Rohrschach-Tests

Kafka und seine Interpreten

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Wer war Franz Kafka? Gegenwärtig ist er uns nur noch in Form einiger Fotos und vor allem als Schrift, als Schrift von ihm und als Schrift über ihn, wobei die Masse dessen, was über ihn geschrieben wurde, die relativ kleine Menge dessen, was er selbst geschrieben hat, um ein Vielfaches überragt. Kafka, so befand vor geraumer Zeit die amerikanische Kritikerin Susan Sontag in ihrem berühmten Essay "Against Interpretation", sei mittlerweile "zum Opfer einer Massenvergewaltigung" geworden, der Vergewaltigung durch eine Armee von Interpreten. Was seinerzeit, Mitte der sechziger Jahre, der Kafka-Forscher Heinz Politzer über die Interpreten Kafkas sagte, trifft noch heute weitgehend zu: "Kafkas Gleichnisse sind so vielschichtig wie die Parabeln der Bibel. Ungleich den biblischen Parabeln jedoch sind Kafkas Gleichnisse auch noch vieldeutig. Im Grunde werden sie ebenso viele Deutungen wie Leser finden. Die Offenheit ihrer Form erlaubt dem Leser eine totale Projektion seines eigenen Dilemmas auf die Seiten Franz Kafkas. Diese Parabeln sind 'Rorschach-Tests' der Literatur und ihre Deutung sagt mehr über den Charakter ihrer Deuter als über das Wesen ihres Schöpfers."

Kafkas Schrift bleibt unveränderlich, die Meinungen über sie wechseln, und zwar nicht zuletzt mit dem Wechsel der intellektuellen Moden, denen die Nachgeborenen huldigen. "Er wird eingeordnet in eine etablierte Denkrichtung, anstatt daß man bei dem beharrte, was die Einordnung erschwert", kritisierte Adorno in seinen "Aufzeichnungen zu Kafka". Jede Zeit, jede Generation, jede Gruppierung im intellektuellen Kräftefeld hatte und hat ihren eigenen Kafka: einen, der wie Kierkegaard philosophiert, wie Heidegger denkt, wie der junge Marx die Entfremdung deskribiert, wie Freud den ödipalen Konflikt psychoanalysiert, wie Foucault die Mechanismen der Macht durchschaut oder wie Derrida die metaphysischen Sinngebungen dekonstruiert. Literaturwissenschaftler stehen in der Kulturindustrie nicht weniger unter Innovations- und Profilierungsdruck als die Fahrzeugkonstrukteure in der Automobilindustrie. Alle fünf Jahre ein neuer Kafka. Der Wechsel der jeweils zeitgemäßen Meinungen und Begriffe in der Kafka-Forschung hat dabei dem Umgang mit den Texten nicht unbedingt geschadet. Zwar werden die gleichen Sachverhalte oft nur mit anderen Etiketten versehen (die eine Weile den Vorteil haben, noch unverbraucht zu wirken), doch manchmal ergeben sich dabei wirklich neue, überraschende Aspekte. Und oft stehen die Autoritäten, auf die sich die Interpreten berufen, mit Kafka in einem geschichtlichen Zusammenhang, so daß die Berufungen auf sie historisch durchaus gerechtfertigt werden können. Kafka hat sich, wie so viele seiner Generation, mit Kierkegaard intensiv auseinandergesetzt; er hat in einer Epoche geschrieben, in die auch die Entstehung der Existenzphilosophie Heideggers fällt; er ist zusammen mit seinen expressionistischen Zeitgenossen von der Psychoanalyse angeregt worden; er war wie fast alle Autoren dieser Jahre mit den Schriften Nietzsches vertraut, die wiederum zu den Quellen sowohl von Michel Foucaults Machttheorie als auch von Jacques Derridas Dekonstruktionen abendländischer Metaphysik gehören.

Dennoch ist der Überdruss an der Masse der Kafka-Interpretationen häufig so groß wie die Faszination, die Kafkas Texte selbst nach wie vor ausüben. Der Überdruss richtet sich freilich immer nur gegen die Interpretationen anderer, das Begehren nach eigener Deutung blockiert er kaum. Es ist heute üblich, über die Menge der Kafka-Exegesen zu stöhnen und ihnen dann die eigene Exegese hinzuzufügen; es gehört zum allgemeinen Brauch, die Vergeblichkeit aller Kafka-Deutungen zu beschwören, um dann doch eine weitere vorzubringen - wobei man häufig beteuert, man liefere keine "Deutung". Die Kafka-Forschung mag einem zuweilen lästig sein, weil sie den gleichsam naiven Zugang zum Werk versperrt; dennoch hat sie vielfach Nützliches, zum Teil Hervorragendes geleistet. Sie lässt sich nicht ohne Nachteile einfach ignorieren. Sie ist in ihren Bemühungen um diesen Autor in den letzten Jahrzehnten nicht bloß auf der Stelle getreten, sondern hat Zusammenhänge (oder auch Brüche) innerhalb von Kafkas Werk sowie zwischen diesem und diversen Kontexten aufgezeigt, von deren Kenntnis die Lektüre zweifellos profitieren kann.