Von der Faszination des Geschichtenerzählens

Eine neue Übersetzung von "Tausendundeine Nacht" befreit die Geschichten aus dem Märchenbuchidyll

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alf layla (Tausend Nächte) wa layla (Eine Nacht)" - So klingt lautmalerisch schön der arabische Titel der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Sie sind ein besonderer Schatz im Fundus der Weltliteratur. Dabei ist zumeist wenig bewusst, dass die Geschichtensammlung bereits seit ihrem frühesten Auftauchen im 8. Jahrhundert in Persien kein fest umrissenes Geschichtenrepertoire umfasste, sondern immer wieder ein anderes Aussehen erhielt. Lediglich die Rahmengeschichte blieb gleich. Sie erzählt vom König oder Sultan Schahriyar, der aus Wut und Trauer über die Untreue seiner ersten Frau sich Nacht für Nacht eine neue Frau nimmt und diese am nächsten Morgen umbringen lässt, bis er schließlich an die Tochter seines Wesirs, Schahrasad gerät. Sie hat einen Plan, den sie mit Hilfe ihrer Schwester Dinarasad umsetzen will: "Liebe Schwester, merke gut, was ich dir jetzt auftrage. Sobald ich beim Sultan bin, werde ich nach dir schicken. Wenn du dazukommst und siehst, daß der König seine Lust befriedigt hat, dann sage zu mir: 'Ach, Schwester, wenn du nicht schläfst, so erzähle mir eine Geschichte.' Ich werde euch dann etwas erzählen, und das wird der Grund für meine Rettung und für die Rettung dieses ganzen Volkes werden. So werde ich den König von seinem grausamen Verhalten abbringen."

In der ältesten bis heute bekannten Handschrift der Geschichtensammlung, der nach dem ersten Übersetzer Antoine Galland (1646-1715) benannten "Galland-Handschrift", die um 1450 entstand, bricht die Sammlung nach der 282. Nacht, mitten in einer laufenden Geschichte ab. Schon Galland, dessen französische Fassung der Handschrift von 1807 zur Grundlage der europäischen Wahrnehmung der Sammlung wurde, strebte nach Vervollständigung. So reihte er immer neue und andere Geschichten, die aus sehr unterschiedlichen arabischen Quellen stammten, in die Rahmenhandlung ein. Darunter so populäre Geschichten wie "Ali Baba und die 40 Räuber", "Alladin und die Wunderlampe" oder "Sindbad der Seerfahrer", eine Geschichte, die Galland bereits kannte, bevor er Tausendundeine Nacht kennen gelernt hatte. Gallands "Mille et une nuits" trat nun ihren "Siegeszug" in Europa an. Mehr noch: immer neue Geschichten tauchten auf und erhoben Anspruch, die unvollständige Fassung zu vervollständigen. So toll wurde der Boom, dass im 19. Jahrhundert neue "alte" Handschriften auftauchten, in denen ganze Teile aus Gallands Übersetzung ins Arabische rückübersetzt waren. Doch was soll's? "Wir können", so schreibt die Übersetzerin der vorliegenden Ausgabe in ihrem Nachwort, "ohnehin nicht pauschal von 'Original' und 'Fälschung' sprechen. Es handelt sich vielmehr um ein offenes Werk, dessen Überlieferung bis heute nicht abgeschlossen ist und das immer neue Versionen und Textfassungen hervorbringt." Und: "Tausendundeine Nacht ist eine west-östliche Geschichte geworden."

Trotz oder gerade deswegen kommt die vorliegende Ausgabe zur rechten Zeit. Zugrunde liegt ihr die alte Galland-Handschrift in der Edition des 1926 geborenen Arabisten und Islamwissenschaftlers Muhsin Mahdi. Seine Fassung rekonstruierte die 'voreuropäische' Fassung und betonte die Eigenständigkeit und Besonderheit eines Werks der arabischen Literatur. Es ist zwar nicht, wie der Verlag anklingen lässt, das "arabische Original", doch die Übersetzung von Claudia Ott führt uns immerhin näher an die Ursprünge heran.

Das bedeutet zunächst, dass die durch die 'Europäisierung' der Geschichten bewirkte Idyllisierung ins Märchenhafte zurückgenommen wird. Die Geschichten erscheinen stattdessen in einfacher und klarer Sprache und erinnern so an ihren ursprünglichen Charakter als Erzählstücke aus 'lebensnaher Erfahrung'. So sind die Motive und Themen der Geschichten jedem Zuhörer und Leser vertraut: die Sehnsucht nach einem besseren Leben, die Verführbarkeit durch Reichtum und Macht, die Liebe, Liebeskummer, Untreue, Rache und Tod- um nur einige wenige zu nennen. Es ist der Kunstfertigkeit der Geschichten zu danken, dass derartige Lebensnähe zwar zuweilen auch mit pädagogischem Geschick zur erzählten Lebenserfahrung wird, darüber hinaus aber vor allem Stoff für pralle und fantasievoll ausufernde Erzählungen bietet, die als poetisch-literarisches Kunstwerk faszinieren. Im Unterschied zu herkömmlichen Geschichten folgen die Geschichten in Tausendundeiner Nacht keiner stringenten Dramaturgie, die beispielsweise auf ein Happy End hinzielt oder gar eine 'Moral von der Geschicht' erläutern möchte. Einmal begonnen mäandert eine Geschichte in unerwartete Neben- und Untergeschichten. Eigentlich kein Wunder, wenn man bedenkt, vor welcher Aufgabe die Erzählerin Schahrasad steht: Sie muss Zeit gewinnen und jeweils solche Spannung erzeugen, dass beim Abbruch der Erzählung im Morgengrauen die Erwartung des Königs nach Fortsetzung sicher gestellt ist. Ein schönes Beispiel für diese Verschachtelungen der Erzählstränge ist die in der 28. Nacht beginnende und in der 69. Nacht endende Geschichte "Der Träger und die drei Damen". Hier begegnet ein armer Träger einer Dame, die ihn bittet, ihre Einkäufe nach Hause zu tragen. Dort trifft der Träger auf zwei weitere Damen - ebenso schön wie geheimnisvoll. Aufs Angenehmste erfreuen die drei Damen den Träger, als sie ihn zu ausgiebigem Trinkgelage und Liebesspielen verführen. Allerdings muss er ein Versprechen abgeben: er sei "wie Augen ohne Zunge!", was auch immer er sehe, er dürfe nicht danach fragen. Doch bevor er wirklich versteht, was vorgeht, tauchen drei Bettelmönche auf, denen jeweils das rechte Auge fehlt. Sie werden aufgenommen im Haus der drei Damen unter der gleichen Bedingung wie der Träger. Angelockt von dem fröhlichen Geklinge im Haus der drei Damen begehren inkognito der Kalif Harun ar-Raschid und sein Wesir Einlass. Auch sie werden unter der bekannten Bedingung aufgenommen. Indes siegt die Neugier schließlich, als weitere unerklärliche Dinge im Haus geschehen. Sklaven tauchen auf, bereit, ihnen allen die Köpfe abzuschlagen, weil sie ihr Versprechen brachen. Zuvor aber, so beschließen die Damen, soll jeder der Ankömmlinge noch seine Geschichte erzählen dürfen ...

Dem Sog dieser und der anderen Geschichten kann man sich kaum entziehen. Sie faszinieren heute wie eh und je. Es ist ein Verdienst von Claudia Otts Übersetzung, dass der zügige Fluss des Erzählens spürbar wird und damit eine weitere Funktion des Buchs nutzbar wird: Die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht waren immer auch Erzähl- und Vorlesegeschichten, und eben deshalb sollte das Buch auch heute überall vorhanden sein, als ein 'Gebrauchslesebuch' - zur Einübung in die Künste des Lesens und des Erzählens.

Titelbild

Mahdi Muhsin: Tausendundeine Nacht.
Übersetzt aus dem Arabischen von Claudia Ott.
Verlag C.H.Beck, München 2004.
688 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3406516807

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