Ein Toter im Koffer und andere Kleinigkeiten

In „Desolation Hill“ hat Garry Dishers Constable Paul Hirschhausen bereits seinen vierten Auftritt

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Willi Van Sant ist verschwunden. Der junge belgische Backpacker hat durch ein paar Wochen Arbeit auf der Farm der Familie Dryden im südwestaustralischen „Weizen- und Woll-Land“ zwischen Adelaide und den Bergen der Flinderskette seine Reisekasse wieder auffüllen wollen. Laut den Besitzern der Farm, Paul und Mia Dryden, war er ausgesprochen beliebt und beherrschte schon nach kurzer Zeit alle anfallenden Arbeiten. Dann hat er ein Mädchen kennengelernt und die beiden, behaupten die Drydens, hätten die Farm von einem Tag auf den anderen verlassen. Das geschah offensichtlich auch zu der Zeit, als sein Kontakt nach Hause urplötzlich abbrach.

Deshalb hat sich Willis Mutter Janne, die am Nationalen Institut für Kriminalistik und Kriminologie in Brüssel als Forensikerin arbeitet, nach Australien begeben, um den Sohn ausfindig zu machen. Die Möglichkeit, dass er nicht mehr am Leben sein könnte, schließt sie keineswegs aus. Und tatsächlich stößt man auf der Rückfahrt nach dem ergebnislosen Besuch auf der Dryden-Farm mit dem für die Gegend verantwortlichen Polizisten Paul Hirschhausen auf eine Leiche. Doch bei dem gewaltsam ums Leben gekommenen und anschließend säuberlich in einem Koffer verstauten Mann handelt es sich nicht um den Sohn von Janne Van Sant.

Dryden Downs liegt weit draußen auf dem riesigen Gebiet, das Constable Hirschhausen, der am liebsten Hirsch genannt werden will, zweimal die Woche abfährt. Es gehört zu den Pflichten des im kleinen Tiverton stationierten Polizisten, auch auf den abgelegensten Besitzungen für Recht und Ordnung zu sorgen. Selbst wenn er bei den dort Lebenden nicht in jedem Fall beliebt ist.

Der in Desolation Hill bereits zum vierten Mal auftretende Senior Constable war bis zu seiner Strafversetzung in die abgelegene Gegend, in der er sich inzwischen – auch durch die Hilfe seiner neuen Freundin, der ortsansässigen Lehrerin Wendy Street, und ihrer Tochter Kate – gut eingelebt hat, als großstädtischer Ermittler tätig. Einst hauptsächlich mit der Aufklärung von Gewaltverbrechen beschäftigt, kümmert er sich in und um Tiverton nun um Viehdiebstähle, Verkehrsdelikte, jugendlichen Übermut und Kneipenschlägereien. Nur gelegentlich taucht in seinem Arbeitsalltag auch einmal eine Leiche auf. Aber mehr als den Tatort abzusperren und zu sichern, verlangt niemand von ihm.

Auch um die in einen Koffer gequetschte männliche Leiche, auf die er gemeinsam mit der besorgten Belgierin gestoßen ist, kümmern sich schon nach kurzer Zeit Beamte aus der nächstgrößeren Stadt. Die haben für den kleinen Ortspolizisten in der Regel nur Spott und Herablassung übrig. Hirschhausen ist das freilich längst gewohnt. Außerdem hat er genug anderes am Hals. Zum Beispiel den Stress mit Petra Osmak, der neuen Aushilfsangestellten im Polizeirevier Redruth, in dem Hirschs unmittelbare Vorgesetzte residiert.

Als Videos im Netz auftauchen, in denen Petra sich unverblümt rassistisch über Angehörige der Aborigines äußert, und ihr aktueller Freund, der bis vor Kurzem in einem örtlichen Pflegeheim beschäftigt war, in Wort und Bild dokumentiert, wie brutal er mit den ihm anvertrauten alten und kranken Menschen umgeht, ist polizeiliches Eingreifen dringend erforderlich. Und dann macht auch noch der kürzlich zugezogene Clan der Mahers ständig Ärger. Die durch allerhand kleine Gaunereien ins Visier der Ordnungshüter geratene Familie hat nicht nur ihren aggressiven Hund nicht unter Kontrolle, sondern ihre Trickbetrügereien und Drogendelikte erweisen sich nur zu bald als lediglich die Spitze eines gewaltigen Eisbergs an krimineller Energie.

Desolation Hill besticht wie seine drei Vorgänger durch seine kluge Komposition. Wie Disher eine Reihe verschiedener Erzählfäden eine ganze Weile nebeneinanderherlaufen lässt, um sie schließlich gekonnt miteinander zu verknüpfen – das ist große Kunst. Dazu kommen zahlreiche wunderbare Porträts einer ländlichen Bevölkerung, die in wilder, unwegsamer Natur ganz auf sich allein gestellt ist, mit Einsamkeit und Ängsten zu kämpfen hat und aufgrund ihrer Isolation prädestiniert dafür zu sein scheint, auf jegliche Art von Verschwörungsdenken hereinzufallen. Und schließlich überzeugt auch der vierte Hirschhausen-Roman mit großartigen Beschreibungen einer Landschaft, in der sich Menschen wie Sandkörner verlieren können und die Hauptfigur stundenlang mit ihrem Toyota Hilux auf staubigen Straßen und gefährlichen Schotterpisten unterwegs ist, um bis zu jenen der ihrem Schutz Anvertrauten zu gelangen, die am weitesten weg von allen menschlichen Ansiedlungen wohnen.

Dass Dishers Held sich in Desolation Hill von niemandem davon abhalten lässt, eine Schutzmaske zu tragen, auch wenn das viele der ihm Begegnenden nicht für nötig halten, ist nur ein Hinweis auf die Zeit, in der sein Roman spielt. Auch in Australien hält zu Beginn der 2020er Jahre die Corona-Pandemie Land und Bevölkerung fest im Griff. Tun die einen alles, um sich zu schützen, gebärden sich andere „coronazapplig“ und geben sich allen „möglichen Arten von Panikattacken“ hin.

Gefährlich wird es freilich erst, wenn Corona-Leugner auf den Plan treten und alle Maßnahmen, die dem Schutz der Bevölkerung dienen, als Versuche einer dubiosen Elite, sich die Bevölkerung unterwerfen zu wollen, verunglimpfen. Als sich am Romanbeginn deshalb Hirsch und die belgische Forensikerin Van Sant dem Anwesen von Paul und Mia Dryden nähern und als Erstes auf ein Schild stoßen, dass in großen Lettern verkündet „UNGEIMPFTE SIND HIER WILLKOMMEN!“ und darunter den kleineren Nachsatz „Wir weigern uns, ungesetzliche Anweisungen einer Regierung durchzusetzen, die ihr Volk mit Mikrochips versehen will.“ enthält, ist im Grunde schon klar, mit wem man es hier zu tun bekommen wird.

Mit Desolation Hill hat Garry Disher einen Roman vorgelegt, der äußerst sensibel auf beunruhigende Erscheinungen unserer Zeit reagiert, wie sie nicht nur das Leben der Menschen auf dem fünften Kontinent zunehmend prägen. Es geht um das Auseinanderdriften heutiger Gesellschaften, die ständig wachsende Rolle von Fremdenfeindlichkeit und Gewaltbereitschaft im menschlichen Zusammenleben sowie den Anteil, den Fakenews und Verschwörungstheorien an der weitgehend vergifteten gesellschaftlichen Atmosphäre besitzen. Der Zusammenhang von Querdenkern und rechter Ideologie – weit draußen im Outback bereitet sich im vorliegenden Roman eine paramilitärisch organisierte und auch vor Mord nicht zurückschreckende Neonazigruppe auf den bewaffneten Aufstand vor – wird angesprochen und auf die Gefahren hingewiesen, die aus dem Riss, der viele der westlichen Demokratien heute kennzeichnet, letztendlich resultieren können.

Dass auch Kriminalromane Weltliteratur ganz im klassischen, goetheschen Sinne sein können – „Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem, es auch seinerseits zu tun“, betonte Goethe in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann aus dem Jahr 1827 –, hat sich immer noch nicht weit genug herumgesprochen. Die großartigen Bücher von Garry Disher erfüllen jedenfalls mit Leichtigkeit ein Kriterium, das ihr Autor in einem aktuellen Interview mit Alf Mayer – dem Desolation Hill im Übrigen gewidmet ist – wie folgt beschreibt: „Ich liebe es, über die Welt zu schreiben, in der wir leben. Und zwar nicht nur über ‚reale‘ Orte, sondern auch über ‚wirkliche‘ Menschen und ‚reale‘ Verbrechen und soziale Umstände.“

Titelbild

Garry Disher: Desolation Hill. Kriminalroman. Ein Constable-Hirschhausen-Roman (4).
Aus dem Englischen von Peter Torberg.
Unionsverlag, Zürich 2025.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783293005990

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch