Travestie der analytischen Nabelschau

Über Italo Svevos neu übersetztes Meisterwerk "Zenos Gewissen"

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Meister ist Zeno Cosini nur im Fassen guter Vorsätze. Die er schon im Nachsatz wieder fallen lässt: "Da es mir nun einmal schadet, werde ich nie mehr rauchen, aber zuvor will ich es ein letztes Mal tun." Wichtiger als die Realisierung seiner Besserungsabsichten ist ihm die großartige Gebärde. Abwechselnd berauscht er sich am moralischen Sieg über sich selbst, an seinen Gewissensqualen und an der Lust an der Übertretung. "Ich finde, die Zigarette hat einen intensiveren Geschmack, wenn es die letzte ist. [...] Die letzte bezieht ihre Würze aus dem Gefühl des Sieges über sich selbst", lässt Italo Svevo den Ich-Erzähler seines 1923 erschienenen Romans "La Coscienza di Zeno" ausschwatzen. Was Wunder, dass Zeno in seinem Leben nur "letzte Zigaretten" raucht.

Über mehr als 600 genialkomische Seiten ergießen sich Zenos Gewissenserforschungen, Geständnisse und Reuebeteuerungen. Ein drolliges Gemisch aus moralischem Exhibitionismus und Masochismus, aus Selbstrechtfertigung und pessimistischer Einsicht. Zum praktischen Leben unfähig, jedoch aller finanziellen Sorgen ledig, zeigt der von seinem klugen reichen Vater zur Untätigkeit verurteilte Frühpensionär und Möchtegernkaufmann Kreativität nur bei der Pflege seiner Laster, Ticks und Krankheiten. Was, die menschliche Fortbewegung wird vom reibungslosen Zusammenspiel von 54 Muskeln ermöglicht? Prompt kann der hypochondrische Neurotiker, ähnlich jenem Tausendfüßler, nur noch hinkend gehen.

Eine gefundenes Fressen für den Psychoanalytiker? Wohl eher sein Albtraum. Zenos eigentlich im Dienst der Therapie stehende Autobiographie wird vom frustrierten Arzt "aus Rache" publiziert. Damit dürfte "Dr. S." ein Opfer seiner Gegenübertragungen geworden sein. Andernfalls hätte er bemerkt, dass Zenos Lebensbeichte auch eine Travestie der analytischen Nabelschau darstellt. Gleich zu Beginn der Therapie studiert der Analysand als Erstes eine Freud-Einführung. Dergestalt präpariert, kann er sich im Folgenden über seinen naiven Analytiker prächtig amüsieren, den er - wie übrigens auch manch psychoanalytischen Interpreten des Romans - gekonnt an der Nase herumführt.

Von Niklas Luhmann stammt die Beobachtung, dass Biographien nur eine Kette von Zufällen sind, die sich zu etwas organisieren, das dann allmählich weniger beweglich wird. Eine unannehmbare Vorstellung für Analytiker. Für sie verläuft ein Leben mehr nach Art eines chiffrierten Entwicklungsromans, der dem Seelendetektiv mit jedem weiteren Kapitel mehr vom Unbewussten des Protagonisten verrät. Was aber, wenn sich die entscheidenden Weichenstellungen eines Lebens aufgrund von Fehlleistungen vollziehen, die sich später als glückliche Fügungen erweisen? Alles nur Zufall oder doch das Wirken unbewussten Begehrens?

"Das Leben ist weder hässlich noch schön, es ist originell", lautet Zenos Motto. Seine wohl gravierendste Fehlleistung, eine Persiflage auf Freuds "Motiv der Kästchenwahl", unterläuft ihm während einer spiritistischen Sitzung mit den drei Töchtern der Familie Malfenti. Im dunklen Zimmer füßelt er irrtümlich nicht mit dem Bein seiner Wunschkandidatin, der schönen Ada, und auch nicht mit dem der hübschen Alberta, sondern mit dem der schielenden Augusta. Diese nutzt die sich ihr unverhofft bietende Gelegenheit, und da der zaudernde Zeno nur einen moralischen Imperativ kennt, nämlich den, niemanden zu enttäuschen, entsteht aus dem Missgeschick Zenos vergleichsweise glücklich verlaufende Ehe: Die "Dritte" ist eben auch hier die "richtige"; von Seitensprüngen einmal abgesehen. Aber Zenos Verhältnis mit einer jungen Sängerin bereichert sein Innenleben nur um neue, lustvolle Qualen bereitende Gewissensbisse.

Svevos opus magnum, bei Zweitausendeins jetzt in einer liebevoll gestalteten Neuausgabe erschienen, hat endlich die sorgsame Übersetzung gefunden, die ihm zusteht. Anders als die vor 70 Jahren erschienene, stark glättende deutsche Erstausgabe ist es Barbara Kleiner gelungen, die kalauernde Ironie Svevos, die aus seiner Verknüpfung disparater Sprachregister entsteht, adäquat ins Deutsche zu übertragen. Svevos Witz funktioniert vor allem vermittels der permanenten Desillusionierung des durch Doppeldeutigkeiten aufs falsche, nämlich idealistische Verstehensgleis gelockten Lesers. Nicht nur witzig, sondern auch beängstigend aktuell sind Svevos Sprachspiele mit der hochinfektiösen Semantik von Börsenspekulation und Aktienfieber, die damals wie heute die psychischen Systeme durchtränkt. Welchen "Wert" hat etwa eine Frau? Sie kann "zu einer bestimmten Morgenstunde einen hohen Wert haben, zu Mittag nicht den geringsten, um am Nachmittag das Doppelte wert zu sein wie am Morgen, und am Abend geradezu mit einem negativen Wert abzuschließen. Ich erklärte den Begriff des negativen Werts: Diesen Wert hatte eine Frau, wenn ein Mann sich ausrechnete, welche Summe er bereit war zu zahlen, um sie wirklich ganz weit weg von sich zu schicken."

Italo Svevo, der mit Musil, Kafka und Canetti zu den großen kakanischen Zeitdiagnostikern der Moderne gehörende Austro-Italiener, soll nach Zeugnis seiner Tochter beim Schreiben des Romans "immer vor sich hin gekichert und nicht selten auch laut gelacht" haben. Seinem Leser ergeht's nicht anders.

Titelbild

Italo Svevo: Zenos Gewissen. Roman. Mit einem Essay von Wilhelm Genazino.
Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Kleiner unter Mitwirkung von Edgar Sallager.
Zweitausendeins, Frankfurt a. M. 2000.
624 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 386150345X

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