„Eine gerade Linie von Goethe zu Freud“

Zum Streit um die Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises im Jahre 1930

Von Thomas AnzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Anz

Am Dienstag, dem 29. April 1930, um 11 Uhr traf sich das Kuratorium für die Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises, um über den nächsten Preisträger zu beraten. Die höchst kontroversen Sitzungsdebatten führten zu keinem Ergebnis. Am 3. Juli traf man sich ein weiteres Mal. Mit der knappen Mehrheit von sieben zu fünf Stimmen fiel danach die Wahl auf Sigmund Freud. Die Sitzungsprotokolle sind 1996 von dem Mitarbeiter des Frankfurter Sigmund Freud Instituts Thomas Plänkers vollständig veröffentlicht worden. Bei deren Lektüre und im Rückblick auf ihre Kontexte eröffnen sich Abgründe, persönliche und zeitgeschichtliche, reale und symbolische.

Versammelt waren in Frankfurt einige der bedeutendsten Repräsentanten des kulturellen Lebens: der preußische Kultusminister Adolf Grimme, der Vertreter der Sektion Dichtkunst der preußischen Akademie der Künste Alfred Döblin, der Vertreter der Goethe-Gesellschaft Julius Petersen, der Vertreter des Freien Deutschen Hochstifts Ernst Beutler, der Direktor des Weimarer Goethe-Museums Hans Wahl, der Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann, um zunächst nur einige zu nennen. Trotz der vielfach heftigen Divergenzen ging es distinguiert zu in diesem Gremium. Nur Döblin fiel gelegentlich mit Frechheiten aus dem Rahmen. Man brauche, so bemerkte er nebenbei, nur in die Goethegesellschaft zu gehen, „um zu sehen, wohin Goethe geraten ist.“

Döblins Aversionen richteten sich namentlich gegen Julius Petersen, den damals wohl renommiertesten Germanisten in Deutschland, der 1927 Vorsitzender der Goethe-Gesellschaft geworden war. Nachdem der Oberbürgermeister und Sitzungsleiter Landmann sowie der Sekretär des Kuratoriums, der Schriftsteller Alfons Paquet, die Liste der vorgeschlagenen Kandidaten mitgeteilt und kommentiert hatten, meldete sich der in vieler Hinsicht furchtbare Literaturwissenschaftler, der vier Jahre später in einem Aufsatz über „Die Sehnsucht nach dem Dritten Reich in deutscher Sage und Dichtung“ sein Bekenntnis zum Führer ablegte, als erster zu Wort. Er setzte sich für Wilhelm Schäfer ein (der dann 1941 den Preis bekam). Mit reserviertem Blick auf Freud hingegen sprach Petersen von „einer wissenschaftlichen Persönlichkeit, bei der es immerhin fraglich sein muß, ob sie zu dem Namen Goethes in so enger Beziehung steht.“ Damit war der nachfolgenden Debatte ein zentrales Thema vorgegeben: die Frage nach den Affinitäten und Differenzen zwischen Freud und Goethe. Das sei Stoff für ein ganzes Buch, bemerkte ein Sitzungsteilnehmer. Die Frage blieb, über den Streit um den Goethe-Preis hinaus, von wissenschafts- und literaturgeschichtlicher, von biografischer und auch psychoanalytischer Brisanz.

„Eine gerade Linie von Goethe zu Freud“: Der Titel meines Beitrags zitiert eine Behauptung Döblins während der Debatte. Man muss sie mit einem Fragezeichen versehen. Döblin selbst nahm sie später zurück. Die Gründe dafür sind noch zu klären. Er blieb jedoch in dem Streit der Protagonist der Freudfürsprecher. Ohne ihn hätte Freud den Preis nicht bekommen. Döblin war es, der sich unmittelbar nach Petersen zu Wort meldete und dem Germanisten sogleich vehement widersprach. Der Arzt und Dichter berief sich dabei auch auf seine eigene medizinische Kompetenz und psychoanalytische Praxis, und er scheute sich nicht, sich auf die Autorität des von ihm sonst wenig geliebten Thomas Mann zu berufen, der sich mit Freud andauernd auseinandergesetzt habe. „Die Frage, die aufgeworfen wird, ist die, was hat seine [Freuds] Arbeit mit Goethe zu tun. Und da muß ich sagen, es geht ein direkter Zug, eine gerade Linie von Goethe zu Freud […]. Eine Linie von Freud zu Goethe zu ziehen, ist leicht für jeden Menschen, der sein Werk kennt. […] Goethes Entwicklung ging darauf hin, das Chaotisch-Dionysische zu überwinden durch große apollinische Gestalten. Ich brauche nur diese Wendungen apollinisch-dionysisch durch die Termini von Freud zu ersetzen, um die Linie zwischen Freud und Goethe zu ziehen.“ Freuds Programm sei es nämlich, „das Unbewußte ins Bewußtsein zu heben“. Freud, so fasste Döblin sein Plädoyer zusammen, sei „ein Mann von größtem Format, von Weltgeltung, ein Mann, der in unmittelbar idealem und ethischen Zusammenhang mit Goethe steht.“

Über solche Behauptungen lässt sich gewiss noch heute trefflich streiten. Und noch in jüngerer Zeit ist zu dem Thema sowohl von Psychiatern und Psychoanalytikern als auch von Literaturwissenschaftlern etliches geschrieben worden. Das Niveau der damaligen Diskussion darüber war zum Teil erschreckend niedrig. Wollte man nachträglich Negativ-Preise für die größten Niveaulosigkeiten vergeben, so müsste man sie zum einen an Hans Wahl vergeben, seit 1918 Direktor des Weimarer Goethe-Nationalmuseums und seit 1928 auch des Goethe- und Schillerarchivs, in der Zeit des Nationalsozialismus dann Herausgeber des Jahrbuchs der Goethe-Gesellschaft. Nachdem er sich an der ersten Sitzung nur schweigend beteiligt hatte, beschränkte er sich in der zweiten darauf, das, wie er sich ausdrückte, „gefühlsmäßig Peinliche“ der Vorstellung zu bekunden, die „Weihestätte“ des Goethe-Hauses könnte bei der Preisverleihung durch die leibhaftige Anwesenheit Freuds entheiligt werden. Den zweiten Niveaulosigkeitspreis hätte der Germanistikprofessor Hans Naumann verdient. Von der überschwänglichen Verehrung, die die französischen Surrealisten Freud entgegenbrachten (aus ihrem Umkreis ging übrigens Jacques Lacans Umschreibung der Psychoanalyse hervor), hatte er offensichtlich keine Ahnung, als er behauptete: „Die ganze romanische Welt hat sich Freud verschlossen.“ Die Resonanz der Psychoanalyse in Amerika konnte freilich auch er nicht ignorieren. Er wertete sie indes mit jenem Antiamerikanismus ab, der in deutschnationalen Kreisen damals verbreitet war. „In Amerika, ja da lebt er [Freud] und kennt man ihn, aber wir wissen ja, Amerika ist in geistigen Dingen infantil.“ „Die deutsche Wissenschaft“, so führte er weiter aus, „ist weit von Freud entfernt. […] Mir scheint das Ganze eine mehr russische Angelegenheit zu sein.“ Wieso „russisch“? Gemeint war offensichtlich „bolschewistisch“.

Substantieller war die Debatte, wo sie den wissenschaftsgeschichtlichen Ort der Freud’schen Psychoanalyse zu bestimmen versuchte. Dass sie in sich noch überdeutlich die Spuren des nachgoethezeitlichen naturwissenschaftlichen Positivismus aus dem 19. Jahrhundert trage, hob der Frankfurter Redakteur Werner Deubel kritisch hervor. Die epistemologischen Konflikte der Psychoanalyse mit der positivistischen Psychologie ihrer Zeit waren dem Mann offensichtlich unbekannt. Döblin beispielsweise schätzte die Psychoanalyse seit etwa 1920 gerade aufgrund ihres Abstands zu den Naturwissenschaften des 19. Jahrhunderts so hoch ein. Er sympathisierte mit ihr, weil sie sich von literarischen Texten so stark inspirieren ließ und selbst literarischen Darstellungsformen annäherte. Mit großer Genugtuung hatte Döblin in seiner Rede zu Freuds 70. Geburtstag am 26. Mai 1926 dessen mittlerweile berühmt gewordene Bemerkung in den „Studien über Hysterie“ zitiert: „Ich bin nicht immer Psychotherapeut gewesen, sondern bin bei Lokaldiagnosen und Elektrodiagnostik erzogen worden, und es berührt mich selbst eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren. […] Lokaldiagnostik und elektrische Reaktion kommen bei dem Studium der Hysterie eben nicht zur Geltung, während eine eingehende Darstellung der seelischen Vorgänge, wie man sie vom Dichter zu erhalten gewöhnt ist, mir gestattet, doch eine Art von Einsicht in den Hergang des Leidens zu gewinnen.“ Döblin fügt dem Zitat die Bemerkung hinzu: „so spricht einer, der etwas weiß.“

In der zweiten Sitzung des Kuratoriums wurde Freuds Literaturnähe zum entscheidenden Argument. Alfons Paquet bescheinigte ihm nicht nur schriftstellerische Qualitäten, sondern verwies zugleich auf seine literarischen Kenntnisse. „Er kennt sie [die Dichter] wie wenige, er zitiert sie auf das lebendigste in seinen Werken, wie ich es kaum bei einem anderen Schriftsteller gesehen habe.“ Freud hatte in der Tat dazu beigetragen, die sich im 19. Jahrhundert weit öffnende Kluft zwischen den zwei Kulturen, der naturwissenschaftlichen auf der einen Seite und der literarischen und geisteswissenschaftlichen auf der anderen, zu verkleinern. Die Psychoanalyse stand seit ihren Anfängen zwischen Literatur und Wissenschaft. Und gerade das machte sie für die literarische Intelligenz, zumindest für die Repräsentanten der literarischen Moderne, attraktiv.

Symptomatisch dafür ist, dass zumindest zwei der zahlreichen Gründungsmythen der Psychoanalyse, an denen Freud selbst mitgeschrieben hat, im Zeichen Goethes stehen. Davon wussten auch einige Mitglieder des Goethe-Preis-Kuratoriums. So führte Alfons Paquet zugunsten von Freud an: „Freud selbst erwähnt, daß er sich zum Studium der Medizin entschlossen habe unter der unmittelbaren Wirkung des Aufsatzes von Goethe über sein Verhältnis zur Natur. Sein Verhältnis zu Goethe ist immer ein sehr intensives geblieben. Ich habe von seinen Freunden gehört, wie sehr er sich besonders mit dem unbekannten Goethe befasse. Ich glaube, wir würden aus einer Äußerung Freuds über sein Verhältnis zu Goethe ein Dokument erhalten, das von großer Bedeutung wäre.“

Freud hatte in der Tat wiederholt seine wissenschaftliche Laufbahn mit dem Namen Goethes verbunden, u. a. in seinem 1924 verfassten Beitrag für die achtbändige Sammlung „Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen“. Hier schrieb er rückblickend: „ich weiß, daß der Vortrag von Goethes schönem Aufsatz ‚Die Natur‘ in einer populären Vorlesung von Prof. Carl Brühl kurz vor der Reifeprüfung die Entscheidung gab, daß ich Medizin inskribierte.“ Man weiß zwar inzwischen, dass der unter diesem Titel erschienene pantheistische Hymnus auf die Dynamik der Natur nicht von Goethe, sondern von Georg Christoph Tobler stammt, doch stimmt das noch heute in Goethe-Ausgaben abgedruckte Fragment, wie Goethe selbst kommentierte, „mit den Vorstellungen wohl überein, zu denen sich mein Geist damals ausgebildet hatte.“ Wieweit sich in Freuds späteren Theorien Spuren solcher Vorstellungen erhalten haben, kann hier nicht geklärt werden. Wichtiger ist mir denn auch, dass sich Freud nicht nur hier, sondern immer wieder auf Goethe beruft und ihn zur fachlichen und persönlichen Legitimationsinstanz seiner selbst stilisiert. Goethestilisierung und Selbststilisierung gehen dabei Hand in Hand.

Auf Freuds intellektuelle und, mehr oder weniger versteckte, persönliche Identifikation mit Goethe verweist auch ein zweiter Gründungsmythos der Psychoanalyse: die berühmte Fallgeschichte der Anna O. Die Frau mit dem Decknamen Anna O. gilt insofern als Mitbegründerin der Psychoanalyse, als sie im Zusammenspiel mit ihrem Arzt Josef Breuer spontan eine Methode der freien Assoziation entwickelte und selbst entdeckte, dass sie sich durch das Erzählen über ihre Krankheitssymptome von diesen befreien konnte – eine Prozedur, für die die Patientin selbst den Namen „talking cure“, Redekur, erfand.

Der Freud-Biograf Ernest Jones nannte Anna O. denn auch die „eigentliche Entdeckerin der kathartischen Methode“. Freud schrieb freilich die Verdienste der Entdeckung der talking cure zunächst allein Josef Breuer zu – und ihre Ausarbeitung zur Psychoanalyse sich selbst. Der eigenen Person bescheinigte er dabei bezeichnenderweise mit Goethe-Anspielungen faustische Qualitäten – die er Breuer wiederum absprach. Bei allem Respekt vor Breuer glaubte Freud später erkannt zu haben, was dieser nicht wahrzuhaben wagte: die sexuellen Bedeutungskomponenten in den Symptomen und Phantasien der Patientin sowie ein zweites wesentliches Element psychoanalytischer Theorie und Praxis, nämlich das Phänomen der Übertragung.

In einem Brief an Stefan Zweig hat Freud dies näher ausgeführt: „Was bei Breuers Patientin wirklich vorfiel, war ich imstande, später lange nach unserem Bruch zu erraten, als mir plötzlich eine Mitteilung von Breuer einfiel, die er mir einmal vor der Zeit unserer gemeinsamen Arbeit in anderem Zusammenhang gemacht und nie mehr wiederholt hatte. Am Abend des Tages, nachdem alle ihre Symptome bewältigt waren, wurde er wieder zu ihr gerufen, fand sie verworren, sich in Unterleibskrämpfen windend. Auf die Frage, was mit ihr sei, gab sie zur Antwort: ‚Jetzt kommt das Kind, das ich von Dr. B. habe‘. In diesem Moment hatte er den Schlüssel in der Hand, der den Weg zu den Müttern geöffnet hätte, aber er ließ ihn fallen. Er hatte bei all seinen großen Geistesgaben nichts Faustisches an sich. In konventionellem Entsetzen ergriff er die Flucht und überließ die Kranke einem Kollegen. Sie kämpfte noch monatelang in einem Sanatorium um ihre Herstellung.“

Seinen Weg zur Erkenntnis des Unbewussten begriff Freud also als „Gang zu den Müttern“, und auch in dem Mut dazu verglich er sich mit Faust. Gerade mit Faust hat sich Freud wiederholt identifiziert. Von den zahlreichen Goethe-Zitaten einmal abgesehen, mit denen der Besitzer der 133 Bände umfassenden Sophien-Ausgabe seine Überlegungen eher beiläufig illustrierte und schmückte, tangieren manche Rekurse auf Goethe die Psychoanalyse in ihrer Substanz.

Am Ende der 31. Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse, etwa zwei Jahre nach der Verleihung des Goethe-Preises und sieben Jahre vor seinem Tod (er wurde wie Goethe 83 Jahre alt), fasste Freud die therapeutischen Intentionen seines Projekts der Psychoanalyse in die berühmte Formel: „Wo Es war, soll Ich werden“. Er illustrierte das mit einem Bild, das von manchen wohl nicht zu Unrecht als Anspielung auf jenes Kolonialisierungsprojekt gelesen wurde, das Goethes Faust am Ende seines Lebens in die Wege leitet. Das Ich zu stärken sei, so Freud, „Kulturarbeit etwa wie die Trockenlegung der Zuydersee“. Thomas Mann, der sich mit Goethe ähnlich wie Freud identitfizierte, hat 1936 seine zweite große Freud-Rede mit dem Hinweis auf eben dieses Bild beendet: „Freud hat seine Traumlehre einmal ‚ein Stück wissenschaftlichen Neulandes‘ genannt, ‚dem Volksglauben und der Mystik abgewonnen‘. In diesem ‚abgewonnen‘ liegt der kolonisatorische Geist und Sinn seines Forschertums. ‚Wo Es war, soll Ich werden‘, sagte er epigrammatisch, und selber nennt er die psychoanalytische Arbeit ein Kulturwerk, vergleichbar der Trockenlegung der Zuydersee. So fließen uns zum Schluß die Züge des ehrwürdigen Mannes, den wir feiern, hinüber in die des greisen Faust, den es drängt, ‚das herrische Meer vom Ufer auszuschließen, der feuchten Breite Grenze zu verengen‘.“

Freud selbst hatte früher schon die Nähe zu Goethe auch auf biografischer Ebene gesucht. Unter der Frage nach den lebensgeschichtlichen Voraussetzungen jenes persönlichen Mutes, durch den Goethe (wie sein Faust) ausgezeichnet sei, analysierte er 1917 in dem Aufsatz „Eine Kindheitserinnerung aus ‚Dichtung und Wahrheit‘“ die Episode vom zerbrochenen Geschirr. Sie wird von Freud als Deckerinnerung interpretiert, mit der Goethe zu Beginn seiner Lebensgeschichte unbewusst den Kern seines Wesens mitteile. Ihr unausgesprochener Sinn sei: „Meine Stärke wurzelt in meinem Verhältnis zur Mutter“, deren erstgeborener Sohn und erklärter Liebling Goethe war. Eben jene unbestrittene Liebe der Mutter ist es, die „fürs Leben jenes Eroberergefühl, jene Zuversicht des Erfolges [erzeugt], welche nicht selten den Erfolg wirklich nach sich zieht“. Die Äußerung hat einen verborgenen Sinn, insofern Freud sich selbst als erstgeborenen und unbestrittenen Liebling seiner Mutter verstand und sich als Wissenschaftler das Gefühl des Eroberers zuschrieb. Im Bereich der Naturforschung wird der männliche Mut zum – Goethe und Freud auszeichnenden – faustischen Forschungsdrang. Die frühe Liebe der Mutter führt zur Fähigkeit, die ’sexuellen‘ Geheimnisse der Mutter Natur zu entdecken und die Erkenntnis gegen den väterlichen Zwang von Gesellschaft und Über-Ich zu behaupten.

Aufschlussreich für Freuds Identifikation mit Goethe ist schließlich die Rede zur Preisverleihung selbst. Er war zu krank für die Reise nach Frankfurt und bat, seine Tochter Anna als Vertreterin zu akzeptieren. An Alfons Paquet schrieb er: „Die Festgesellschaft wird nichts dadurch verlieren, meine Tochter Anna ist gewiß angenehmer anzusehen und anzuhören als ich. Sie soll einige Sätze vorlesen, die Goethes Beziehungen zur Psychoanalyse behandeln und die Analytiker selbst gegen den Vorwurf in Schutz nehmen, daß sie durch analytische Versuche an ihm die dem Großen schuldige Ehrfurcht verletzt haben.“ Den Erwartungen Paquets entsprach Freud damit zunächst nicht. Paquet hatte sich gewünscht, von Freud Genaueres über seine Beziehung zu Goethe zu erfahren. Freud kehrte diese Erwartung auf gewitzte Weise um. Der Preis, so formulierte er im Text der Ansprache, mahne ihn, „sich gleichsam vor ihm [Goethe] zu rechtfertigen“; er werfe „die Frage auf, wie er sich verhalten hätte, wenn sein für jede Neuerung der Wissenschaft aufmerksamer Blick auch auf die Psychoanalyse gefallen wäre.“

Freud griff hier mehr oder weniger bewusst eine Konstellation auf, die er Jahrzehnte vorher in einem Traum durchlebt hatte. In der „Traumdeutung“ hatte er davon erzählt, in dem Abschnitt mit dem Titel „Der absurde Goethetraum“. In dem Traumgeschehen greift Goethe, und zwar in seinem Aufsatz „Die Natur“, einen jungen Mann an. Und der fühlt sich durch diese heftige Kritik vernichtet. Der Psychiater Uwe Henrik Peters hat diesen Traum vor etwa zehn Jahren gedeutet. Er interpretierte ihn als Angst Freuds, von einer Autorität wie Goethe ähnlich vernichtend kritisiert zu werden. In Freuds Goethe-Preisrede zeigt sich der imaginierte Kritiker Goethe ungleich freundlicher. „Ich denke, Goethe hätte nicht, wie so viele unserer Zeitgenossen, die Psychoanalyse unfreundlichen Sinnes abgelehnt. Er war ihr selbst in manchen Stücken nahegekommen, hatte in eigener Einsicht vieles erkannt, was wir seither bestätigen konnten, und manche Auffassungen, die uns Kritik und Spott eingetragen haben, werden von ihm wie selbstverständlich vertreten.“ So habe er den Eros immer hochgehalten, „seine Macht nie zu verkleinern versucht“, habe „die unvergleichliche Stärke der ersten affektiven Bindungen des Menschenkindes“ erkannt (in den Versen: „Ihr naht euch wieder, schwankende Gestalten / Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt“), er habe in der Nachfolge des Aristoteles das Träumen als „Fortsetzung unserer Seelentätigkeit in den Schlafzustand“ begriffen und in der „Iphigenie“ den Fall einer kathartischen Heilung (gemeint ist die des Orest) unter dem wohltätigen Einfluss einer liebevollen Teilnahme (der Iphigenie) geschildert. Die protopsychoanalytische talking cure wird in Freuds Goethe-Preisrede nicht Breuers Umgang mit Anna O. zugeschrieben, sondern einigen Versuchen Goethes zur psychischen Hilfeleistung: „Ein von Goethe als scherzhaft bezeichnetes Beispiel einer psychotherapeutischen Beeinflussung möchte ich hier ausführlich mitteilen, weil es vielleicht weniger bekannt und doch sehr charakteristisch ist. Aus einem Brief an Frau v. Stein (Nr. 1444 vom 5. September 1785): ‚Gestern Abend habe ich ein psychologisches Kunststück gemacht. Die Herder war immer noch auf das Hypochondrischste gespannt über alles, was ihr im Carlsbad unangenehmes begegnet war. Besonders von ihrer Hausgenossin. Ich ließ mir alles erzählen und beichten, fremde Untaten und eigene Fehler mit den kleinsten Umständen und Folgen und zuletzt absolvierte ich sie und machte ihr scherzhaft unter dieser Formel begreiflich, daß diese Dinge nun abgethan und in die Tiefe des Meeres geworfen seyen. Sie ward selbst lustig darüber und ist würklich kurirt.‘“

Mit Goethe identifizierte sich Freud jedoch noch aus einem anderen Grund. In seiner Preisrede lässt dies sein Vergleich zwischen Leonardo da Vinci und Goethe erkennen. Im Unterschied zu der ebenso vielseitigen Persönlichkeit Leonardo da Vincis sei es Goethe gelungen, den Künstler und Forscher in sich zu vereinen. „In Leonardos Natur vertrug sich der Forscher nicht mit dem Künstler, er störte ihn und erdrückte ihn vielleicht am Ende. In Goethes Leben fanden beide Persönlichkeiten Raum nebeneinander, sie lösten einander zeitweise in der Vorherrschaft ab.“ Dass in Leonardo der Forscher den Künstler erdrückte, führte Freud auf eine Entwicklungshemmung zurück, „die alles Erotische und damit die Psychologie seinem Interesse entrückte.“ Und er fügte hinzu: „In diesem Punkt durfte Goethes Wesen sich freier entfalten.“ In diesem Punkt hatte sich auch die Psychoanalyse freier entfaltet. In der Fähigkeit zur Anerkennung des Sexuellen, die eine Voraussetzung der gelungenen Synthese von Kunst und Wissenschaft sei, sah Freud also eine weitere Bestätigung seiner Affinität zu Goethe.

Jenseits solcher individualpsychologischen Sichtweisen ist an diesen Überlegungen aus kulturgeschichtlicher Perspektive folgendes bemerkenswert. Freud ist ein Beispiel dafür, wie um und nach 1900 im Rückgriff auf Goethe nach Ansätzen gesucht wurde, die sich im 19. Jahrhundert etablierende Kluft zwischen den zwei Kulturen, der naturwissenschaftlichen und der literarischen, zu überwinden. Der Streit um den Goethe-Preis im Jahre 1930 zeigte allerdings, dass sich mittlerweile andere schwerwiegende Kulturdifferenzen etabliert hatten, eine neue tiefe Kluft, ja ein regelrechter Kulturkampf zwischen literarischer und literaturwissenschaftlicher Intelligenz. Mit Blick auf die Goethe-Preis-Debatte im Jahr 1930 hat Walter Müller-Seidel in einem 1993 erschienen Aufsatz darauf hingewiesen. Aufschlussreich für das Verhältnis zwischen der neueren Literaturwissenschaft und der literarischen Moderne sei die Frage, wieweit die Literaturwissenschaft zwei Wegbereiter der modernen Literatur in ihr Bewusstsein einbezogen habe: Nietzsche und Freud. In der literaturwissenschaftlichen Aversion gegenüber Freud und in dem literaturwissenschaftlichen Unwissen darüber, welche Bedeutung er für die moderne Literatur hatte, zeigten sich in der Debatte des Jahres 1930 auf exemplarische Weise die abgrundtiefen Gräben zwischen literarischer und literaturwissenschaftlicher Intelligenz. Es waren, mit einer Ausnahme, Germanisten, die gegen Freud stimmten, und es waren vor allem die Schriftsteller der Moderne, allen voran Alfred Döblin, die sich für ihn einsetzten.

Denn die literarische Moderne zeigte sich an der Psychoanalyse interessiert, seit es diese gab, zuerst in Wien, spätestens seit 1910 in allen anderen deutschsprachigen Zentren des literarischen Lebens, seit den zwanziger Jahren in ganz Europa und in den USA. Thomas Mann hatte im Mai 1929 im Auditorium Maximum der Münchner Universität seine erste große Rede über Freud gehalten und dabei der Psychoanalyse den Rang einer „Weltbewegung“ bescheinigt, „von der alle möglichen Gebiete des Geistes und der Wissenschaft sich ergriffen zeigen“. Es war zweifellos den Repräsentanten der literarischen Moderne zu verdanken, dass im Jahre 1930 noch nicht Wilhelm Schäfer oder Ludwig Klages, sondern Sigmund Freud den Preis erhielt. Von mitentscheidender Bedeutung war, dass Alfons Paquet in der zweiten Sitzung einen Antrag auf Verleihung des Nobelpreises an Sigmund Freud verlas, den dreißig Schriftsteller unterzeichnet hatten. Er verlas später auch noch die eindrucksvolle Namensliste der Unterzeichner. Es war eine Liste von Repräsentanten der literarischen Moderne. Auf ihr standen u. a. Lou Andreas-Salomé, Alfred Döblin, Iwan Goll, Walter Hasenclever, Hermann Hesse, Georg Kaiser, Thomas Mann, Walter Mehring, Romain Rolland, Ernst Toller, Ernst Weiss, Franz Werfel, Virginia Woolf, Paul Zech und Arnold Zweig.

Die Fraktion, die sich 1930 gegen Freud aussprach, konnte sich erst 1933, wenn auch auf problematische Weise, bestätigt sehen. Die Wege der literarischen Moderne und die der Psychoanalyse blieben auch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung eng miteinander verknüpft. So zivilisiert die Debatte um Freud im Namen Goethes um 1930 noch verlief und so frei sie noch war von antisemitischen Verlautbarungen, so zeichneten sich hier doch bereits intellektuelle oder besser antiintellektuelle Ressentiments ab, die auf den Zivilisationsbruch von 1933 vorausweisen. Warf man 1930 der Psychoanalyse u. a. vor, sie sei eine Theorie des Unterleibs, ihr Begriff des Unbewussten sei tierisch und bösartig, so übergab man 1933 in Frankfurt oder in Berlin, neben den literarischen Werken aus dem Umkreis der „entarteten“ Moderne, die Schriften Freuds mit folgender Formel den Flammen: „Gegen seelenzerfasernde Überschätzung des Trieblebens / Für den Adel der menschlichen Seele.“

Das psychoanalysefeindliche und literarisch antimoderne Ressentiment usurpierte nicht zuletzt den Namen Goethe. Die Debatte von 1930 zeigt auch, wie er sich missbrauchen ließ. Freud selbst war im übrigen ein Beispiel dafür, dass die Goetheverehrung den Zugang zur modernen Literatur verbauen konnte. Aufgrund seines klassizistischen Literatur- und Kunstverständnisses stand Freud der literarischen und künstlerischen Moderne zum Teil recht reserviert gegenüber. Es hängt auch mit Freuds Goethe-Verehrung zusammen, dass die literarische Moderne ihm trotz mancher Vorbehalte weit näher stand als er ihr.

Alfred Döblin war es, der während der Debatte 1930 erkannte, dass er sich mit der Behauptung, von Goethe führe ein gerader Weg zu Freud, auf eine Argumentationsweise eingelassen hatte, die sich gegen die Moderne richten und zugunsten von bloßen Goethe-Epigonen eingesetzt werden konnte. In seinem schriftlichen Votum für Freud, das bei der zweiten Sitzung (zu der Döblin nicht kommen konnte) verlesen wurde, appellierte er an das historische Sensorium für kulturelle Differenzen und Wandlungen. Freud sei repräsentativer „Vertreter einer Epoche, die in vollem Übergang und in voller analytischer Auflösung begriffen ist“; Goethe hingegen sei „der Mann einer geschlossenen, feudal-agrarischen deutschen Periode.“

Man mag, was die Geschlossenheit der Epoche um 1800 angeht, seine Zweifel haben, doch was Döblin aus seiner Behauptung folgert, ist gewiss bedenkenswert: „Man kann zur Not zweifellos geistige Zusammenhänge zwischen ihnen feststellen, aber die können niemals ehrlich die klaffenden Unterschiede dieser beiden überbrücken. / Aber das ist es gerade: soll der Goethepreis der Preis von Nachfolgern und Epigonen Goethes in irgendeinem Sinne sein, oder soll er eine geschlossene, für unser Heute repräsentative große geistige Persönlichkeit auszeichnen? Ich habe schon zuletzt für diese zweite Haltung plädiert, sie sogar als die einzig gute, tapfere und produktive Haltung bezeichnet. Man weiß, wer Goethe ist, ein Mann, der sein Leben in seiner Zeit gelebt hat, und so findet man die Männer, die heute mit seinem Preis zu ehren sind. In keinem Fall findet man diese Männer, wenn man von irgend einem ‚Goethischen‘ Merkmal ausgeht. Wenn der Goethepreis kein philologisch-historischer sein soll, sondern gestiftet von einer modernen Stadt, die der unendlich schweren geistigen heutigen Situation in Deutschland dienen will, so gehört Freud bestimmtest zu den Männern, auf die der Preis zu fallen hat.“

Döblins Votum ist ein Beispiel, wie es mit historischem Bewusstsein gelingen kann, den Respekt vor großen Kulturleistungen der Vergangenheit zu bewahren und ihn zugleich mit der geistesgegenwärtigen Öffnung des Blicks auf das Neue in einer veränderten Welt zu verbinden.

Anmerkung der Redaktion: Eine Fassung dieses Aufsatzes mit Zitatbelegen und Anmerkungen ist für Online-Abonnenten von literaturkritik.de als pdf-Datei hier zugänglich.