Einfach erhaben

Susanne Langes geglückte Übertragung von Luis Cernudas "Wirklichkeit und Verlangen"

Von Katharina DelogluRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Deloglu

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer vor drei Jahren in Spanien eine Buchhandlung betrat, stolperte über ihn. Spätestens an der Kasse ragte ein Stapel verschiedenster Ausgaben von Luis Cernuda in die Höhe und machte demonstrativ auf den Dichter aufmerksam. Es war das Jahr seines 100. Geburtstags. Spanien feierte einen seiner großen, seiner ganz großen Lyriker des 20. Jahrhunderts mit Lesungen, wissenschaftlichen Kongressen und Veranstaltungen jeder Art. Eklatant dagegen der Unterschied zu Deutschland: Das Verzeichnis lieferbarer Bücher kannte keinen Luis Cernuda, und erst auf Umwegen und mit viel Glück konnte der deutsche Leser einzelne Gedichtübertragungen in wissenschaftlichen Zeitschriften oder Lyrikanthologien finden.

Cernuda, ein weißer Fleck auf der literarischen Landkarte deutscher Machart, deren Berge und Täler von Übersetzungen gezeichnet sind. Frühe Erkundungen in das lyrische Niemandsland unternahm Ende der 70er Jahre der Schriftsteller und Übersetzer Erich Arendt mit einer Ausgabe bei Reclam Leipzig, einer umfangreichen Anthologie mit Schwerpunkt auf Cernudas Jugendlyrik. Eine weitere Landvermessung nimmt jetzt, 26 Jahre später, Susanne Lange vor, die in einer zweisprachigen Ausgabe ebenfalls eine Auswahl aus Cernudas lyrischem Hauptwerk "Wirklichkeit und Verlangen" trifft, allerdings mit Gewichtung auf der späteren Lyrik.

Luis Cernuda war ein Außenseiter. Geboren und aufgewachsen im konservativen Andalusien, litt er unter einem strengen Vater und vor allem einer kleinbürgerlichen, verknöcherten Gesellschaft, deren traditionelle Wertvorstellungen - Ehre, Religion, Familie - keine Ausnahme duldeten. Schon in seinen frühen Gedichten zeichnen sich leitmotivisch "Mauern" ab, die er wegen seiner Homosexualität umso unerbittlicher empfinden musste. "Placeres prohibidos" - "verbotene Lüste" - nennt er einen frühen Gedichtzyklus.

Nach dem Tod der Eltern zieht Cernuda in die bewegte Metropole Madrid und lernt dort jene Dichter kennen, die später als Generation von 27 in die Literaturgeschichte eingehen: darunter Federico García Lorca, Vicente Aleixandre, Jorge Guillén und Rafael Alberti. Im spanischen Bürgerkrieg als Soldat der Republikaner bald gescheitert, emigriert er 1938 nach London und später in die USA. Exil und Fremde prägen fortan sein Leben. In Mexiko, das er mehrfach bereist, entdeckt er schließlich Sprache, Klima und Lebensart seiner Heimat wieder. 1963 verstirbt er dort im Haus einer Freundin.

Die Lebensgeschichte Cernudas windet sich durch Unterdrückung, Krieg und Exil und nimmt so einen labyrinthischen Lauf. Immer bleibt dabei Einsamkeit eine existenzielle Erfahrung seines Lebens und Werks. Luis Cernuda war ein scheuer Charakter, mied den Kontakt zu anderen und empfand seine Umgebung häufig als eitel, tumb und verständnislos. "Die Erde wurde vermessen von den Menschen / mit ihren engen Häusern und schäbigen Ehen, / [...] auf ihr ist kein Platz für den einsamen Menschen, / den blendend nackten Sohn des göttlichen Gedankens." Heimat und Zuflucht bot dem Dichter allein die Sprache.

In diesem Reservat des inneren Rückzugs sind es meist universelle Themen, die Cernuda in schlichte, erhabene Sprache kleidet: Erinnern und Vergessen, Zeit und Tod oder Musik als Ausdruck einer metaphysischen Harmonie der Dinge, seines so seltenen Glücksgefühls. Es ist der schmerzliche Blick des Romantikers, die Hoffnung auf eine "Wirklichkeit" seines "Verlangens" und damit auf eine Auflösung jener Antinomie, die der Titel bereits vorwegnimmt.

Cernuda versammelt in "Wirklichkeit und Verlangen" Gedichtzyklen von 1927 bis 1962. In den frühen Stücken hallt die Rezeption der spanischen Renaissance und Romantik wie auch des französischen Surrealismus nach. Dann aber wird der Ton nüchterner. Der Einfluss der englischen Literatur seiner Exiljahre entschlackt die romanische Inbrunst, Krieg und Exil hinterlassen ihre Spuren. In seinem letzten Zyklus, "Trostlosigkeit der Chimäre", rechnet Cernuda bitterer denn je mit seinen Landsleuten und seinem Leben ab.

In der Gedichtauswahl von Susanne Lange stehen die verschlungenen Gewächse der Jugendlyrik Cernudas in einem knapp bemessenen Winkel. Lange strebt nach klareren Aussagen, nach greifbaren Konturen eines in Deutschland noch namenlosen Dichters. Cernudas offene Kritik an der gesellschaftlichen Intoleranz, seinem autoritären Elternhaus, vor allem aber an den menschenverachtenden Greueln des Bürgerkriegs liest sich daher als Dokument eines Zeit- und Leidensgenossen. Seine Lyrik erhält Zeugnischarakter, gewinnt narrative Züge und mündet in epische Breite, vor allem in den von der Übersetzerin ausgewählten Langgedichten.

Susanne Lange ist mit "Wirklichkeit und Verlangen" eine hervorragende Übersetzung gelungen. Eine Übersetzung, die den Pathos und die Melancholie des Originals aufgreift, die Cernudas ureigene Kombination von archaischer Einfachheit und Erhabenheit ins Deutsche überträgt und auch seine stilistischen Eigenheiten nachbildet, wo es die deutsche Sprache zulässt. In diesem Format liegt nun ein großer spanischer Dichter dem deutschen Leser in der Hand: ein weißer Fleck weniger auf der literarischen Landkarte.

Titelbild

Luis Cernuda: Wirklichkeit und Verlangen. Gedichte. Spanisch und Deutsch.
Auswahl, Übertragung und Nachwort von Susanne Lange.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2004.
293 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-10: 3518415913

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