Vorwärts ist überall

Milan Kunderas frühes Drama "Jacques und sein Herr" und die Kunst der Variation

Von Ulrich SimonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Simon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sollte das nicht wieder ein Trick des Verlags sein? Milan Kundera verkauft sich schließlich immer. "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins" ist seit ihrem ersten Erscheinen 1982 längst zum Klassiker der Spät- und Postmoderne geworden, auch dank Philip Kaufmans Verfilmung (1987). Aber nach der "Unsterblichkeit" (1988) wurde es ein wenig ruhiger um Kundera. In den vergangenen zehn Jahren ist vor allem mit drei kleinen Romanen hervorgetreten; der jüngste, "Die Unwissenheit" (2000) wurde einhellig gelobt, anders als etwa "Die Identität" (1998). Und jetzt reicht die Edition Akzente (bei Hanser) also ein 30 Jahre altes Drama nach? Verdächtig, verdächtig - hauptsächlich aber gefährlich. Denn Kunderas "Jacques und sein Herr. Hommage an Denis Diderot in drei Akten" verführt dazu, nachzulesen oder überhaupt zu entdecken. Diderots Roman "Jacques le fataliste et son maître" (beendet 1778) vor allem, diesen "ersten experimentellen Roman" (Horst Günther), vielleicht in der in jeder Hinsicht verlockenden Ausgabe der Anderen Bibliothek (1999):

"Wie waren sie zu einander gekommen? - ,Von ungefähr, wie das gewöhnlich der Fall ist.' - Wie hießen sie? - ,Was kann euch daran liegen?' - Wo kamen sie her? - ,Aus dem nächst gelegenen Orte.' - Wo wollten sie hin? - ,Weiß man je, wohin man will?' - Was sprachen sie? - ,Der Herr kein Wort; aber Jakob: sein Hauptmann habe gesagt, alles, was uns hienieden Gutes oder Böses begegne, stehe dort oben geschrieben.'"

So setzt Diderots Roman ein, der auch typographisch wie ein Drama daherkommt. Und Hans Magnus Enzensberger hat denn auch diese Passage nahezu wörtlich in seiner Adaption übernommen. Denn auch seine Version "Jakob und sein Herr. Ein Radioroman" aus dem Jahr 1979 drängt sich dem Leser dank Kundera wieder auf. (Zu finden in H. M. E.s längst vergriffener Sammlung "Diderots Schatten. Unterhaltungen Szenen, Essays" von 1994). Der Text ist ein Kondensat des Diderotschen Romans.

Milan Kundera nun bringt von Anfang an einen neuen Aspekt ein. "Jacques, ich habe Angst davor, zu wissen, wohin wir gehen", lässt er den Herrn gleich zu Beginn sagen. Kundera variiert mithin Diderot; darauf legt er zu Recht großen Wert, und ähnlich ist er bereits in "Die Langsamkeit" (1994) mit Vivant Denons Novelle "Nur diese Nacht" ("point de lendemain", 1777) verfahren. "Jacques und sein Herr" aktualisiert Stoff und Konstellation. Man kann den Text auch heute kaum lesen, ohne an die Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 zu denken. "Daß Sie die Macht haben, ich aber den Einfluß", erklärt Kunderas Jacques seinem Herrn. Die Dialektik von Herr und Knecht, die Diderot seine Figuren diskutieren lässt (Hegel bezieht sich bei seinen Thesen ausdrücklich auf "Jacques le fataliste") besagt: Der Herr ist vom Knecht abhängig.

Kundera, damals knapp 40 Jahre alt, hatte sich in der Reformbewegung 1968 exponiert, von 1970 an durfte er deswegen in der Tschechoslowakei nichts mehr publizieren ging kurz darauf ins Exil nach Paris. Wohl ab 1971 zirkulierte das tschechische Manuskript "Jacques und sein Herr". Jahrelang wurde der Text, schreibt Kundera in einer Nachbemerkung, mit falscher Verfasserangabe auf tschechoslowakischen Provinzbühnen und selbst in Prag aufgeführt, während seinem Autor in Abwesenheit offiziell die Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. Die offizielle Uraufführung fand erst 1981 in Paris statt. Dieses Schicksal von "Jacques und sein Herr" hätte Diderot sicherlich gefallen. Denn als hätte es da oben geschrieben gestanden, war schon "Jacques le fataliste" als postume Veröffentlichung 1792 in deutscher Übersetzung und also vier Jahre früher als die erste französische Buchausgabe auf dem Markt.

Kundera setzt neben die politischen Aspekte seines Dramas poetologische Erwägungen. Die Frage, wie Literatur möglich sei, verbindet sich mit der nach der Macht. Ästhetisch verbindet er unangestrengt Existenzialistisches Theater und aufgeklärtes Spiel. Er spitzt somit Tendenzen Diderots zu. Der "da oben" - ist das ein Gott, das Schicksal oder eben doch der Autor der Figuren? Deswegen ist die Sorge des Herrn sehr berechtigt, "ob er sie", die Geschichte nämlich, "gut geschrieben hat. Hatte er wenigstens Talent?" Das klingt sehr nach dem "Aufstand der Figuren", den die Literaturwissenschaft für eine Reihe von Texten der vergangenen 200 Jahre postuliert hat. Und es erinnert an den spielerischen Erzähler von "Abschiedswalzer" (1979), der seine Paare stets zur rechten Zeit rochieren lässt und somit die Grenzen des Genreromans sichtbar macht. Umgekehrt zeigt Kunderas "Jacques und sein Herr", wie unverbraucht Diderot nach wie vor wirkt, dessen Erzähler den Leser genüsslich und ausführlich in die Irre führt: "Du siehst Leser, daß [...] es nur von mir abhinge, Ein Jahr, zwey Jahr, drei Jahr auf die Erzählung von Jakobs Liebeshändeln warten zu lassen; ich brauchte ihn nur von seinem Herrn zu trennen und jeden in so viele Begebenheiten zu verwickeln, wie mir beliebte." Enzensberger verdichtet die zahlreichen Erzählerreflexionen im Kommentar: "Hinter jedem Erzähler, weißt du, steckt ein anderer Erzähler, der den ersten erfunden hat, und so fort." Aus den zahlreichen Diderotschen Leseranreden zieht Enzensberger die Konsequenz, den Hörer dem Erzähler als eigenständige Figur beizugesellen

Kundera wie Enzensberger greifen innerhalb eines Jahrzehnts "Jacques le fataliste" auf, weil sie sich für die Geschichte und vor allem für die Möglichkeiten des Romans interessieren. Während Enzensberger aber inzwischen zu dem Schluss gekommen ist, die Gattung sei ausgereizt, hält Kundera dem entgegen: "In den vierhundert Jahren seiner Geschichte hat der Roman viele seiner Möglichkeiten übersehen." Beide berufen sich dabei auf Diderot. Als Bühnenautoren konzentrieren sie sich auf das dramatische Potential des Romans mit seinen unzähligen, nuancierten Dialogen, und beide betonen noch stärker, als dies schon bei Diderot der Fall ist, die Themen Liebe und Macht. Anders als Enzensberger fokussiert Kundera die Verknüpfung von Freundschaft und Verrat (gerne bei Gelegenheit des Beischlafs). Auch dies kann man als literarischen Reflex auf die Zeitgeschichte nehmen. Kunderas Romane "Der Scherz" (1967), "Das Buch vom Lachen und Vergessen" (1978), "Das Leben ist anderswo" (1969-1970) oder "Das Buch einer lächerlichen Liebe" (1958-1968), allesamt Long-, aber keine Bestseller, sind thematisch enge Verwandte von "Jacques und sein Herr". Sie konturieren verschiedene Aspekte der brutalen und fundamentalen Deformationen des Alltags in der stalinistischen und der kommunistischen Tschechoslowakei. In der Hommage an Diderot werden diese Deformationen indirekt vorgeführt. Die Antwort auf die angstvolle Eingangsfrage des Herrn lautet im Stück: Wohin man auch geht, "überall ist vorwärts", eine niederschmetternde Erkenntnis für den, der "vorwärts" für die einzig mögliche Bewegungsrichtung hält. Jacques und sein Herr indes sind in Melancholie und Trauer vereint. Und wählen gemeinsam einen Weg, er führt, so will es die letzte Regieanweisung, "schräg nach hinten".

Zwei andere Dramen Kunderas, "Die Schlüsselbesitzer" (1962) und "Zwei Ohren zwei Hochzeiten" (1969), das lyrische Frühwerk ohnehin, sind für deutsche Leser derzeit nicht greifbar. Dabei fordern sie geradezu einen Vergleich mit seinen ästhetischen Schriften wie "Verratene Vermächtnisse" (1993) oder die "Kunst des Romans" (1985). "Jacques und sein Herr" machen neugierig auf den viel zu wenig bekannten Milan Kundera.

Titelbild

Milan Kundera: Jacques und sein Herr.
Übersetzt aus dem Französischen von Uli Aumüller.
Carl Hanser Verlag, München 2003.
129 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-10: 3446203699

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