Dumme Leser lauern überall

Zwölf blinde Blicke auf Tilman Riemenschneider

Von Nadja ÖhrleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nadja Öhrlein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht nur einen, sondern zwölf "Blicke" will Andreas Nohr dem Würzburger Bildhauer Tilman Riemenschneider (um 1460 bis 1531) schenken. Außerdem verspricht der Autor im barocken Untertitel seines Romans "Riemenschneider" "sieben Zugänge, ein Hauptstück, einen Schluß und zwei Zugaben". Aber zu früh gefreut! Statt auf postmodernen Lesespaß trifft man auf einen sich selbst beweihräuchernden Ich-Erzähler, der seiner bedauernswerten Frau in Briefen seine ach so originellen Erkenntnisse mitteilt. Er hat sich zum Ziel gesetzt, endlich dem wahren Riemenschneider, der Würzburger Künstler-Ikone der Spätgotik, auf die Spur kommen. Dabei kritisiert er die Subjektivität der kunstgeschichtlichen Praktiker aufs Schärfste. Seine eigene Subjektivität weist der Briefe-Schreiber in seiner penetrant rechthaberischen Art meist weit von sich, ermahnt sich sogar zur Objektivität. Herausgekommen ist ein kurioses Druckwerk, dessen Autor wohl die Vorzüge der Fiktionalisierung nutzen wollte, in seinem missionarischen Eifer aber sein Thema - und den Leser - völlig verfehlt.

Nohr, der sich eigentlich nicht die Mühe macht, sich hinter seinem fiktionalen Erzähler zu verstecken, wischt grundsätzliche Erkenntnisse der Kunstgeschichte über den Bildhauer vom Tisch. So postuliert er, dass das erstaunlich Neue bei Riemenschneider - die unbemalte Skulptur ohne die übliche gotische Fassung - die Skulptur angeblich verfremde. Tatsächlich ist sich die Forschung inzwischen einig, dass die Figur für Riemenschneider und seine Zeitgenossen ein tatsächliches Abbild der dargestellten Person sein soll. Die Einfarbigkeit der Skulpturen ist vielmehr als ein neues Stilmittel zu verstehen, da bei der farbigen Fassung in dieser Phase der Spätgotik schon keine Steigerung mehr möglich war. Erwiesen ist auch, dass Riemenschneider parallel dazu die Ausdruckskraft der Gebärden und Gesichter seiner Figuren steigerte, was diese nur noch wirklichkeitsgetreuer aussehen lässt. Gegen alle diese Forschungsergebnisse polemisiert Nohr, nur leider ohne fundierte Argumente.

In seiner überdeutlichen Art meint der Autor, durch Kursivierungen wichtige Passagen noch hervorheben zu müssen - dumme Leser lauern überall. Gleichzeitig verlangt er ihnen mit Mammutsätzen und einer altertümelnden Sprache höchste Konzentration ab. Unfreiwillig kommt auch der Humor nicht zu kurz: so wird Riemenschneider ein "Blick durch den Bauzaun des Lebens" unterstellt, wenn von seinen - nicht überlieferten - kunsttheoretischen Überlegungen die Rede ist. Die an Riemenschneider gerichteten Monologe sind abwegig und dienen nur dazu, die Gegenwart undifferenziert zu kritisieren: Disketten statt Poesiealben, Game-Boys statt "Stadt, Land, Fluss" - was für ein Kulturverfall! Wo Riemenschneider hier hineingehört, bleibt dabei ein Rätsel.

Zwischen den Briefen wird die Lebensgeschichte eines Ehepaares in Rückblicken erzählt. Berührungspunkt beider Geschichten ist die Ausdruckskraft von Gesichtern und die Faszination, die bestimmte Gesichtsausdrücke beim Betrachter hervorrufen können. Um diese These zu illustrieren hat Nohr seinen Ergüssen auch einige Fotos von Riemenschneiders Skulpturen beigefügt. Die Abbildungen sind allerdings von so schlechter drucktechnischer Qualität, dass sie verzichtbar sind. Vielleicht sind die Fotos aber auch ein Zeichen dafür, dass der Autor doch etwas aus der ach so schlechten Fachliteratur gelernt hat: sprich nie über ein Kunstobjekt, das deine Zuhörer nicht sehen können.

Der Autor hat die Chance vertan, die mit unzähligen farbigen Anekdoten behaftete Vita des Volkshelden Riemenschneider zusammen mit fundierten Forschungsergebnissen unters Volk zu bringen. Schreibstil und Inhalt verlangen dem Leser äußerste Selbstbeherrschung ab, um dieses forcierte Opus zu Ende zu lesen. Die meisten werden wohl schon auf den ersten Seiten verzweifeln. Aber dumme Leser lauern ja überall.

Titelbild

Andreas Nohr: Riemenschneider. Zwölf Blicke für ein Gesicht.
Röll Verlag, Dettelbach 1999.
427 Seiten, 17,40 EUR.
ISBN-10: 3897541246

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