Lelles Angst vor Monstern

Alexa Hennig von Langes erstes Kinderbuch

Von Bettina AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bettina Albrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lelle erzählt 25 Episoden aus ihrem aufregenden Leben - aus dem Leben einer Vierjährigen. Jeder, dem der Name Alexa Hennig von Lange etwas sagt, kennt Lelle schon. Als junge Frau war sie in "Relax", Hennig von Langes 1997 erschienenen Debut, schon ziemlich am Ende. Und in dem für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2002 nominierten Roman "Ich habe einfach Glück" durchlitten wir mit ihr die Pubertät. Nun also begibt sich Hennig von Lange ganz an den Anfang von Lelles Leben - und schreibt damit ihre Geschichte zu Ende.

Lelle mag, was alle kleinen Kinder mögen: Sesamstraße gucken, Gummibärchen essen und im Sandkasten Kuchen backen. Oder Eierkuchen mit Marmelade und Zucker, und in Mamas und Papas Büro selbstgemalte Bilder verkaufen. Aber auch das rosa Mäppchen, das so wunderbar nach neuem Plastik duftet, und die Barbie-Puppe, die Mama gar nicht leiden kann. Lelle ist so glücklich wie in ihrem Leben vielleicht nie mehr. Und wer ihr dabei zuschaut, erinnert sich, wie toll es früher war, rumzuhampeln, sich auf dem Teppich zu wälzen und Späße zu machen.

Aber es gibt auch eine ganze Menge Sachen, vor denen sich Lelle ganz schrecklich fürchten muss. Dann ist sie traurig wie noch nie. Das Leben einer Vierjährigen kann nämlich voller Gefahren stecken. Da wären zum Beispiel die fremden Frauen, die einen mitnehmen, obwohl man doch schon längst eine Familie hat. Da ist aber leider nichts zu machen, weil Lelle ja schon das Kind von Mama ist. Oder Regenwürmer - die sind nämlich "widerlich und unnormal, weil die weiterleben, egal, wie oft man die mit dem Spaten zerhackt". Oder der blaue Vogel von Ingrids Bruder, Lenchen, der das Schrecklichste ist, was Lelle kennt.

Aber am allergefährlichsten sind die Fresser-Monster. Die beißen Kindern nachts nämlich furchtbar gern die Füße ab. Deshalb muss Lelle das Kinderzimmer gründlichst untersuchen, bevor sie und ihre Schwester sich abends ins Bett legen. Dazu braucht sie viel Ruhe, sonst kommt sie ganz durcheinander, und überhaupt ist es nicht einfach, die Monster zu finden: "Die sind nämlich durchsichtig. Nur ihre Zähne nicht.,Die sind groß und dreckig!', sagt meine Schwester." Doch Mama kümmert sich da nicht viel drum. Dumme Mama! Die wird ganz schön weinen, wenn Lelle eines Tages wie ein abgenagtes Hühnchen auf dem Boden liegt. Mama hat einfach abgewaschen, als die Fresser-Monster in der Nacht ins Zimmer kamen: "Ich sitze auf der Bettkante und gucke böse, als Mama mir meinen blauen Schlafanzug über den Kopf zieht. Der hat orangene Bäume und grüne Kühe vorne drauf. Richtig schön. Aber das ist mir heute egal. Was bringt ein Schlafanzug mit orangenen Bäumen und grünen Kühen vorn drauf, wenn man einfach aufgefressen wird?"

Der Ernst des Lebens aber beginnt mit Lelles erster Zahnlücke erst richtig. Vergeblich hat Lelle gehofft, dass der Zahn wieder festwächst. Mama sagt, die Zahnlücke ist ein Zeichen von Reife. Also muss Lelle in die Schule. Aber von dem, was ihr tagtäglich so passiert und was sie bei den Erwachsenen aufschnappt, lernt sie sowieso viel mehr. Alice hat Lelles beste Freundin gemopst. Und Opa ist tot. Die unordentlichen Ränder von seinen Briefmarken darf man nicht mit der Bastelschere abschneiden. Und Abdichtungsgummis nicht in die Nase stopfen.

Manchmal ist es fast schon unheimlich, wie überzeugend es Hennig von Lange gelingt, die Welt mit den Augen einer Vierjährigen zu betrachten - genauso lebensecht, wie Lelle uns schon in "Ich habe einfach Glück" als 15-Jährige gegenüberstand. Vielleicht gelingt Hennig von Lange es bei "Lelle" aber besonders gut, weil ihre eigene Tochter gerade in Lelles Alter ist. Einige Stilbrüche gibt es trotzdem: Kann ein Kleinkind tatsächlich schon etwas mit Begriffen wie "Terpentin", "Lidschatten" oder "Abdichtungsgummi" anfangen? Das stört aber nicht weiter.

Hennig von Lange hat mit dieser Erzählung einen Kindheitstraum wahr gemacht. Während die im Kindergarten oder -zimmer entstandenen Kunstwerke normalsterblicher Menschen in aller Regel nur Verwandte und Bekannte in Verzückung versetzen, können die Filzstift-auf-Malpappe-Zeichnungen der kleinen Alexa nun von jedermann bestaunt werden - als Illustrationen von Lelles Erzählung. Ein Kinderbuch im eigentlichen Sinne ist "Lelle" nicht. Warum sollten Kinder sich auch die Bilder, die ein anderes Kind gemalt hat, anschauen, wo sie selber doch viel toller malen können? Und warum sollten sie sich Episoden aus einer Welt anhören, die ihr Alltag ist? "Lelle" ist ein Kinderbuch für Kinder, die schon erwachsen sind. Für die, die "Relax" kennen und wissen wollen, wie eine Geschichte anfängt, die ganz dicht am Abgrund endet. Vor allem aber ist "Lelle" ein "Genau-so-wars"-Buch für alle, die sich auf eine (leider recht kurze) Reise in die eigene Kindheit begeben wollen. Und weil auf dem Umschlag von "Lelle" der Name Alexa Hennig von Lange steht, ist es auf einmal auch für junge Erwachsene nicht mehr peinlich, sondern Kult ein Kinderbuch zu lesen. Was viele bestimmt schon früher gerne einmal wieder getan hätten.

Titelbild

Alexa Hennig von Lange: Lelle. Kinderbuch.
Rogner & Bernhard Verlag, Hamburg 2002.
80 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3807701249

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch