Verwischte Spuren der Väter

Zu Peter Schünemanns Essays über Lessing, Goethe, Freud, Thomas Mann und Gottfried Benn

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Peter Schünemann, Jahrgang 1930, lebt als freier Schriftsteller in Norddeutschland. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehören Monographien über Gottfried Benn, Georg Heym, Georg Trakl und Robert Walser. Außerdem schreibt Schünemann Erzählungen, oft mit literarhistorischem Hintergrund, und ist Herausgeber mehrerer Anthologien. In den fünf Texten, die der Autor hier in einem schmalen Band zusammenfasst, versucht er zu zeigen, welche Spur die Väter Lessings, Goethes, Freuds, Thomas Manns und Gottfried Benns in den Werken ihrer Söhne hinterlassen haben. Dabei verfährt Schünemann nicht, wie man bei einem solchen Vorhaben erwarten könnte, hauptsächlich individualpsychologisch, und er verfolgt auch keinen systemischen Ansatz, etwa mit dem Ziel, innerfamiliäre Zusammenhänge zu erhellen. In seinen Essays erscheinen die Väter vielmehr in erster Linie als Repräsentanten einer Vaterwelt, deren metaphysisch-theologische Grundstruktur sich den Söhnen eingeprägt hat. Die Söhne wiederum lebten ihr Leben in einem Spannungsfeld, dessen Pole das Aufbegehren gegen die väterliche Macht einerseits, andererseits die Sehnsucht nach Übereinstimmung mit dem geliebten Vater waren.

Am überzeugendsten gerät Schünemann der Essay über Gottfried Benn. Dieser erklärte als Sechsundvierzigjähriger, seine Väter seien "über hundert Jahre zurück evangelische Geistliche", weshalb "das Religiöse" seine Jugend ganz ausschließlich durchdrungen habe ("Dichterglaube", 1931). Die Atmosphäre seines Vaterhauses, die er sein Leben lang nicht verloren habe, fasst Benn in demselben Text in einer Formulierung zusammen, die Schünemanns Essay als Leitmotiv durchzieht: "Fanatismus zur Transzendenz". Mit seinem Zorn auf den religiösen Vater flüchtete der Sohn in die klinische Wissenschaft. Mit klug ausgewählten Zitaten aus Benns Werken und Briefen gelingt es Schünemann, auf wenigen Seiten zu zeigen, wie Leben und Werk des Dichters immer wieder von zwei mächtigen innerpsychischen Gewalten erschüttert wurden: vom Streben nach kalter analytischer Präzision auf der einen Seite, vom "Fanatismus zur Transzendenz" mit schließlich geradezu maniakalischen Zügen auf der anderen Seite.

Der Essay ist bekanntlich eine offene Form, die dem Autor große Freiheiten lässt und ihn der Zwänge des akademischen Diskurses enthebt. Schünemanns Essay über Gottfried Benn nutzt die Möglichkeiten der Textsorte auf überzeugende Weise: ein origineller Gedanke, präzise formuliert, souverän und klar zu Ende geführt, ohne den auch subjektiven Charakter der Ausführungen zu verbergen, aber auch ohne die Toleranz des Lesers für das Bedürfnis des Autors nach intellektueller Selbstdarstellung über die Maßen zu strapazieren.

Die übrigen Texte des Bandes bleiben hinter den Maßstäben zurück, die der Benn-Essay setzt. So geht beispielsweise der Essay über Lessing zwar von der sehr konkreten Vermutung aus, der Tod des Vaters habe bei Lessing einem Erkenntnisschub zum Durchbruch verholfen, der mit Abschied und Ablösung vom Vaterbild konvergiert. Doch schon eine Seite weiter lässt der Autor diesen Faden fallen und nimmt ihn nur noch sehr sporadisch wieder auf. Statt dessen hängt er seinen Gedanken und Spekulationen über ideengeschichtliche und intertextuelle Zusammenhänge nach, demonstriert seine eindrucksvolle Belesenheit, setzt dabei aber unausgesprochen einen Leser voraus, dem die Namen und Texte der Aufklärer und Reformatoren ebenso präsent sind wie ihm selbst. Die 'Spur des Vaters' verliert sich schließlich am Ende in einem Bild, dessen Sinn und dessen Zusammenhang mit dem Thema wohl nur noch der Autor selbst zu erkennen vermag: "Lessing, noch im Tiefschatten des Protestantismus, der deutscher Aufklärung vollends den Weg zu verlegen drohte, hat gleichwohl mit dem beredten Schweigen, von dem seine Fragesätze künden, auch "dem ungläubigen Juden" Freud den Schlüssel weitergereicht, mit dem er, freilich ebenso skeptisch wie der Ahn, und auf dem gleichen Weg des erinnernden Eingedenkens, die schmale Pforte ins Helle der Menschenvernunft aufschloss, an der am Ende, und aus sehr irdischen Gründen, in der Weisheit talmudischer Denkweise, zu zweifeln ihn ein langes Leben gelehrt hatte."

Auch in seinen übrigen Essays versucht Schünemann häufig, Synthesen herbeizuführen, indem er mehrere Metaphern oder Bilder ineinander fügt. Im Zusammenwirken mit anderen stilistischen Eigenheiten: sperrigen Parenthesen, überflüssigen Reihungen, Parallelismen, mehrfachen Attribuierungen, führt die Tendenz zur Metaphorisierung zu einer 'Poetisierung' des Themas, wodurch sich die Texte fast zwangsläufig von ihrem meist erfreulich klar definierten Ausgangspunkt entfernen. So manche Passage bleibt deshalb unverständlich, weil sie syntaktisch und inhaltlich überladen ist. Was will uns der Autor etwa mit dem folgenden Abschnitt aus dem Thomas-Mann-Essay sagen: "Im Faustus wird, ganz unbewusst, an einer entscheidenden Stelle diese Trauer noch einmal aufgenommen. Leverkühns Apokalipsis cum figuris,(sic!( wird für den in der Väterwelt verharrenden Freund Serenus Zeitblom zum Entsetzensbild. Gleichsam bewusstlos hat Adorno, der eigentliche Compositeur des Apokalipsis-Oratoriums, zwar die Zwölfton-Technik Schönbergs zitiert - die Musik aber spiegelt, oszillierend zwischen der vierten und der sechsten Symphonie, das Werk Gustav Mahlers. So erhält sich, nur in der Seelentiefe vernommen, in diesem Werk eine alte musikalische Vaterfigur, der er in der Venedig-Novelle schon ein Denkmal gesetzt hatte. Verdankt sich gar, ihrer eingedenk, das 'hohe g eines Cellos, das letzte Wort... der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht' - vor dem Schweigen, der Nacht? Und ist nicht damit die Figur des Hermes Psychopompos, Seelenführer ins jenseitige tröstliche Licht, aufgegangen in die Sprache der Musik?'"

Von den stilistischen Merkwürdigkeiten abgesehen, scheitern Schünemanns Essays vor allem an der Neigung des Autors, das Vaterthema immer wieder zu entgrenzen und zu ästhetisieren, wissenschaftliche Beweisführung, subjektive Assoziationen und Spekulationen zu vermischen und mit Demonstrationen seiner Belesenheit anzureichern. Was auf diese Weise entsteht, eignet sich als Festvortrag für literarische Gesellschaften. Der Untertitel "Fünf Essays" weckte andere Erwartungen und hat sie - mit Ausnahme des Textes über Gottfried Benn - enttäuscht.

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Peter Schünemann: Spur des Vaters.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2001.
71 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-10: 3895282332

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