Schwester, für mich bist Du wie Sahnetorte

Barbara Kirchners und Dietmar Daths Roman "Schwester Mitternacht"

Von Johannes SpringerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Springer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Will man behaupten, dass ein Film wie Matrix unterschwellig die Aneignung moderner Medientheorien wie der Jean Baudrillards betreibt und durch die Wissensformationen postmoderner Philosophie gespeist wird, so darf man ebenso konstatieren, dass die andere Bildung, die eher naturwissenschaftlich-informationstechnisch markierte, das eigentliche Zentrum des fabelhaften Romans "Schwester Mitternacht" des Autorenteams Barbara Kirchner und Dietmar Dath bildet. Das wunderbare an beiden Ausdrucksformen ist, dass es hier keine Rezeptionsbeschränkungen gibt, die es zwingend notwendig machen würden, nur unter der Voraussetzung des absoluten Verstehens des theoretischen Überbaus dieser Geschichte mit Genuss an ihr andocken zu können. Die pornographische Science-Fiction-Detektivgeschichte, die hier den Rahmen bildet, hantiert zwar durchaus expliziter mit theoretischen Extrakten, doch ist hier ein Austereffekt zu bemerken, der dafür sorgt, dass man auch ohne sorgfältigen Nachvollzug verhandelter Konzepte dem spannenden Plot etwas abgewinnen kann. Natürlich ist das Wissenschaftsfundament kein beliebig austauschbarer MacGuffin, der nur instrumentalisiert würde, um einer tollen, trashig-spannenden Geschichte den Kern zu leihen, dafür sind die Figuren zu sehr mit ihren akademischen Konzepten zu erschließen, aber es führt eben nicht nur ein Weg in die Welt der Schwester. Schwester Mitternacht ist der Szenecode für die Designerdroge MTS, die sich unter Ärzten, Naturwissenschaftlern und allmählich immer größeren Szenekreisen in dem in nicht ferner Zukunft spielenden Roman großer Beliebtheit erfreut. Empathieeffekte, Identitätsmetamorphosen und vor allem die ihr zugeschriebene sexuelle Wirkungskraft sind die zentralen Auslösungsmechanismen dieses Rauschmittels. Sie wird von einer Gruppe machthungriger Wissenschaftler eingeführt, die die Droge als künstliche Intelligenz in die Körper und Hirne der Menschen einschleust, um so Nutzen aus den zu Hardware gewordenen Personen ziehen zu können. Den MTS komsumierenden Kreis, der mittels der Mythologisierung der Sex- und Lifestyledroge vergrößert werden soll, gilt es zu einem einzigen Biocomputer zu vernetzen. Dass dies, wie es zunächst scheinen mag, kein ganz so abwegiger Plan ist, erschließt sich, wenn man Daths oder Kirchners naturwissenschaftliche oder informatikorientierte Ausführungen an anderer Stelle kennt. So erfährt man in "Schöner Rechnen" von Dietmar Dath unter dem Stichwort Biocomputing: "Das attraktivste Gebiet schließlich ist die Nutzung von biotischen Strukturen selbst als (Groß-) Rechner, also: Computer auf der Basis von DNA-Molekülen statt Siliziumbauteilen, organische Makromoleküle aller Art als Schaltelemente, Ameisenhügel als Rechner betrachtet u.s.w."

File under Hirngespinst würde man nun zuerst urteilen, doch die Umsetzung des Wissens um solche Pläne in einen prosaischen Kontext machen die Ideen auf einmal plastischer. Es geht also auch in diesem Science-Fiction Plot um die nicht gerade unterrepräsentierte Verwendung des Motivs der Erschaffung einer künstlichen Intelligenz. Doch anders als in jeglichen anderen dystopischen Ansätzen, die mit der Furcht vor einem Computer, einer Maschine auf Silikonbasis hantieren, ist hier ein gigantischer Biocomputer erschaffen worden. Die künstliche Intelligenz ist vergleichbar mit dem Internet, das aus zusammengeschalteten Computern samt ihrer gebündelten Rechenkapazität und einem gemeinsamen Gedächtnis besteht. Ähnlich ist der verschwörerische Plan, den der kryptische Ungar Boros ersonnen hat, nämlich einen Biocomputer zu kreieren, der sich durch den Zugang zu den menschlichen Gehirnen konstituiert. Der Zweck dieses Unternehmens ist die Anlegung eines memetischen Netzwerkes - und das Zentrum der Geschichte wäre damit langsam eingekreist, denn die Theorie der Memetik ist der Schlüssel zu der großen Verschwörung. Seit den 70er Jahren nämlich versuchte Richard Dawkins sowohl in der Realität, als auch im Buch das Mem als Erklärung für kulturelle Vorgänge verantwortlich zu machen. Es sollte als kulturelles Analogon des Gens verstanden werden, als ansteckende Idee oder auch als ideelle Erbsubstanz. Religionen, Geistesströmungen und Rituale sind hier also Memplexe, die miteinander um Kopierwahrscheinlichkeit, also Überleben konkurrieren. "Eine Religion, die den Satz "Liebe deinen Nächsten" enthält, gewinnt dadurch Attraktivität für eben diesen Nächsten, was zwar manchmal auf Kosten der Liebenden geht, die ausgenutzt werden, aber immer die Kopierwahrscheinlichkeit erhöhen."

Der Begriff des Mems versucht also, als kommunikationstheoretisches Moment mächtige und überlebensfähige Konzepte wie Ideologien oder Religionen zu beschreiben und der Clou des von Dath/Kirchner ausgesponnenen Monstrums an Geschichte ist der konspirative Plan der MTS-Erfinder, die aufbauend auf diesem Memkonzept mit Hilfe von MTS die Produktion und Weitergabe der Meme zu kontrollieren und zu domestizieren. Dekoriert wird das Ganze mit den harmonierenden Sex-, Liebes- und James Bond-Versatzstücken, und damit ist die Rezeptur für einen unterhaltsamen Theorieritt fertig. Wie allerdings eine der letzten Aussagen, die im gefaketen Nachwort eines Mitglieds der Gruppe Pfadintegral geäußert wird, bleibt offen. "Versteckspiele für intellektuelle Besserwisser sind nämlich das Letzte, was wir brauchen: auch avantgardistischer Dreck darf sich nicht einfach zu dreckiger Avantgarde erniedrigen, bei Strafe der Irrelevanz."

Ob dies eine Ironisierung drohender Kritikpotentiale sein soll, nämlich, dass eine Selbstdisqualifizierung des Buches wegen elitärer Akademisierung zu konstatieren ist oder eine tatsächliche Programmatik des D/K-Ansatzes darstellt, sei dahingestellt. Die erste Lektüre wird dem weniger in aktueller Computerwissenschaft geschulten Leser Freude bereiten ob der kriminalistischen Konstruktion, und nach dem Studium einiger Aufsätze Kirchners oder des Sachbuches "Schöner Rechnen" von Dietmar Dath gesellen sich auch einige geistige Erkenntnislämpchen mehr zu dem angenehmen Gefühl, ein fesselndes, Unterhaltung produzierendes Buch gelesen zu haben.

Titelbild

Barbara Kirchner / Dietmar Dath: Schwester Mitternacht. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2002.
340 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-10: 3935843143

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