Der letzte gemeinsame Tag von Alice und Jules

Diane Broeckhoven gelingt mit "Ein Tag mit Herrn Jules" ein literarisches Juwel

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Deutschland ist sie fast unbekannt, die in Antwerpen geborene Schriftstellerin Diane Broeckhoven, obwohl sie für ihre zahlreichen Jugendbücher viele Preise erhielt.

"Ein Tag mit Herrn Jules", bereits 2001 erschienen, wurde nun in hervorragender Übersetzung durch Isabel Hessel im C. H. Beck Verlag herausgegeben und prompt von Elke Heidenreich in ihrer Sendung "Lesen!" sehr gelobt.

Es ist das zweite Buch der Autorin, das sich vornehmlich an Erwachsene richtet. Und es befasst sich mit einem Thema, das trotz der immensen Diskussionen der letzten Jahre im Grunde immer noch tabuisiert wird: In Deutschland wird nicht gestorben, sondern abgewickelt. Traditionelle Rituale wie die Totenwache, bei der die Verstorbenen noch drei Tage und Nächte im Haus aufgebahrt werden, sind nahezu verschwunden. Die Hinterbliebenen sind verpflichtet, innerhalb von zwei Stunden nach dem Ableben des Angehörigen einen Arzt zu verständigen (falls jemand zu Hause verstorben ist und nicht in öffentlichen Einrichtungen), damit dieser ordnungsgemäß den Tod feststellen kann. Damit wird eine Maschinerie in Gang gesetzt, die unaufhaltsam ist: Nach der ärztlichen Untersuchung kommt in der Regel ein Bestattungsunternehmer und holt den Verstorbenen sofort ab, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit - die Trauernden bleiben allein zurück.

Zeit für einen Abschied bleibt in dieser sachlichen Atmosphäre kaum, der Rückblick auf das gemeinsame Leben muss mit anderen geteilt werden, die geliebte Person ist verschwunden.

Mit einer solchen Situation setzt Diane Broeckhovens Erzählung ein: Alice und Jules sind ein gemeinsam alt gewordenes Ehepaar mit ganz eigenen Ritualen und Gewohnheiten. Eines dieser Rituale besteht darin, dass Jules jeden Morgen gegen acht Uhr das Frühstück für sich und seine Frau zubereitet. Alice steht auf, wenn der Kaffeeduft ins Schlafzimmer zieht. An diesem Morgen ist etwas anders. Jules sitzt nicht wie gewohnt in der Küche, sondern auf dem Sofa im Wohnzimmer. Er ist tot, wie Alice feststellt. Und noch bevor sie richtig begreift, was geschehen ist, erkennt sie: "Jules würde erst dann wirklich tot sein, wenn sein Sterben bis ins Mark zu ihr durchgedrungen war. Bisher traf die Wahrheit lediglich von außen zu, an den äußeren Enden ihrer Nerven."

Alice beschließt, auf ihre Weise Abschied zu nehmen von ihrem Mann. Sie schaut ihn ganz genau an, redet mit ihm, frühstückt, badet. Als David, ein autistischer Junge aus dem dritten Stock, zu seiner täglichen Schachpartie mit Jules eintrifft, reagiert dieser ähnlich ruhig wie sie und konstatiert: Jules ist tot. Er spielt trotzdem seine Partie Schach - und Jules gewinnt. Wegen eines Unfalls von Davids Großmutter bleibt David bei Alice, hält mit ihr gemeinsam Totenwache und trägt mit seiner festen Ordnung (die er aufgrund seines Krankheitsbildes benötigt, um sich sicher zu fühlen) zum Gelingen und zur Normalität dieses letzten Tages bei. Postmoderne Totenwache, könnte man meinen.

Die Intensität dieses Zeitraums lässt etwas reifen, das mit dem Tod von Jules eingesetzt hat: "Die leere Hülle ihres Mannes war ihr innerhalb eines Tages genauso vertraut geworden wie sein lebender, atmender Körper in den vergangenen Jahren. Der Kern seines Wesens war im Laufe des Tages in ihr aufgegangen und hatte sich wie ein Ölfleck unter ihrer Haut ausgebreitet. Er war ein Teil von ihr geworden. Kein Bestattungsunternehmer, Notar oder Pastor, der ihn noch von ihr trennen konnte."

Der Junge und die alte Frau übernachten im Ehebett, Jules sitzt auf der Couch. Am nächsten Morgen duftet es wieder nach Kaffee, David ist vor Alice wach und beginnt einen weiteren aus festen Strukturen und Regeln bestehenden Tag. Alice kann loslassen.

Ein sehr dichter Text, poetisch und nüchtern zugleich, wenn Alice sich immer wieder an ihren toten Mann lehnt, seine Wärme und seinen Geruch sucht. Oder ihm nun Dinge sagt, die sie bisher für sich behalten hat. Sie deckt Geheimnisse auf, weil das zum Abschiednehmen dazu gehört. Natürlich weint sie zwischendurch, spürt den Schmerz und die Trauer darüber, dass ihr Lebensgefährte für sie nicht mehr erreichbar ist. Aber die Zeit dieses letzten gemeinsamen Tages erlaubt ihr auch, ihn in sich zu entdecken und zu sehen, was er ihr hinterlassen hat.

Dieser Wintertag ist der Raum, in dem sich dieses Wunder abspielen kann, zwischen Krabben mit Kartoffeln, Pfannkuchen und Kaffee, Schneetreiben und Schachspielen, Müdesein und Schlafen.

Diane Broeckhoven ist mit ihrer Erzählung ein wirklich eindrucksvoller Text gelungen. Die stilistische Dichte ist vergleichbar mit Noëlle Châtelets "Die Klatschmohnfrau", obwohl es in dem französischen Roman um eine Liebesgeschichte zwischen zwei alten Menschen geht. Aber auch "Ein Tag mit Herrn Jules" ist eine Liebesgeschichte, nicht nur ein Abschiednehmen, aber eine, die endet. Alles ist vorhanden in dieser Erzählung, weshalb das gewählte Motto aus dem Tibetischen Buch vom Leben und Sterben wirklich gut passt:

"Was wir aus unserem Leben gemacht haben, läßt uns zu dem werden, was wir sind, wenn wir sterben. Und alles, absolut alles, zählt."

Titelbild

Diane Broeckhoven: Ein Tag mit Herrn Jules.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Isabel Hessel.
Verlag C.H.Beck, München 2005.
92 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-10: 3406529755

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