Literarische Landeskunde
Erzählungen aus Südkorea
Von Kai Köhler
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseEine junge Frau kehrt von ihrem Studium in Deutschland in die koreanische Heimat zurück. In der Fremde hat sie Selbstvertrauen gewonnen und lässt sich nun nicht mehr von Männern sexuell ausbeuten; schlimm genug für drei ihrer Bekannten, die erkennen müssen, dass mit ihr nicht länger nach Belieben umzuspringen ist. Kurz darauf wird sie ermordet; und der Protagonist in Kim Young-has "Klingende Weihnachtsgrüße" (2004) sieht sich unter Verdacht. Hier setzen die eigentlichen Konflikte ein: das Misstrauen unter den drei Männern, ob einer von ihnen der Täter ist, und der Argwohn der Ehefrau, die immer schon ahnte, dass auch ihr Mann das Bett des Opfers geteilt hat. Mit Meisterhaft verdichtet Kim das Lastende, deutet mit kleinen Gesten an, wie vergiftet Freundschaft und Ehe sind und auf welch schäbige Triumphe die Beteiligten hoffen. So neigt die Ehefrau zu einer funktionalen Sicht der Dinge: Sollte ihr Mann der Täter sein, wäre eine Scheidung kein Problem, und sie selbst würde sicher von Frauenmagazinen interviewt. Allein dass sie ihren Mann für zu pedantisch für einen Mord hält, lässt sie doch lieber auf einen tödlichen Unfall und die Lebensversicherung hoffen.
Was der 1968 geborene Kim hier beschreibt, ist für die koreanische Literatur nicht neu. Doch er beschreibt es so, dass der Leser es sich selbst erschließt und kein allzu geschwätziger Erzähler es ihm einbläut. Dagegen ist der 1941 geborene Kim Wonil, von dem im Pendragon Verlag auf Deutsch bereits der lesenswerte Roman "Wind und Wasser" vorliegt, in der Sammlung von Sylvia Bräsel und Lie Kwang-sook mit der schwächeren Erzählung "Unvergessen" (1982) vertreten. Auch hier geht es um beengtes, konfliktreiches Wohnen, doch ist allzu viel erklärt statt skizziert - und am Ende gar Versöhnung angedeutet.
Kang Sok Kyong (geb. 1951) schreibt in "Hinter Glas" (1984) kaum avancierter: Während der Mann im Beruf aufgeht, verkümmert seine Frau im modernen Apartment, das seinen Erfolg beglaubigt. Die jüngste Autorin der Sammlung, die 1970 geborene Han Kang, bearbeitet in "Die Früchte meiner Frau" (1997) ein ähnliches Motiv, das sie allerdings ins Fantastische verschiebt: blaue Flecken auf dem Körper der Frau breiten sich immer mehr aus, allmählich verholzt sie, und ihrem Mann bleibt nichts übrig, als sie einzupflanzen und zu gießen. Paradox genug, führt gerade ihr Sprachverlust wieder zu Verständigung, wendet sich der Mann erst der Pflanze zu, die im Herbst dann verdorrt, um doch einige bitter schmeckende Früchte zu hinterlassen, die vielleicht zu neuem Leben führen.
Es mag bei der Lektüre des Bands so scheinen, als entwickle sich die koreanische Literatur schnell zum Besseren und Anspruchsvolleren. Die älteste Erzählung des ältesten vertretenen Autors, "Panmunjom" (1961) von Lee Hochol (geb. 1932), wirkt befremdlich. Am einzigen Grenzübergang zwischen Nord- und Südkorea, eben in Panmunjom, treffen sich eine Frau aus dem Norden und ein Mann aus dem Süden; aller Emanzipation entgegen verliebt sich die Frau in den recht patriarchalisch daherkommenden Südler und lässt sich bei Regen von ihm in ein Auto zerren, was ihr wohl den Rückweg nach Norden unmöglich machen dürfte: ein eigenwilliges Verständnis vom Zusammenkommen von Nord und Süd. Viel überzeugender lenkt Su Jung In (geb. 1936) in "Heimkehr" (1979) den Leser, gerade weil er ihm nicht alles gleich verrät. Der anscheinend Neureiche, der sich anbietet, ehemalige Schulfreunde aus der aufs Materielle zentrierten Metropole Seoul aufs Land zu fahren, stellt sich doch nur als ein - sympathischer - Hochstapler heraus, auf den auf dem scheinbar friedlicheren Land die Polizei wartet.
Die Pointe trägt indessen nicht den Verlauf über 23 Seiten; ein überzeugender Spannungsbogen gelingt unter den älteren, realistischen Erzählern allein Hwang Sok-yong (geb. 1943), der in "Ein Mensch wie du und ich" (1972) eine Geschichte im historischen Prozess der Urbanisierung gestaltet. Wie um 1970 jedes Jahr Zehntausende, so kommt auch der Protagonist nach Seoul und versucht, sich als Arbeiter durchzuschlagen. Der Lohn reicht kaum zum Überleben, der Hunger quält, Alkohol und Verbrechen locken. Schließlich ist die Gewalt unvermeidlich, doch richtet sie sich nicht gegen die Profiteure der Industrialisierung, sondern sie bleibt innerhalb der Klasse und trifft eher zufällig irgendeinen Wachmann. Indem Hwang konsequent die Perspektive des Mörders wahrt, der einem offenkundig intellektuellen Gegenüber, einem Gefängnispsychologen vielleicht, das Geschehen recht feindselig skizziert, in einem allzu eindimensionalen Verständnis der Weg versperrt.
Angesichts einer solchen Erzählung eines in Südkorea erfolgreichen Autors wird am ehesten deutlich, dass der ästhetische Fortschritt in die Welt von Kim Young-ha und Han Kang auch Verlust ist: Der Verlust einer Literatur, die angesichts von Diktatur und gelenkten Massenmedien für große Teile der Bevölkerung handlungsleitend war. Unter den neuen Bedingungen von offeneren Massenmedien und expandierender Konsumwelt kann kritische Literatur nicht mehr die Funktion einnehmen, wie sie sie in Südkorea vor einem guten Jahrzehnt noch hatte. Das zeigt sich an der Erzählung "Die Stimme des Gewissens" (2004) von Gong Jiyoung (geb. 1963), die unter den relativ jüngeren Autoren Südkoreas eine politische, kritische Literatur repräsentiert: Ihr Thema sind hier die Berichte eines deutschen Journalisten über das Massaker, das Regierungstruppen unter demokratischen Demonstranten 1980 in der Stadt Kwangju angerichtet haben. Nun ist der Deutsche schwer krank, und einige Koreaner unternehmen es, ihm eine gegenwärtige koreanische Fernsehdokumentation über die Bedeutung seiner Reportagen zu übersetzen. Der Freundschaftsdienst für den Deutschen, der einst den fortschrittlichen Koreanern half, wird im Gegenzug den Koreanern zum Anlass der Selbstreflexion, inwieweit sie sich den Herrschenden angepasst haben und ob nicht der oppositionelle Impuls von 1980 wieder aufgenommen werden sollte.
Ein solcher Appell beschließt die Sammlung, die schon deshalb wertvoll ist, weil sie mit Kim Young-ha, Han Kang und Gong Jiyoung wichtige Autoren und Autorinnen zum ersten Mal in Deutschland vorstellt. Freilich sind nicht alle Erzählungen zu loben und haben zumal die hier ausgewählten Texte von Lee Hochol und Kim Wonil eher historische Bedeutung. Das Deutsch der zahlreichen Übersetzer ist von unterschiedlicher Qualität; zumeist stört es nicht, ab und an aber doch, und es begeistert freilich kaum je. Mit Erzählungen, die sich fast alle durch einen mehr oder minder geschickt vermittelten sozialen Realismus auszeichnen, haben die Herausgeberinnen die Hauptströmung der südkoreanischen Literatur akzentuiert und bieten so den Lesern einen angenehmen Zugang auch zu landeskundlichen Informationen - der qualitativ bedeutsame Nebenweg einer avantgardistischen Erzählliteratur, die sich einer eindeutigen Auflösung verweigert, bleibt dagegen noch zu öffnen.
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