Vor den Schlachten

Frühe Tagebücher Carl Schmitts

Von Kai KöhlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Köhler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Pläne: Will Politiker und ein einflussreicher Mann werden", heißt es einmal, oder: "Warum ergreift es mich bis in die Wurzeln meines Daseins, wenn ich sehe, wie Soldaten gehorchen, wie sie Platz machen. Wenn Menschen Ehrfurcht erweisen und eine Masse sich beugt? Bin ich zum Herrscher geboren?" Solches Hochgefühl währt selten lange: "Warum sitzt man so alleine in der Welt und bettelt mit den Blicken nach allen Seiten um Hilfe und bleibt allein. Wenn noch etwas in mir ist, diese Angst, die mich inzwischen herumtreibt, die lähmende, vernichtende Angst, verzehrt den letzten Rest und lässt nichts mehr von mir übrig. Ich bin fertig." Mal triumphiert Schmitt über die Menschen, die er trifft - "Überlegenheit" ist ein Leitmotiv seiner Aufzeichnungen -, mal fühlt er sich ihnen hilflos ausgeliefert. Eine Mitte gibt es kaum je, wohl aber punktuell eine klare Selbstanalyse, die das Widersprüchliche benennt: "und ich will ein bedeutender Mensch werden und zittere vor den Niederträchtigkeiten einer Vermieterin."

Mit den drei Komponenten Zuversicht, Verzweiflung, Analyse ist die Konstellation benannt, in der Schmitts teilweise überlieferten Tagebuchaufzeichnungen zwischen Oktober 1912 und Februar 1915 zu situieren sind. Für den später tatsächlich berühmten, wenn nicht berüchtigten Juristen waren diese zweieinhalb Jahre eine krisenhafte Zeit. Er arbeitete als Referendar am Oberlandesgericht Düsseldorf, ohne ein Gehalt zu beziehen. Anders als viele Kollegen aus gutbürgerlichen Kreisen erhielt er auch kein Geld von seiner Familie. So war er auf Zuverdienste in Anwaltskanzleien angewiesen und es ist entsprechend denn auch auf fast jeder Seite der Notizen vom Geld die Rede. Wichtige Finanzquellen waren Zuwendungen aus Familien von Freunden, zu Kriegsbeginn 1914 eine etwas undurchsichtige, doch ergiebige Spekulation mit Uniformstoffen und vor allem der "Geheimrat", eine der beiden wichtigsten Personen aus den Aufzeichnungen. Der Zentrumspolitiker Hugo am Zehnhoff protegierte Schmitt, zahlte großzügig für nebensächliche juristische Hilfsarbeiten und für die Gesellschaft beim abendlichen Trinken, wurde folgerichtig gehasst. Stets nämlich musste Schmitt sich fragen, was er denn noch wert war: "Nachmittags beim Geheimrat; dort besser, schön gearbeitet. Zeigte meine Exzerpte und imponierte ihm sicherlich. Das hob mich wieder. Doch war der Geheimrat anscheinend mich leid. 75 Mark."

Bis ins Jahr 1915 blieb Zehnhoff großzügig - "Ich bekam 500 Mark dafür und Erlass meiner bisherigen Schulden" -, und entsprechend steigerte sich die Wut: "ein feiger, scheußlicher Geselle", "physisch und psychisch so ekelhaft, wie nur etwas"; solche Eintragungen über das "Nilpferd", oft mit Gedanken an Schmutz gekoppelt, häufen sich. Zumal der Katholik wenig ausließ, um Schmitt zu demütigen: nachdem er die 500 Mark erhalten hat, "kommt die Abrechnung". "Von Cari sagte er, sie sei in einem 'Tingel-Tangel' gewesen. Schändlich. Ich wurde nicht einmal böse. Hinterher eine wahnsinnige Wut. Er meinte, le pauvre est toujours gueux. Alles schluckte ich hinunter. Hauptsache, dass ich Geld bekomme. Dabei ist mir eklig zumute."

"Cari", Pauline Carita Isabella von Dorotic, ist die zweite wichtige Figur dieser Aufzeichnungen. Tatsächlich war sie Tänzerin, wenn auch mit Engagements an den Theatern von Görlitz und Wiesbaden - jedenfalls für einen karrierebewussten Juristen eine Mesalliance. Gleichwohl hielt Schmitt zu ihr, war sie keineswegs nur Objekt seiner Vergnügungen, während er etwa auf eine standesgemäße Beziehung gewartet hatte. Trotz Geldnot finanzierte er ihr Leben, wohnte er zeitweilig in wilder Ehe mit ihr zusammen, heiratete er sie schließlich in eiliger Kriegstrauung im Februar 1915, als er als "Freiwilliger" wider Willen Soldat wurde; sein Doktorvater freilich verschaffte ihm einen ungefährlichen Münchner Garnisonsdienst.

Die Passagen, die von Dorotic betreffen, sind aus zwei Gründen nur mit Überwindung lesbar. Zum einen bleibt sie, trotz häufiger Treffen, ein Stereotyp. In Schmitts Sicht ertrug sie, sowohl tapfer alsauch hilfsbedürftig, die Unbillen, die er, korrekter als sein Stand gemeinhin, immerhin praktisch abzufedern trachtete. Der Preis aber ist Abstraktion: "Der Mann braucht eine Mutter, eine Frau, eine Tochter. In meinem Kindlein habe ich alles drei zusammen." Breit malt andernorts Schmitt "Caris" Funktion als Wahlmutter aus - anstelle der mit Flüchen eingedeckten biologischen Mutter. Mehr als man lesen möchte, erfährt man zum andern übers Sexuelle; darüber, ob Schmitt und von Dorotic an diesem oder jenem Abend "artig" oder "unartig" waren, und über die Zahl und Intensität von Ejakulationen. Manches wirkt so indiskret, dass man es lieber im Archiv verborgen gewusst hätte.

Die Publikation ist dennoch gerechtfertigt, aus mehrerlei Gründen. Erstens sind viele Notate kulturhistorisch wertvoll. Bemerkenswert ist etwa, mit welchen Strategien ein moralisch konservatives Bürgertum dem aus seiner Sicht Anrüchigen gegenübertritt, und das heißt hier auch: wie erstaunlich weit Schmitt gegen Normen der Brautwahl verstoßen kann, ohne die Unterstützung seiner Berufsgruppe zu verlieren. Auch die Arbeitszeiten, die Schmitt wiedergibt, sollte man sich merken. Sie sind nämlich zu vernachlässigen. Heute gilt es als erstrebenswert, bis zur völligen Erschöpfung gebraucht zu werden, für was auch immer; und wer verkündet, seit einem Vierteljahr keinen freien Tag gehabt zu haben, erntet Respekt statt Verwunderung. Schmitt dagegen schilt sich in seinem Tagebuch nicht nur selbst häufig als faul; nach gegenwärtigen Maßstäben arbeitet er tatsächlich kaum. Durchschnittlich vier oder fünf Stunden pro Tag scheinen jenes Optimum, das Schmitt zu einem der einflussreichsten Intellektuellen bis in die frühen Jahre der Bundesrepublik machte, das freilich ihm selbst, geprägt von bürgerlichem Arbeitsethos, als unzureichend erschien.

Der zweite Grund, diese Tagebücher zu lesen, ist die Auseinandersetzung mit Bürgerlichkeit. Dabei überrascht weniger, dass der künftige Vertreter einer Konservativen Revolution jenes Bürgertum angreift, das sich nach dem Krieg doch gerne der sich radikal dünkenden Rechten bediente, um den ihm tatsächlich gefährlicheren Kommunismus zu bekämpfen. Zum einen steht Schmitt, Jahrgang 1888, nicht nur vom Alter expressionistischen Autoren nahe, sondern bewegte sich in diesem Abschnitt seines Lebens auch selber zuweilen in modernistischen Künstlerkreisen. Zum anderen führte er eine zweifache Grenzexistenz, die ihn die milde Repressivität des Bürgertums eindringlich erleben ließ: erstens als moralischer Provokateur, zweitens als ehrgeiziger Aufsteiger, der sich qua Beruf, Intelligenz und Ehrgeiz in jenen besseren Kreisen bewegte, die ihm finanziell eigentlich verschlossen waren.

Politisch-ideologisch führt das zu Orientierungen, die in manchem den späteren Theoretiker ahnen lassen; davon, dass das Leben Kampf sei, ist permanent die Rede, wobei Schmitts Labilität den Kampf vor allem als inneren erscheinen lässt, er äußeren Anforderungen hingegen anscheinend recht mühelos zu genügen weiß. Andere Aspekte aber überraschen. Selbst wenn Schmitt an einer Stelle als idealen Staat den Kirchenstaat begreift: Über den Katholizismus finden sich mehr ablehnende als bejahende Äußerungen, und das nicht nur über den christlichen Glauben, sondern auch über den politischen Katholizismus, wie ihn das Zentrum repräsentierte. Schmitt verabscheut aber ebenso den "Preußengeist, diese knarrende, schneidige und gänzlich intellektlose und gefühllose Maschine"; und während der Theoretiker in "Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen" (1914) das Individuum für bedeutungslos erklärt, wertet der Tagebuchschreiber, der seine Einberufung fürchtet, genau umgekehrt: "Wenn ich an den Krieg denke, die tausende Soldaten, die fallen, an meine Hilflosigkeit gegen diesen Machtapparat, der mich gegebenenfalls verschlingt wie die Kuh einen Grashalm, dann erscheint mir der Staat als furchtbares, graues Ungetüm." Und schon zuvor, 1912, findet sich der für den künftigen Etatisten verblüffende Ausbruch: "Der Staat, diese brüllende Position der Durchschnittlichkeit, der Mittelmäßigkeit, die bornierte Negation aller Selbstständigkeit. Und im Krieg zeigt der seine Niedertracht, viehische Grausamkeit; da wird es beinahe imposant."

Vieles ist noch in der Schwebe; dazu gehört Schmitts Verhältnis zu Juden. Nach 1933 fungiert er als Sprecher der Hochschullehrer im "Bund nationalsozialistischer deutscher Juristen" und eröffnet in dieser Funktion 1936 eine Tagung zum Thema "Das Judentum in der Rechtswissenschaft" mit einem Vortrag, den er später unter dem Titel "Die deutsche Rechtswissenschaft im Kampf gegen den jüdischen Geist" publiziert. Gut zwanzig Jahre zuvor schwankt Schmitt noch. Manchmal packt ihn "Angst vor den Juden", von denen er sich durchschaut fühlt: "Vor dem Juden gibt es kein Geheimnis." Sie scheinen ihm wendig und kaum zu greifen: "wie flink wissen sich die Juden dem Krieg anzupassen und sind gleich eifrig dabei, die schönen Äffchen". Gleichzeitig fühlt er sich ihnen nahe: "es gibt doch mehr gebildete Menschen unter den Juden als unter den Christen, deshalb ist eher mit ihnen auszukommen."

Auch Bildung ist ein durchgehendes Motiv, und zwar dient sie der Abgrenzung, der Selbsterhöhung. Die Niederen hingegen, so meint der Sozialaufsteiger, sind "Proleten". Das klassenspezifische Schimpfwort ist klassenübergreifend gebraucht; bei Gelegenheit ist auch der Geheimrat als Prolet benannt, ja sogar an schlechten Tagen Schmitt selbst. Auf diese Weise erhebt sich der Abhängige, bei dem es zu kontinuierlicher Arbeit noch nicht reicht, der aber auch, von bürgerlichem Werkethos geprägt, weder genialische Oberflächlichkeit noch die großbürgerliche Tendenz zum gedankenarmen Wohlleben zu akzeptieren vermag.

So hat Schmitt im kritischen Impuls recht und sind seine Schlussfolgerungen zunächst widersprüchlich. Die Tagebücher erscheinen dabei in ihrer gattungsbedingt offenen Form als Experimentierfeld für die späteren Schriften, die bei größerem Anspruch an theoretische Konsequenz ähnliche Konflikte evozieren. In der Weimarer Republik etwa entlarvt Schmitt präzise die Widersprüche der parlamentarischen Demokratie und tritt als Apologet einer imperialistischen Außenpolitik und einer gegen die "Proleten" gerichteten Innenpolitik auf, die die gleichen bürgerlichen Interessen bedient. Für die frühen Tagebücher gilt damit das gleiche wie für das Gesamtwerk: Man kann sie als ideologisierende Elaborate eines Rechten beiseite schieben, man kann sie aber auch - und vielleicht besser - als ebenso pointierte wie inkonsequente Kritik bürgerlicher Herrschaft interpretieren.

Der Herausgeber Ernst Hüsmert hat die Notizen aus der heute fast vergessenen Gabelsberger Kurzschrift übertragen und die Edition u. a. durch frühe Literatursatiren und einen Aufsatz Schmitts zum expressionistischen Dichter Theodor Däubler ergänzt. Rezensionen zu seinen ersten Publikationen erhellen die Zusammenhänge, in denen seine wissenschaftlichen Gehversuche sich zu behaupten hatten und behaupteten. Nicht immer hilfreich sind leider Hüsmerts Kommentierungen; allzu großzügig mit Einschüben verfährt er insbesondere bei einer Beilage zum Tagebuch 1912, wo er simple kritische Exzerpte, die irgendwie ins Konvolut hineingeraten sein mögen, durch ausführliche Zitate aus dem Kommentierten in den Rang eigener Texte Schmitts emporhebt. Wichtig freilich sind nicht solche Ergänzungen, sondern das Tagebuch selbst, das sich als Ort von Vorgefechten erweist, die die Schlachten in der Weimarer Republik antizipierten.

Titelbild

Carl Schmitt: Tagebücher vom Oktober 1912 bis Februar 1915.
Herausgegeben von Ernst Hüsmert.
Akademie Verlag, Berlin 2003.
431 Seiten, 44,80 EUR.
ISBN-10: 3050037318

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