Liebe in Zeiten der Kälte

Tomas Lieskes Roman "Franklin"

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang steht die fast mythisch anmutende Atmosphäre eines Arbeitslagers im Polargebiet zur Zeit des Zweiten Weltkrieges. Die Frauen, die an den Hochöfen arbeiten, wirken wie gewaltige Riesinnen, Hitze und Kälte erscheinen unerträglich, und inmitten des höllischen Szenariums rasen durch dieses Nickellager Güterzüge, auf denen trotz höchster Geschwindigkeit der scheinbar herkunftslose Niel Stellung bezogen hat. In dieses Lager gerät der achtzehnjährige Niederländer Charles, der seinem beschaulichen Elternhaus den Rücken kehrt, eigentlich in Spanien auf Seiten der Kommunisten kämpfen will, sich dann aber der SS anschließt, von der Ostfront flieht, gefangen genommen wird und in besagtes Nickellager gerät. Nur mit Niels Hilfe gelingt ihm die Flucht und beide kommen nach dem Krieg in Charles' Elternhaus unter. Eine aus dem Norden mit eingeschleppte Insektenart fordert auf absurde Art und Weise das Leben der Mutter, der Vater wird daraufhin verrückt und Charles' jüngere Schwester Christine, die von dem unzivilisierten Niel gleichermaßen abgestoßen und angezogen wird, droht damit, die NS-Vergangenheit Charles publik zu machen, wobei auch der ungeklärte Tod seines ehemaligen Gefährten eine Rolle spielt.

Die Wege der Flüchtlinge trennen sich von denen Christines, doch kommen sie und Niel auch in den folgenden Jahren gedanklich nicht voneinander los.

Die Qualität des Buches besteht in der Beschreibung der Emotionslosigkeit, mit der die Protagonisten miteinander, aber auch mit sich selbst, umgehen. So trägt Franklin ständig Rasierklingen mit sich herum, mit denen er sich Wunden zufügt, aber auch toten Tieren die Köpfe vom Körper trennt, um sie anschließend zu konservieren. Sogar Michelle bedroht er damit. Überhaupt sind körperliche Schmerzen und Gebrechen bezeichnend für die angeschlagenen Charaktere des Romans. Von Zärtlichkeit kann bei Franklin nur als Sehnsucht die Rede sein. Die andere Seite seiner Persönlichkeit ist das Geschichtenerzählen, mit dem er sich seit der Internatszeit Macht über die Quälgeister unter seinen Mitschülern und Lehrern verschafft. Diese Erzählerkunst entwickelt und variiert er weiter und schlägt damit seine Angebetete in seinen Bann. In Franklins Phantasie scheinen Realität und Fiktion manchmal nahtlos ineinander überzugehen und mit seinen Kindheitserinnerungen zu verschmelzen. Die Eingangszene des Roman freilich bleibt unerreicht, während die Verknüpfung der sibirischen Gulag-Szene und der Beziehung zwischen Niel und Christine mit der Lebensgeschichte Franklins unschlüssig bleibt.

Tomas Lieske, dessen frühere Essays, Erzählungen und Romane von der niederländischen Kritik positiv aufgenommen wurden, gelang mit "Franklin" endgültig der Durchbruch: Der Roman erhielt den renommierten Libris Literatuur Prijs und wurde als sein erstes Werk ins Deutsche übersetzt wurde. Anders als viele der auch beim deutschen Publikum bekannten Werke von Mulisch, t'Hart, Nooteboom spielt die NS-Vergangenheit eine weniger dominante Rolle. Die Kollaboration Charles' ist so unspektakulär wie zufällig; stärker zu verurteilen als seine Teilnahme am Krieg sind seine Geschäfte, die er nach dem Krieg mit anderen Kollaborateuren macht. Aber seine Figur ist so schwach gezeichnet, dass beim Leser weder Abneigung noch Mitleid für ihn enstehen. Stärker und für die Handlung des Roman entscheidender sind die Figuren, die ihre Vergangenheit nicht abschütteln können: Franklin und Niel. Michelle, die die beiden einmal unbemerkt nebeneinander schlafen sieht, stellt mit Beunruhigung fest, dass sie die "Zwillingsbrüder" niemals wird voneinander trennen können. Doch ist Niel weniger der "geistige" Bruder Franklins als dessen geistiger Vater, hält man sich die Umstände seiner Zeugung vor Augen. Und am Ende ist auch deren Verhältnis von Destruktion gekennzeichnet.

Titelbild

Tomas Lieske: Franklin. Roman.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Christiane Kuby.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2004.
380 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 3498039148

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