Eine Experimentalanordnung
Eine glücklich unglückliche Frau in Laurie Colwins „Familienglück“
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseRomane haben etwas, wenn sie gut gemacht sind, von sozialen Experimentalanordnungen, deren Ergebnis, wenn das Experiment einmal in Gang gebracht ist, im wesentlichen von den Ausstattungen und Eigenschaften der Elemente abhängt, die in ihnen in Beziehung gebracht werden. Die Alternative zu solchen Strukturen besteht in der (imaginativen) Reproduktion von Gelegenheitsverläufen, die zu irgendwas führen, die also aleatorisch, mithin nicht reproduzierbar und im Ganzen irrelevant sind – auch das ist literarisch bearbeitet worden. Über Ergebnisse kann man streiten. Aus Experimenten immerhin lässt sich lernen, zum Beispiel, was denn eine angemessene Reaktion sein könnte, etwa auf den Umstand, eine perfekte Tochter, Ehefrau und Mutter in einer perfekten Familie zu sein, und das als angemessen zu erkennen. Und dennoch damit nicht zufrieden zu sein, weil es eine Seite der eigenen Persönlichkeit nicht bedient.
Das nun ist die Anordnung, die die amerikanische Autorin Laurie Colwin in dem nun erstmals auf deutsch erschienenen Roman Familienglück aus dem Jahre 1982 gewählt hat. Was die langatmige Einleitung zu den Experimentalanordnungen legitimiert.
Polly Solo-Miller Demarest ist die Tochter eines alteingesessenen Juristen in New York, verheiratet mit einem Juristen, der einer anderen gleichfalls alteingesessenen New Yorker Anwaltsdynastie entstammt. Sie hat zwei Kinder und zwei Brüder, von denen der eine zwar das berufliche Vorbild des Vaters reproduziert, aber – zumindest zu Beginn des Romans – noch nicht an eine Familiengründung zu denken scheint. Der andere Bruder ist ganz aus der Art geschlagen und lebt mit seiner Eso-Lebensgefährtin ein eher eigenständiges Leben, was freilich nicht heißt, dass die beiden nicht geradezu zwanghaft an den in kurzen Abständen wiederkehrenden Familientreffen teilnehmen. Nicht zuguterletzt ist Polly außerdem – zum Leid ihrer Mutter, die sowas nie nötig hatte – berufstätig, zumindest halbtags.
Polly ist der Kern der der Solo-Miller-Sippschaft, kümmert sich also darum, dass alles gut läuft, die Mutter stets eine Ansprechpartnerin hat, sie sorgt dafür, dass die Familientreffen in trauter Freundlichkeit verlaufen, was meint, dass größere Reibereien unterbleiben. Sie ist eine gute Ehefrau, die ihrem Mann, der als Jurist im internationalen Recht tätig und deshalb überaus beansprucht ist, den Rücken freihält und die ihren Kindern die bestmögliche Fürsorge zukommen lässt, was sie mit der gebotenen Niedlichkeit honorieren. Polly ist mit anderen Worten die perfekte Familienheldin in einer gut situierten New Yorker-Upperclass-Familie. Geld spielt keine Rolle, Lebensmittel kommen mit dem Lieferdienst, es gibt Personal, wenn auch nicht in dem Umfang, der in bürgerlichen Haushalten um 1900 noch üblich war. Das Leben ist also von materiellen Sorgen frei, was immerhin schon was, wenn auch nicht alles ist.
In diese gehobene Idylle, die auf Dauer gestellt ist, werden nun zwei Störer eingebaut. Der erste ist die Liaison, die Polly mit einem Maler eingeht, den sie zufällig kennenlernt. Das Verhältnis zu Lincoln ist ernst, eine echte Liebesbeziehung, die beide intensiv betreiben, wenngleich eben doch unter der Voraussetzung, dass beide immer wieder auf Distanz zueinander gehen können. Lincoln hats nicht gern so eng und verbindlich, Polly will nicht gern ihre Ehe und alles, was damit zusammenhängt, aufgeben. Zumal ihre Zuneigung, wenn nicht Liebe zu ihrem Mann wie von Anfang an Bestand hat. Sie fühlt sich halt nicht wahrgenommen, soviel Selbstverständlichkeit gibt es eben nur in den Mühen der Eheebenen. Was naheliegend zu Konflikten und Widersprüchen führen muss, die – eventuell – zu lösen sind.
Der zweite Störer ist die Frau (eine Schweizerin zum Glück und keine Deutsche, wie die Familie anfangs befürchtet, was seine besondere Note dadurch erhält, dass es sich um eine, wenn auch weitgehend laikale jüdische Familie handelt), die Pollys älterer Bruder unvermittelt in den Kreis derer von Solo-Miller einbringt: Er stellt sie vor, er ehelicht sie heimlich und Zwillinge kündigen sich auch an. Das kommt in den besten Familien vor. Nur hat diese neue Frau, Beate, nicht nur besondere Ansichten darüber, wie ein Kind geboren wird („zuhause oder auf dem freien Feld“, brrrr, Müsli als Haltungsvariante) und aufwachsen soll, sondern braucht auch aufgrund ihrer Schwangerschaft (eine Frau Anfang vierzig, Zwillinge) besondere Schonung, aber auch Zuwendung, die sie, so wenigstens Mutter Solo-Miller, vor allem von Polly erhalten muss.
Was den Moment anzeigt, in dem Polly sich den Ansprüchen der Familie, die vor allem über ihre Mutter an sie gerichtet werden, verweigert. An der Folie Beate wird für Polly erkennbar, welchen Zumutungen sie ausgesetzt ist und vor allem schon immer war. Denn Polly, die perfekte Polly, hatte weder besondere Ansichten darüber, wie ein Kind geboren wird, noch hatte sie eine Problemschwangerschaft oder musste geschont werden.
So angemischt, ist die soziale Versuchsanordnung eigentlich reif für die Explosion, mit der die bisherige Konstellation in ihre Einzelteile zerlegt werden könnte: Trennung vom Mann, mit oder ohne Kinder neue Partnerschaft mit dem Maler, mit dem Risiko ernsthafter wirtschaftlicher Schwierigkeiten und einem endlosen Trennungskrimi mit dem Altmann, oder was auch immer. Rosenkrieg gefälligst?
Nun muss man konzedieren, dass die Anfangskonstellation weniger von der Dominanz des Ehemanns Pollys geprägt ist – der ist hingegen fast nicht präsent –, sondern vor allem von dem Druck, den ihre Mutter ausübt. Pollys Mann missachtet sie nicht, er schlägt sie nicht, er ist von keiner irgendwie gearteten toxischen Männlichkeit geprägt, die den Ausstieg Polly erzwingen würde. Seine Unaufmerksamkeit ist unangenehm, reicht das?
Die Lösung, die Colwin am Ende für Polly entwirft, ist beeindruckend, vor allem, weil sie hinreichend konsequent durchgespielt ist. Die Rückkehr in den Status quo ante ist nicht denkbar, die Alternativexistenz an der Seite des Malers (der sozial ja offensichtlich das Gegenmodell des Ehemanns Polly ist) ist keine realistische Alternative, ihre Emanzipation aus allen Bindungen (zum Ehemann und Liebhaber) liegt fern. Die Erkenntnis, dass die Existenz als Solo-Miller ihr ebenso entspricht wie die als Liebhaberin eines halbwegs erfolgreichen Künstlers, verweist schon auf das Schlusstableau.
Nun kann man dem Text vorwerfen, halbherzig und inkonsequent zu sein, allerdings hat Colwin mit der sozialen Ansiedlung ihrer Heldin bereits ein bestimmendes Rahmenelement formuliert. Sie hat etwas zu verlieren, was ohne weiteres nicht zu ersetzen ist: soziale Sicherheit, ein stabiles Lebensgerüst, einen gehobenen Lebensstandard und die Einbindung in eine weit zurückreichende bürgerliche Dynastie, der ihre selbstverständliche Fortsetzung eingeschrieben ist. Sie ist mithin unverzichtbar. Ob sich der Text als emanzipativer Text eignet – er erscheint immerhin in der Reihe „Entdeckungen“, mit der seit 2023 internationale Romane von Autorinnen bei Rowohlt vorgestellt werden – muss wohl jeder selbst entscheiden. Dass er als interessantes, anregendes und nicht zuletzt gut geschriebenes Experiment Aufmerksamkeit verdient, bleibt dabei unbenommen.
|
||