemanden unbemerkt aus dem Weg zu schaffen. Aber vor allem die Frauenfiguren sind wenig mehr als Klischees. Die Frau des Pampelmusen-Nachbarn ist so empfindlich und zickig, dass er tagsüber nicht mal die Haustür öffnen darf. Die peruanische Putzhilfe singt beim Putzen spanische Lieder. Und Daisy ist, als man sie auf den letzten Seiten endlich kennenlernt, ein naiver Engel, der es Rod überhaupt nicht übelnimmt, dass er sie um die halbe Welt gestalkt hat und glaubt, dass sie ihn heiraten wolle.

Ist die Geschichte – solange man sie nicht zu ernst nimmt – anfangs noch einigermaßen unterhaltsam, wird sie mit dem Auftauchen von Daisy zuerst leicht unangenehm (eine hübsche Frau, die man ausschließlich aus dem Fernsehen kennt, von einem Privatdetektiv beobachten und ansprechen zu lassen, ist einfach unangemessen) und mit der Pointe des Buches endgültig peinlich und hanebüchen. Es stellt sich nämlich heraus, dass Rod sich für einen Mann in der Blüte seines Lebens hielt, in Wahrheit aber 84 ist. Dass einem diese Idee nicht schon auf den vorigen 300 Seiten kommt, wird vor allem durch eine irreführende Unwahrscheinlichkeit bewirkt: Rod vertauscht in einem Brief an Daisy die 84 mit der 48. Und das fällt im Buch niemandem auf. Mann ist halt so alt, wie Mann sich fühlt.

Diese Lösung ist enttäuschend, wenn man die anderen Bücher von Paul D. Henderson kennt, in denen er gut lesbare, witzige und teilweise sehr berührende Geschichten erzählt. Warum funktioniert das in Daisy nicht? Kurz stellt sich die Frage, ob nicht doch der ganze Roman ein Witz auf der Meta-Ebene sein soll, ob nicht alle angestrengten Textstellen und stereotypen Figuren die logische Konsequenz der gewählten Erzählerfigur und ihrer Weltsicht sind. In diesem Fall bliebe allerdings nur die Feststellung, dass eben nicht alle schlichten Gemüter die Zuneigung der Leser zu gewinnen vermögen. Und die Hoffnung, dass das nächste Buch von Paul D. Henderson wieder den fabelhaften Geschichtenerzähler zu Tage fördert, als der er auf dem Cover von Daisy bezeichnet wird.

Titelbild

J. Paul Henderson: Daisy.
Aus dem Amerikanischen Britta Waldhof.
Diogenes Verlag, Zürich 2023.
368 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071870

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