Freiheit versus Empirie

Patrick Frierson über Kants Moralphilosophie

Von Thomas SturmRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Sturm

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Publikation von Kants Vorlesungen über Anthropologie in Bd. XXV seiner "Gesammelten Schriften" (hg. von Reinhard Brandt und Werner Stark, Berlin 1997) hat in den vergangenen Jahren zu einer Reihe neuerer Publikationen über Kants Anthropologie geführt. Dieses Buch zählt einerseits zu dieser Gruppe, ist aber andererseits auch durch Diskussionen über Kants Moralphilosophie motiviert, wie sie besonders in der heutigen angelsächsischen Ethik und Kantforschung geführt werden. Friersons Studie zeichnet sich durch klaren Stil, eine gut nachvollziehbare und konsequent verfolgte Struktur und durch ihr systematisches Interesse aus. Was ist der Diskussionskontext, in dem die Studie steht, worauf will Frierson selbst hinaus, und was ist von seinen Auffassungen zu halten?

Kants Ethik hat von allen heute diskutierten moralphilosophischen Theorien den vielleicht stärksten aprioristischen und systematischen Anspruch, und das ist von vielen Seiten immer wieder angegriffen worden. In jüngerer Zeit ist diese Kritik insbesondere von Moralphilosophen entwickelt worden, die sich der sogenannten Richtung der "Anti-Theorie" in der Ethik verschrieben haben. Ethische Entscheidungen, so heißt es bei Autoren wie Bernard Williams, Richard Rorty, Charles Taylor oder Jonathan Dancy, lassen sich nicht durch universelle Prinzipien oder umfassende Systeme universaler ethischer Normen rechtfertigen. Ethische Entscheidungen sind jeweils situativ oder partikulär gültig und hängen von einer in konkreter sozialer Erziehung und Bildung gereiften moralischen Intuitionen und Tugenden ab. Auch wenn wir so etwas wie Gründe für unsere Entscheidungen entwickeln mögen, so haben diese Gründe niemals eine solche Reichweite, einen solchen systematischen Charakter und eine so feste Grundlage wie die Theorien, die wir in den Wissenschaften (oder in den "harten" Wissenschaften) vorfinden. Die Ethik ist eine soziale Praxis, deren Basis sich nicht in Form universaler Prinzipien explizieren, geschweige denn begründen lässt. Antitheoretiker in der Ethik beziehen sich teils auch auf Argumente von Aristoteles, Hume oder Hegel, und sie meinen auch deshalb, dass ihre Auffassungen jeden Kantianismus ausschließen.

Gegen die damit verbundene Interpretation Kants haben etwa Onora O'Neill, Barbara Herman, Henry Allison, Allen Wood und zahlreiche andere mehr Einspruch erhoben. In wichtigen Hinsichten erfolgt diese Gegenkritik zu Recht. Die Darstellung Kants als eines Philosophen, der konkrete ethische Entscheidungen gleichsam aus der reinen Vernunft deduzieren will, ist, vorsichtig gesagt, verkürzt. Zweifellos hält Kant die obersten Prinzipien der Ethik für apriori begründbar, was vor allem heißt, dass ihre Rechtfertigung keinerlei Bezug auf unsere jeweils individuellen Neigungen und Leidenschaften Bezug zu nehmen hat. Der berühmte Grundsatz aller kategorischen Imperative soll apriori gültig sein, und ähnlich auch einzelne kategorische Imperative, welche Kant für Grundvoraussetzungen oder Grundgesetze einer wirklich moralisch zu nennenden Welt auffasst. Aber das heißt keinesfalls, dass die Entwicklung ethischer Tugenden oder eines ethischen Charakters, einer moralischen Urteilskompetenz, einer gefestigten moralischen Motivation, mithin die Chancen der Realisierung einer einigermaßen moralischen Gesellschaft Dinge wären, die nach Kants Auffassung durch reine Vernunft zu leisten sind. Was er insbesondere in seinen langjährigen Vorlesungen über Anthropologie hierüber erklärt, beweist das Gegenteil. Die Einzelheiten von seiner Auffassungen über das Verhältnis von Ethik und pragmatischer Anthropologie sind unter Interpreten umstritten. Aber das ändert nichts an der Falschheit der zu einseitigen Darstellungen von Kants Ethik. Soviel zum Hintergrund einer jüngeren Diskussion, welche für Friersons Studie wichtig ist.

Worauf will Frierson hinaus? Er befürwortet ebenfalls die Idee einer Verknüpfung von Ethik und Anthropologie bei Kant. Es stelle sich hier jedoch ein neues, grundlegendes Problem: Kann Kant dieses Ergänzungsverhältnis wirklich behaupten? Kann er anthropologische Einsichten in seine Ethik einfügen? Der Ethiker Kant betrachtet den Menschen unter ethischem Aspekt als ein freies Wesen, als dem "Reich der Freiheit" zugehörig, während der Anthropologe Kant das menschliche Handeln empirisch zu erforschen beansprucht - und das bedeutet nach Kants oft geäußerter Auffassung, dass unsere Handlungen als dem "Reich der Natur" zugehörig und insofern nicht als frei im für Kant wesentlichen Sinne des Wortes angesehen werden. Wie sollten dann aber anthropologische Einsichten das ethische Denken und Urteilen irgendwie ergänzen, unterstützen oder bereichern können? Bei dem Dilemma geht es nicht um eine Diskussion des traditionellen Problems der Unvereinbarkeit von Freiheit und Determinismus, wie Frierson treffend betont. Vielmehr lautet die Frage: Wie kann das anthropologische Wissen über "empirische Einflüsse" auf unser Handeln moralisch relevant sein, wenn moralisch bewertbare Handlungen zugleich als frei anzusehen sind, sprich: als frei von allen empirischen Einflüssen? Wie kann ethisches Urteilen empirisch informiert sein, ohne dass man dadurch Gefahr läuft, die ethisch betrachteten Handlungen als rein empirische Phänomene und damit als unfrei anzusehen? Dem Vorwurf eines Dilemmas, so behauptet er, unterliegen die genannten anthropologiefreundlichen Kantianer ebenso wie Kant selbst. Frierson formuliert das Dilemma in Form dreier Behauptungen:

"(1) Human beings are transcendentally free, in the sense that empirical influences can have no effect on the moral status of a human being and in the sense that choice is fundamentally prior to natural determination.

(2) Moral anthropology is an empirical science that studies empirical influences on human beings.

(3) Moral anthropology is morally relevant, in that it describes influences on moral development." (S. 2)

Man kann jeweils zwei dieser Behauptungen vertreten, aber nicht ohne weiteres alle drei. Dem "nicht ohne weiteres" ist das Buch gewidmet, wobei Frierson allerdings in den ersten Kapiteln zunächst einmal nachzuweisen versucht, dass alle drei Thesen wirklich genuin Kantische Thesen sind und erst in den späteren Kapiteln seine Lösung entwickelt.

Viele Details dieser Interpretations- und Rekonstruktionsbemühungen sind instruktiv und treffend. So verdeutlicht Frierson, dass die moralische Relevanz von manchen anthropologischen Überlegungen Kants vor allem darin liegt, dass wir empirisches Wissen benötigen, um die Hindernisse und förderliche Bedingungen der faktischen Akzeptanz, der Ausbreitung und Verankerung moralischer Prinzipien in Individuen und auch ganzen Gesellschaften zu erkennen. Seine Diskussionen der Beispiele solcher Hindernisse und förderlicher Bedingungen - wie der Affekte einerseits und der Dispositionen zur Höflichkeit und Geselligkeit andererseits - sind detailliert und lehrreich. Problematisch sind allerdings wenigstens drei Punkte, wobei ich mich hier auf das formulierte Dilemma beziehe und dessen Lösung noch außen vor lasse.

1. Frierson bezeichnet das Dilemma als "Schleiermacher's objection" und stellt seine gesamte Studie unter diese Leitidee. Er bezieht sich auf eine 1799 vom jungen Friedrich Schleiermacher publizierte Rezension von Kants "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht" von 1798. Diese Bezugnahme ist aus mehreren Gründen nicht überzeugend. Schleiermachers Rezension ist reichlich polemisch; sie drückt eher die in dieser Zeit wachsende Antipathien der deutschen Romantiker gegenüber Kant aus als eine argumentative Auseinandersetzung mit einem Kantischen Text. Wichtiger noch, die kurzen Passagen in dieser Rezension, die Frierson als die Beschreibung dieses Dilemmas bezeichnet, sind alles andere als klar. Schleiermacher erklärt, dass Kants scharfer Gegensatz zwischen einer pragmatischen und physiologischen Anthropologie "beide unmöglich" mache, da Anthropologie die Vereinigung zweier Grundsätze sein solle, nämlich "der: alle Willkür im Menschen ist Natur, und der: alle Natur im Menschen ist Willkür." (F. Schleiermacher, in Athenaeum 2 (1799), S. 300-306, hier S. 302; nachgedruckt in: Athenaeum. Eine Zeitschrift von August Wilhelm und Friedrich Schlegel. Hg. von Bernhard Sog. Dortmund 1989, Teil II.) Selbst wenn hier eine Kritik an Kants Gegensatz zwischen Natur und Freiheit angedeutet wird - und sie wird bestenfalls angedeutet -, so ist nicht klar, warum das als das beschriebene Dilemma einer moralischen Relevanz anthropologischer Erkentnnisse aufzufassen ist, statt zum Beispiel als ein Hinweis auf das Dilemma von Freiheit und Determinismus. Sicher ist nur, dass Schleiermacher der Kontrast zwischen physiologischer und pragmatischer Anthropologie missfällt. Frierson sollte das Dilemma eher als eines sehen, dass er selbst als ein wichtiges Problem in Kants Auffassungen und in denen der besagten Kantianer erkennt. Aber liegt das Dilemma wirklich vor?

2. Um die erste These zunächst in Konflikt mit den beiden anderen Thesen zu bringen, schreibt Frierson Kant eine inkompatibilistische Auffassung von Freiheit zu. Ein Inkompatibilist behauptet, dass unsere Handlungen entweder frei oder aber kausal determiniert sind, nicht jedoch beides. Der Inkompatibilist kann entweder ein strenger Determinist sein, der die Freiheit leugnet, oder ein Libertarianer, der den strengen Determinismus bestreitet. Wie immer jedoch Kants Auffassungen über Freiheit und Determinismus genau zu verstehen sind, er ist sicher kein Inkompatibilist. Er ist ein Anhänger der kompatibilistischen (oder "schwach" deterministischen) Grundthese, der zufolge die Beschreibung oder Betrachtung einer Handlung als frei keineswegs ausschließt, dass es eine legitime Betrachtungsweise dieser Handlung gibt, nach der sie Ursachen hat oder unter strengen Naturgesetzen steht. Dies erklärt er gerade dort, wo er seinen schärfsten und auch problematischen Begriff der Freiheit entwickelt, den der "transzendentalen" Freiheit: im Kontext des Kapitels über die "Antinomien" der reinen Vernunft in der ersten "Kritik". Frierson meint, dass Kant deshalb ein Inkompatibilist sei, weil er doch sonst nicht annehmen könnte, dass wir aus genuin moralischen Gründen handeln können - dass wir also nicht nur gemäß einer moralischen Norm handeln, aber in Wirklichkeit durch natürliche Ursachen dazu gebracht wurden, so zu handeln, wie wir handeln, sondern wirklich durch das moralische Motiv motiviert werden, unsere Pflichten zu befolgen.

Dieser Punkt ist leider ebenso alt wie irreführend. Das Befolgen oder Nichtbefolgen einer moralischen Norm steht uns deshalb frei, weil wir Wesen mit Vernunft sind, die aufgrund dieser Fähigkeit die Güte von Normen bewerten können. Wenn wir eine als richtig erkannte Norm verletzen, etwa weil wir von Leidenschaften hingerissen wurden, so handeln wir aber nicht schon deshalb unfrei - wir behalten ja die Fähigkeit der Vernunft, das Vermögen, wirklich aufgrund von moralischen Einsichten zu handeln, grundsätzlich bei. Durch Vernunft, erklärt Kant, machen wir uns die Idee einer gewissen Ordnung der Welt, und die Idee dieser Ordnung befähigt uns, bestimmte Handlungsketten zu beginnen ("Kritik der reinen Vernunft" A550/B578f.). Kants Kompatibilismus ist natürlich komplexer als etwa der von Leibniz und Hume, deren Vorstellungen von Freiheit er lächerlich macht, wenn er sie als die "Freiheit eines Bratenwenders" bezeichnet. Da Kant aber ein Kompatibilist ist, behauptet er von vornherein, dass freie Handlungen unter empirischen Einflüssen stehen können. Es ist daher fraglich, ob für Kant das besagte Dilemma wirklich besteht - oder für sonst jemanden, der ein Kompatibilist in Fragen der Freiheit ist.

3. Schließlich ist es problematisch, dass Friersons Entwicklung des Dilemmas auf einem Konzept von Anthropologie als "moralischer" Anthropologie beruht. Das führt zurück zu dem Problem, "Schleiermacher's objection" zum Zentrum der Diskussion zu machen. Schleiermacher kritisiert ausschließlich die 1798 publizierte "Anthropologie in pragmatischer Hinsicht", in der der Begriff einer moralischen Anthropologie nicht auftaucht bzw. nicht konzeptionell leitend ist. Moralische Überlegungen kommen in dieser "Anthropologie" ins Spiel, und viele anthropologische Ideen Kants können auch zur Erkenntnis von Hindernissen und förderlichen Bedingungen der Ausbreitung und Verankerung ethischer Normen beitragen. Doch eigentlich soll eine pragmatische Anthropologie den Menschen in der Hinsicht erforschen, "was er als freihandelndes Wesen aus sich selber macht, oder machen kann und soll." ("Kant's Gesammelte Schriften" Akademie-Ausgabe, Berlin 1900ff., Bd. VII, S. 119). Frierson meint, moralisch relevante empirische Erkenntnisse seien eben ein Teil von Kants Anthropologie. Das ist jedoch zu schwach, um seine sehr starke Ausbeutung des Konzepts einer moralischen Anthropologie zu begründen.

Die zitierte programmatische Passage ist auch die, in deren Zusammenhang stellt Kant den schon erwähnten Kontrast herstellt: zwischen einer pragmatischen und einer rein theoretischen oder "physiologischen" Anthropologie, das heißt, einer an den Naturwissenschaften orientierten Konzeption der empirischen Untersuchung des Menschen. Kant erklärt auch, dass die pragmatische Anthropologie die "Bestimmung" des Menschen als eines Wesen mit Vernunft und zudem als eines Wesens mit der Fähigkeit zum Dasein als "Weltbürger" verdeutlichen soll. Seine praktische Vernunft schließt hier auch die "technischen" Fähigkeiten des Gebrauchs von natürlichen Objekten ein, und - nicht weniger wichtig, sonder eher noch mehr - die "Klugheits"-Regeln erfolgreichen Umgangs mit anderen Menschen in der Gesellschaft ein. Diese rationale Kooperationsfähigkeit muss nach Kants Ansicht nicht ethischen Status haben. Sie kann eine intelligente und subtile Form des Egoismus sein. Man kann auch sagen - erneut gerichtet gegen Friersons Formulierung der zweiten These des Dilemmas: Moralische Anthropologie ist keine empirische Wissenschaft, weil sie gar keine Wissenschaft im Sinne einer systematisch entwickelten Theorie ist (Systematizität der Erkenntnis ist Kants zentrales Kriterium für Wissenschaftlichkeit). Mit dieser Rede meint er vielmehr den Gebrauch bestimmter anthropologischer Einsichten zu ethischen Zwecken. Von seiner pragmatischen Anthropologie hingegen lässt sich zeigen, dass Kant sie durchaus systematisch im Sinne der genannten Programmatik entwickelt hat - auch wenn diese Systematik aus heutiger Sicht nicht wenige Schwächen hat.

Ein Weltbürger im Sinne der Kantischen Anthropologie muss übrigens auch dann, wenn er sein Handeln als moralisches Handeln begreift, nicht spezifisch Kantischen Imperativen folgen. Derartige anthropologische Einsichten sind auch mit anderen ethischen Theorien vereinbar. Das ist sogar ein wichtiger Vorteil: Wenn empirisch-anthropologische Einsichten uns wirklich dabei helfen sollen, die Ausbreitung oder Verankerung moralischer Überzeugungen und Motive zu unterstützen, dann sollten sie dies doch zunächst unabhängig von allzu spezifischen moralischen Theorien leisten, um sich nicht mit deren Begründungslasten zu überfrachten. Diese relative Unabhängigkeit kann in gewissem Sinne als Kehrseite von Kants bekannter These angesehen werden, dass die Ethik in der Rechtfertigung der zentralen moralischen Normen nicht von empirisch-anthropologischen Einsichten abhängen sollte.

Nur von der dritten These des von Frierson formulierten Dilemmas scheint mir also klar, dass es sich um eine genuin Kantische These handelt. Eine These allein macht noch kein Dilemma; weder für Kant noch für (anthropologiefreundliche) Kantianer. Es mag unfair erscheinen, Friersons Lösungsversuch nicht anzugehen, doch das geschieht hier nur aus Platzgründen.

Titelbild

Patrick Frierson: Freedom and Anthropology in Kant´s Moral Philosophy.
Cambridge University Press, Cambridge 2003.
222 Seiten, 49,82 EUR.
ISBN-10: 0521824001

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