Alltagsfrust und Kleinbürgertum

Wilhelm Genazinos Entwicklungsroman "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman"

Von Anne K. BetzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne K. Betz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zur Leipziger Buchmesse 2003 erscheint Genazinos neuer Roman "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman", der in der Tradition seiner Erzählungen "Ein Regenschirm für einen Tag" sowie der "Abschaffel"-Trilogie steht: Wieder ist der namenlose Held eine gesellschaftliche Randfigur und aufmerksamer Beobachter scheinbarer Belanglosigkeiten. Zu Recht lenkte das "Literarische Quartett" die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf die ruhigen und dennoch erfrischenden Alltagsgeschichten des in Frankfurt lebenden Autors, dessen Protagonisten durch die Welt der Angestellten und Lokalereignisse stolpern und dabei versuchen, ihren eigenen Platz zu finden oder zumindest zu definieren. Zu Ehren seines Werkes ist ihm soeben der "Kunstpreis Berlin" der "Jubiläumsstiftung 1848/1948 (Abteilung Literatur)" verliehen worden.

Auch die Hauptperson von "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman", der 17-jährige Herr Weigand, dessen Vorname nirgendwo ausgesprochen wird, will schreiben, "hauptberuflich, und zwar sofort. Wie ich das anstellen sollte, wusste ich freilich nicht". So schreibt der Gymnasiast kleine Artikel, die er wahllos an Zeitungen und Illustrierte schickt. Manchmal wird sogar etwas genommen. Als er ohne Abschluss von der Schule fliegt, lässt er sich widerspruchslos von der Mutter zu ebenso wahllosen Vorstellungsgesprächen schleppen, in denen er den Mund nicht aufmacht. Schließlich landet er als Lehrling in einem Speditionsunternehmen, wo er eher als billiger Lagerarbeiter missbraucht statt ausgebildet wird. Der junge Weigand wehrt sich nicht, schweift gedanklich ab und beobachtet zum Ausgleich seine Umgebung und seine Mitmenschen. Kleine Bilder und Szenen, die er im Vorübergehen registriert, das Ersinnen und (Er-)Finden beeindruckender Sätze und Wörter hilft ihm über den Alltagsfrust hinweg, ist seine Überlebenstechnik. Aber was ihn an diesen fasziniert, kann er nicht benennen und deshalb nicht zu Papier bringen. So wandelt er auf seiner ständigen Suche voran, lässt sich von den Ereignissen leiten. Das Schicksal führt ihm zum lokalen Tagesanzeiger, der ihn aufgrund seiner bereits erschienenen Artikel und seines rasanten schriftlichen Arbeitsleistung als Feierabendreporter einstellt. So führt der junge Mann fortan ein Doppelleben, tagsüber arbeitet er stumpf und inhaltslos in der Spedition, abends geht er auf Termine, zu denen ihn das Lokalblatt schickt, und nachts schreibt er Artikel.

Der Leser begleitet diesen jungen, schweigsamen und in Reflexionen über sich und seine Umwelt versunkenen Menschen auf seinem Weg von der Fremd- in die Selbstbestimmung, vorbei an den Stationen, die jeder Heranwachsende hinter sich bringen muss: langsame Abkapselung von den Eltern und ihrem "Gerümpel" von nicht vollzogener Scheidung, gegenseitiger Abnutzung und schließlich erfolgter Flucht in die Stille, erste sexuelle Erfahrungen und Wünsche mit und ohne Bedeutung, das Gewinnen der Stärke, sich aus einer stagnierenden Beziehung lösen zu können und - am wichtigsten - die langsame Bewusstwerdung dessen, was man im Leben eigentlich erreichen will.

Genazino zeichnet mit wenigen Wörtern und Beobachtungen ein feinfühliges Bild nicht nur der Hauptperson, sondern auch der Menschen der späten Sechziger, die sie umgeben: Den namenlosen Eltern, seiner Freundin Gudrun, deren zukünftige Ehe mit ihm beinahe vorweggenommen wird, die unglückliche Reporterin Linda, an der er mehr als sachliches Interesse entwickelt, das er sonst für seine Mitmenschen nur übrig hat, dem Redakteur Herrdegen, den er bewundert und ihm etwas wie ein Mentor wird sowie all den Personen, die seine Angestelltenwelt auf der einen und die der Journalisten auf der anderen Seite bevölkern: Sekretärinnen, Lagerarbeiter, Kaufhausgeschäftsführer, Plattenstars, hochmütige Intellektuelle und Literaten in spe, Reporter, Bastler, Kinder und noch viele Zufallsbegegnungen mehr. So baut sich allmählich ein Abbild des kleinbürgerlichen Alltagslebens auf, an dem der Erzähler so leidet und das er zu durchschauen versucht. Durch all die kleinen Misserfolge und Enttäuschungen des Lebens all dieser Figuren, bekommt dieses Buch einen melancholischen Unterton, lädt zum Mit-verzweifeln ein, lässt den Leser genau fühlen, was der junge Held fühlt, und lässt ihm gleichwohl Raum zur Kritik. "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman" bietet viel Stoff und Raum zur Diskussion und Interpretation, zum Beispiel den Protagonisten und seinen Literaturbegriff, die Literatur im allgemeinen und in den Unterschieden zum Journalismus, die moderne Komikindustrie und noch vieles mehr.

Titelbild

Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
160 Seiten, 15,90 EUR.
ISBN-10: 3446202692

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