Werde, die du bist

Kristine Bilkau erzählt in ihrem Roman „Halbinsel“ den Entwicklungsroman einer Frau von beinahe fünfzig Jahren

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Linn ist Mitte zwanzig. Nach einem Studium der Umweltwissenschaften in Freiburg, dem schottischen Edinburgh und dem schwedischen Lund hat sie vor wenigen Monaten ihre erste Stelle bei einem Unternehmen, das Aufforstungen in verschiedenen Ländern organisiert, angetreten. Während des Vortrags bei einer Tagung erleidet sie einen Schwächeanfall und nimmt sich eine Auszeit. Zuerst fährt sie nur für eine Woche zu ihrer Mutter auf eine nicht näher benannte Halbinsel an der Nordsee, doch dann gibt sie ihre Wohnung in Berlin auf und bleibt für längere Zeit. Dass sie bereits vor dem Vortrag ihre Stelle gekündigt hat, erfährt die Mutter erst im Lauf des Romans. Linn zieht sich aus ihrem bisherigen Leben zurück, um herauszufinden, wohin ihr Weg gehen soll.

Doch der Roman Halbinsel von Kristine Bilkau ist kein Roman über die Sinnkrise und Selbstfindung der Mitzwanzigerin Linn, sondern im Fokus steht ihre 49-jährige Mutter Annett. Für die Ich-Erzählerin stellt die Auszeit, die sich die bislang so energiegeladene Tochter nimmt, eine Herausforderung dar. Nach dem plötzlichen Tod ihres Ehemanns Johan war sie selbst mit Anfang Dreißig alleine für sich und ihre Tochter verantwortlich. Die Stelle in der Bibliothek, die sie angenommen hatte mit dem Gedanken, dass sich alles noch einmal ändern würde, wenn Johan seine Promotion in Politologie abgeschlossen haben würde, hat sie immer noch. Das Haus, das ihrer Großtante gehörte, konnte sie irgendwann günstig kaufen. Doch die Kosten für Familie und Haus zwangen sie immer sparsam zu bleiben und gut zu haushalten. Sie hat über Jahre hinweg funktioniert – vor allem auch um ihrer Tochter eine gute Zukunft zu ermöglichen, doch mit Ende 40 stellt sich für sie die Frage, wie sie sich die Zukunft für sich selbst vorstellt.

In der Lebensmitte ist die Figur zwischen Empty-Nest-Syndrom und Midlife-Crisis hin und her geworfen. Wenn Annett alleine ist, vernachlässigt sie Haushalt und Garten. An ihren arbeitsfreien Tagen bringt die Bibliothekarin viel Zeit im Bett zu. Sie liest Stellenanzeigen und spricht mit einem Makler über einen möglichen Hausverkauf, doch zu einer Entscheidung kann sie sich nicht durchringen, zu groß ist die Angst vor einer Entscheidung: „Wo würde die Einsamkeit lauern? Hinter der Veränderung oder dem Vertrauten?“ Die sich anbahnende Depression wird durch den Aufenthalt von Linn abgewendet. Annett fühlt sich wieder aktiv und kritisiert an ihrer Tochter die Verhaltensweisen, die bislang ihren eigenen Alltag geprägt haben.

Zurückgeworfen auf die Zeit vor Linns Aufbruch in die Welt, sieht sich Annett vor allem mit ihrem eigenen Mutterbild konfrontiert: „Was für eine Mutter bist du jetzt? Eine, die mitfühlend und fürsorglich die passenden Worte findet? Eine, die sich zu viel Sorgen macht und ihrem Kind damit auf die Nerven fällt?“ Dass sie Probleme damit hat, Linn als erwachsene Frau anzuerkennen, versinnbildlicht eine zentrale Episode: Als das Hotel, in dem Linn den Schwächeanfall erlitten hat, eine horrende Rechnung für die Reparatur eines Gemäldes und einer Wand, auf die Linn im Fallen Fruchtsaft gespritzt hat, schickt, fühlt sie sich verantwortlich für den Schaden, den Linn unbeabsichtigt verursacht hat. Ohne mit der Tochter zu sprechen, die den Anruf der Holding ignoriert, zu der neben dem Hotel auch das Unternehmen gehört, bei dem die junge Frau beschäftigt war, kümmert sich Annett um die Rechnung. Zwar gelingt es ihr, mit Glück und Geschick herauszufinden, dass es sich bei der Rechnung um einen Versuch handelt, die kritische Ex-Mitarbeiterin einzuschüchtern, da kein wirklicher Anspruch auf die Begleichung der Rechnung besteht, dennoch zeigt dieses Beispiel, dass es der Mutter nicht gelingt, die Tochter als gleichberechtigt anzuerkennen. Noch ist sie nicht bereit, darauf zu vertrauen, dass die junge Frau in der Lage ist, ihren eigenen Weg zu gehen. Dabei reflektiert Annett immer wieder das Netz aus Erwartungen und Hoffnungen, die sich an das Leben der Tochter knüpfen:

[D]as Großziehen eines Kindes glich einem Bergaufstieg, mit aller Kraft hatte ich meine Tochter hochgehievt, um ihr die Chance zu geben, weiterzukommen als ich. Damit sie es leichter haben würde, bei allem, was ihr wichtig wäre. Und sie? Ließ sich einfach wieder herunterrutschen, hockte sich neben mich und sagte, zu anstrengend, und außerdem – nicht so wichtig.

Die Verständnisschwierigkeiten zwischen Mutter und Tochter arbeitet Bilkau in den Dialogen auf eindrückliche Weise heraus. Auf die stakkatohaften Fragen der Mutter antwortet Linn ausweichend, zieht sich zurück. Vieles bleibt unausgesprochen, weil die Mutter die Tochter – oder doch eher sich selbst? – schonen möchte. In den wenigen Momenten, in denen Annett die Zurückhaltung aufgibt, scheint die Möglichkeit einer Verständigung zwischen den Generationen auf.

Dass Annett durchaus ein gutes Gespür für die Bedürfnisse ihrer Tochter hat, zeigen die imaginierten Kommentare ihres verstorbenen Ehemanns Johan, die ihr immer wieder als Korrektiv für ihre eigenen Handlungen dienen. „Warum denkst du so viele Schritte im Voraus?, hörte ich Johan sagen. Sei doch fürs Erste froh, dass sie Energie hat, überhaupt etwas zu tun.“ Würde sie auf ihre innere Stimme hören, so signalisieren diese Passagen, dann wäre das Zusammenleben mit Linn viel einfacher.

Ein alternatives Lebensmodell zum sicherheitsbewussten Karrieredenken der Mutter entwickelt die Autorin mit den neuen Nachbarn im Haus nebenan. Zwei Frauen und ein Mann Anfang dreißig sind auf das Land gezogen, um hier in der Gemeinschaft ihr eigenes Konzept eines selbstbestimmten Lebens zu verwirklichen. Zwischen Fernstudium und Haushaltsauflösungen machen sie einen sehr zufriedenen Eindruck und lassen in ihrer unbeschwerten Art auch Annett ihr eigenes Leben überdenken.

Da eine der beiden jungen Frauen sich zur Führerin für Wanderungen im Watt ausbilden lässt, nehmen auch Linn und Annett an einer gemeinsamen Wanderung teil. Obwohl Annett schon zwanzig Jahre auf der Halbinsel wohnt, kennt sie diesen Teil ihrer neuen Heimat bislang nicht. Auf dem Ausflug unterhält sich die Protagonistin mit ihrem Nachbarn Levin. Er ist fasziniert von dem Ökosystem, durch das sie sich bewegen:

„Das ganze System, die Organismen, die Geschichten dazu. Zum Beispiel die Krebse, denen ihr Panzer zu klein wird“ sagte er. „Sie müssen ihn loswerden und warten, bis ein neuer wächst – und so lange sind sie butterweiches Freiwild. Was für ein riskantes Dasein. Ich habe Sympathie für sie.“

Der Krebs wird so zum Symbol für die Zwischenzeit, in der sich Mutter und Tochter gerade bewegen und in der auch Levin eine wichtige Rolle einnehmen wird.

Kristine Bilkaus so stiller wie eindringlicher Roman ist ein Entwicklungsroman der mittleren Lebensphase. Die einfühlsam beschriebene Protagonistin wird durch das (vermeintliche) Scheitern der Tochter mit ihrem eigenen Lebensentwurf konfrontiert. Sie muss sich ihrer Vergangenheit ebenso wie ihren eigenen Wünschen und Sehnsüchten stellen, um Vertrauen zu sich und ihrer Tochter zu entwickeln. Damit reiht sich der Roman in einen aktuellen Trend in der Gegenwartsliteratur ein, die versucht, der Frau in der Menopause mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Im Unterschied zu dem im vergangenen Jahr auf Deutsch erschienenen Roman „Auf allen vieren“ von Miranda July stellt Kristine Bilkau nicht die Sexualität in den Mittelpunkt ihrer Erzählung, sondern widmet sich der Frage, wie das Leben nach dem Auszug des Kindes gestaltet werden soll. Doch wie bereits das Sinnbild des Krebses verdeutlicht, ist die gewählte Metaphorik leicht durchschaubar und es gibt keine überraschende Wendung. Dabei wünscht man sich beim Lesen, dass die Autorin etwas mehr Mut bewiesen hätte, ihre Figuren bei diesem Thema neue Wege betreten zu lassen.

Titelbild

Kristine Bilkau: Halbinsel. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2025.
224 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783630877303

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