Natur, Leidenschaft, Einsamkeit, Suizidalität

Im erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Mathilda“ von Mary Shelley verflechten sich typische Motive der Romantik

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Jahr nach der Veröffentlichung ihres weltberühmten Schauerromans Frankenstein (1818) beendete Mary Wollstonecraft Shelley ihren zweiten Roman, Mathilda. Mehr als hundert Jahre später erst, 1959, erschien er, nachdem die Shelley-Expertin Elizabeth Nitchie das finale Manuskript und Notizen dazu gesichtet hatte, um eine kritische Ausgabe zu erstellen.

Mathilda, die Ich-Erzählerin, berichtet einem Freund, dessen Identität – der junge Gelehrte Woodville – erst im Verlauf des Textes enthüllt wird, über ihr Leben. Sie schreibe jedoch so, als ob sie ihre Zeilen an einen Fremden richte, denn es ergäbe keinen Sinn, wenn nur eine Person ihre Erinnerungen läse. Die Protagonistin macht unmissverständlich klar, dass sie bald sterben wird. Der „Pesthauch des Unglücks“ habe sie „ausgedörrt“ und sie sei froh, dass ihr Leben bald zu Ende gehe.

Ihre Kindheit verbringt Mathilda bei einer älteren Tante, denn ihre Mutter, die große Liebe des Vaters, starb bei ihrer Geburt. Offenbar fühlt sich die Tante von der Kindererziehung überfordert, so dass sie keine Bindung zu dem kleinen Mädchen eingehen kann. Als Mathilda 16 Jahre alt ist, kehrt der Vater zurück. Nach einer intensiven gemeinsamen Zeit des Lernens, Lesens und des Reisens verhält er sich seltsam gegenüber Mathilda – er wird wortkarg und braust schnell auf. Seiner Tochter gibt er mehr und mehr Rätsel auf. Erst im Nachhinein versteht sie, dass er in sie verliebt war und in ihr seine verstorbene Frau und ihre Mutter sah.

Um zu verhindern, seiner Leidenschaft zu erliegen, verlässt der Vater nachts überstürzt das Wohnhaus, fährt ans Meer, stürzt sich in die Fluten und kommt darin um.

Mathilda ist untröstlich, leidet unter Schuldgefühlen und zieht sich in die Einsamkeit zurück. Sie lernt einen jungen Mann namens Woodville kennen, der gerade seine Verlobte verloren hat. Während eines Treffens fordert sie ihn dazu auf, sich mit ihr zu suizidieren. Als er aus ethischen Gründen ablehnt, ist sie so desorientiert, dass sie sich auf ihrem Heimweg durch die Heide verläuft. Nach einer halben Septembernacht im Freien kommt sie nass und unterkühlt zuhause an. Das hohe Fieber, an dem Mathilda danach leidet, wächst sich zu einer „galoppierenden Schwindsucht“ aus, deren letalen Verlauf sie erwartet.

In ihrer Einleitung zur englischen Ausgabe hebt Elizabeth Nitchie hervor, dass von allen Manuskripten, die Mary Shelley hinterlassen habe, nur dieses eine vollständig überliefert sei. Da sich ein in stärkerem Maße „self-revealing work“ kaum finden lasse, müsse Mathilda zuvörderst als Dokument für Mary Shelleys Beziehungen zu ihrem Ehemann Percy Bysshe Shelley und zu ihrem Vater William Godwin gelesen werden. Der Roman sei zwar nicht im engeren Sinne autobiografisch, aber so „highly personal“, dass die drei Hauptcharaktere – Mathilda, der Vater und Woodville – als Schlüsselfiguren zu begreifen seien. Mary Shelley habe geglaubt, dass sie die Parallelen hinreichend verborgen habe und ihren Text veröffentlichen lassen könne. Warum es nicht geschehen sei, darüber könne man nur mutmaßen.

Die zu Lebzeiten nicht erfolgte Publikation liege nicht am Inzest-Motiv, betont der Übersetzer Stefan Weidle. Abgesehen davon, dass Mary Shelley an einer Übersetzung der Tragödie Mirra von Vittorio Alfieri gearbeitet habe – darin geht es um eine Vater-Tochter-Beziehung, das Stück wird in Mathilda erwähnt –, sei das Motiv alles andere als ungewöhnlich. Auch Percy Shelley habe es für sein Versdrama The Cenci herangezogen.

Mathilda demonstriert vor allem, dass Mary Shelley typische Themen und Motive der Romantik rezipiert und verarbeitet hat, gegenüber denen sich die Frage der Autofiktionalität als sekundär erweist beziehungsweise vor allem insofern bedeutungsvoll ist, als die Akteur:innen der Romantik in ihrer Zeit weniger eine literarische Mode oder gar Strömung sahen, sondern sie vielmehr als einen allumfassenden Lebensmodus begrüßten, dem sie sich sowohl hingaben als auch sich im Schreiben davon distanzierten und ihn inszenierten. In diesem Sinne partizipierte Mary Shelley am Diskurs ihrer Epoche. Als die Shelleys 1816 in Chillon, Lord Byron in Cologny, beides Orte am Genfer See, lebten, waren die besten Jahre des Cercle de Coppet um Madame de Staël und Benjamin Constant zwar vorbei, aber die Konversationskultur, der rege intellektuelle Austausch dieser Gruppe, konnten den englischen Romantikern nicht fremd sein. Die hinterlassenen Content-Spuren befeuerten die Diskussionen der Jüngeren und beflügelten die gesamteuropäische Romantik.

Eines ihrer grundlegenden und bekanntesten Merkmale – ausgeprägt n Mathilda – ist es, dass Natur und Zivilisation antinomisch zueinander konstruiert werden. Dabei kommt der möglichst unberührten Natur das Primat zu. Nach einem Aufenthalt in London findet Mathilda fernab der Gesellschaft die perfekte Kulisse für ihre Trauer und ihren seelischen Ausnahmezustand. Obgleich die Passagen anthropomorphisierter Natur nicht so häufig und intensiv wie in Frankenstein vorkommen, sind sie nichtsdestoweniger an Wendepunkten des Romans positioniert – etwa, als Mathilda sich von ihrem Leben verabschiedet:

Denn nichts an dir, unserer Urmutter, wird sich ändern, wenn ich nicht mehr bin. Ich habe dich geliebt, in meinen Tagen des Glücks wie des Kummers habe ich deine Einsamkeiten mit wilden Fantasien meiner eigenen Schöpfung bevölkert. Die Wälder, Seen und Berge, die ich geliebt habe, sind für mich mit Tausenden von Assoziationen verknüpft. Und du, o Sonne, hast auf viele Einbildungen, die allein in meiner Seele lebendig wurden, herabgelächelt und sie befördert, sie werden mit mir sterben. Deine Einöden, geliebter Landstrich, deine Bäume und Bäche werden immer sein, von deinen Winden bewegt oder reglos unter dem heißen Mittag, wie ich wie gefühlt habe, auch dann noch, wenn alle meine Träume, die dich oft seltsam ausgestaltet haben, vergangen sein werden.

Die Ansprache an die „Urmutter“, an die Erde, ist hochgradig ambivalent: zum einen drängen sich in ihr genuin romantische Qualitäten – das Präreflexive, Spontane, Ungezähmte der Affektwelt –, passgenau zur Kulisse der Natur und ihrer Personifikation. Zum anderen bedient sich Mary Shelley einer rhetorisch überformten Sprache, deren Pathos und Ratio das Eruptive der Emotio minimiert. Zitate von meist englischen oder italienischen Klassikern, die Weidle aus deutschen Ausgaben in den Text einfügt (immerhin in den Fußnoten im Original), tun ein Übriges, um das Leiden an der Existenz als partielles Artefakt zu entlarven. Außerdem parallelisiert Mathilda die Etappen ihres Schmerzes mit den Akten einer Tragödie.

In ihrer eloquenten Darstellung der überbordenden Gefühlswelt spielt Mary Shelley mit Nähe im Sinne von Kongruenz und Echtheit einerseits und mit Distanz im Sinne von Artifizialität und poetischer Ziselierung andererseits.

Das rekurrente Motiv der Opposition von Natur und Kultur erweitert sich um das Motiv des homo errans, des suchenden, herumirrenden Menschen: Mathildas Vater, als er in der Trauer um seine Ehefrau quer durch Europa reist, Mathilda, als sie mit dem Diener nach ihrem Vater sucht – die Intensität dieser Beschreibungen erinnert an die vergebliche Identitäts-Queste der Kreatur des Doktor Frankenstein: geeint sind alle drei in ihrem Paria-Dasein, darin, sich vom Rest der Welt unverstanden zu fühlen. Auf diese Weise skizziert Mary Shelley Psychogramme der Separierten und Soziophoben, die sich nach der Einsamkeit verzehren, um die explosive Wucht ihrer Emotionalität an einem locus conclusus zu lindern. Mathilda sehnt sich nach einem „einzelnen Haus, ohne Nachbarn auf einer weiten Ebene“. Sie wolle lange Wanderungen unternehmen, „ohne durch den Anblick“ anderer Menschen „belästigt zu werden“. Obschon sie keine Misanthropin sei, spüre sie, „dass das sanfte Strömen“ ihrer Gefühle sich nur im Alleinsein zeigen könne.

Nach zwei Jahren der Einsamkeit – dieser nun überdrüssig, ihr „Lebensnerv“ sei gerissen – trifft Mathilda bei einem Spaziergang in der Heide Woodville, „Sohn eines armen Landpfarrers“, der „eine klassische Schulbildung genossen“ hatte. Diese Figur sei, so Elizabeth Nitchie, ein idealisierter Percy Shelley. Die hymnischen Worte im Roman belegen es: Woodville besitze einen vortrefflichen Geist, den „kein Unrat“ beeinträchtige, und einen Verstand, der „keinen Fehler“ zulasse. Etwas weltfern ist er wohl, denn er sei „unfähig, die Macht von Selbstsucht und Laster, welche in der Welt regierte, zu begreifen“. Vor dem Hintergrund seines unerschütterlichen Glaubens an die „Göttlichkeit des Genies“ und an die „Hoffnung auf den Sieg des Guten“ verurteilt Woodville den Doppelsuizid, den Mathilda mit einer Überdosis Laudanum plant. Er wisse, dass er nach einem Suizid bei anderen „einen tödlichen Stachel“ hinterließe.

Damit reproduziert Woodville – möglicherweise als Sprachrohr Percy Shelleys – in manchen Punkten die ethisch-christliche Argumentationsweise, die seit Goethes Leiden des jungen Werther in zahlreichen Abhandlungen zum Suizid dominierte. Nachdem Heinrich von Kleist am 21. November 1811 zuerst seine Freundin Henriette Vogel und danach sich selbst erschossen hatte, nahmen die Diskussionen um die Legitimation, selbst Hand an sich zu legen, erneut an Fahrt auf. In der Familie Wollstonecraft-Shelley war das Thema ohnehin virulent: Marys Halbschwester nahm sich das Leben und nach dem Tod ihres dreijährigen Sohnes litt Mary selbst offenbar unter Depressionen und „Todessehnsucht“, bemerkt Stefan Weidle.

Beeinflusst von und gleichermaßen im Abseits der autobiografischen Matrix ist Mathilda als „femme victime“ gezeichnet, als Opfer der Unbilden ihres Lebens. Sie erweist sich als Typus der „femme fragile“, die nicht mehr in der Lage ist, salutogenetische Impulse für sich selbst zu setzen.

Innerfiktional schlägt sich die Verquickung von Authentizität und Inszenierung in der Woodville untergeschobenen Reaktion auf Mathildas Leiden nieder: für ihn sei sie „Posse und Schauspiel“; er entwerfe vielleicht ein Epos, in dem sie eine Rolle spiele. Hier spiegeln sich Auseinandersetzungen im Hause Shelley vielleicht genauso wider wie konfligierende Stimmen in der Autorin selbst.

Dass Leser:innen des 21. Jahrhunderts die Art und Weise, wie Mathilda ihre Affektwelt beschreibt, von vornherein als wolkig-abstrakte und vor Pathos triefende Konstrukte etikettieren könnten, braucht nicht weiter diskutiert zu werden. Sich darauf einzulassen, den Roman in zeitgenössischen Kontexten zu verorten, erleichtert das Verstehen im Allgemeinen und die Überwindung der historischen Distanz im Besonderen.

In erster Linie bietet Mathilda ein wertvolles Beispiel für die Adaption, Modellierung und Tradierung typischer Motive, nahezu Topoi, der Romantik. Der Roman ist kein großer Wurf, so wie Frankenstein, lässt sich aber als wertvolle Ergänzung dazu lesen.

Titelbild

Mary Shelley: Mathilda. Roman.
aus dem Englischen von Stefan Weidle.
Pendragon Verlag, Bielefeld 2025.
196 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783865328700

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch