Zurück zum Garten Eden
In Lola Randls „Der Große Garten“ werden Triebe aller Art sichtbar
Von Jannick Griguhn
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIst der Garten Eden für den Menschen auf Erden zu erreichen? Folgt man der Etymologie des Begriffs Paradies, lautet die Antwort Ja, denn frei übersetzt bezeichnet das Paradies nichts weiter als eine Art eingezäunten beziehungsweise umwallten Lustgarten. Gerade Menschen aus urbanen Zentren suchen im eigenen Garten Ruhe vor dem Getöse der Stadt und fühlen sich dort mit der Natur verbunden. Einige Stadtbewohner*innen sehnen sich gar nach vergangenen Zeiten, in denen Menschen sich selbst versorgten und Ackerbau betrieben. Sie zieht es deshalb aufs Land, wo sie sich versprechen, autark und minimalistisch im Einklang mit der Natur zu leben. In Lola Randls mit autobiografischen Zügen durchwobenen Debütroman Der Große Garten zeigt sich jedoch, dass die Annäherung an die Natur und die Anpassung an das dörfliche Leben sich schwieriger gestalten als gedacht: Das Projekt „Garten Eden“ macht nämlich in erster Linie Arbeit.
Etwa ein Jahr begleiten die Leser*innen die namenlose Ich-Erzählerin, die gemeinsam mit ihrem Mann, ihren zwei Kindern, ihrem Liebhaber und ihrer Mutter in einem ebenfalls namentlich nicht genannten Dorf im Osten Deutschlands lebt. In kurzen Kapiteln beschreibt die Protagonistin die Besonderheiten verschiedener Tier- und Pflanzenarten, das Dorfleben, Religiosität und viele weitere Themen, wobei die Spezifika des dörflichen Zusammenlebens in ihrem Facettenreichtum beleuchtet werden. Ein wesentlicher Teil des Romans dreht sich um die Beziehung des seit fast fünfzig Jahren verheirateten Paars Irmgard und Hermann, die Pflanzen anderer Dorf- und Stadtbewohner*innen aufziehen. Das routinierte und aufeinander eingeschworene Leben dieses Paars steht dem chaotischen Lebensstil der Erzählerin konträr gegenüber. Trotz allerlei Unterschieden entwickeln sich im Dorf Freundschaften zwischen Neuankömmlingen und Alteingesessenen. Die Anonymität des Einzelnen in der Stadt, unter der so manch einer leidet, ist im Dorf aufgehoben. Allerdings bleiben dafür Geheimnisse und Fehltritte unter den Adleraugen der Nachbarinnen* und Nachbarn* selten im Verborgenen und schlummern im kollektiven Unterbewusstsein:
Das Dorf weiß alles, ihm entgeht nichts, nichts ist gering genug, um nicht beachtet zu werden. Und trotzdem gibt es eine Schwelle, unter der es sich nicht herumspricht. […] Das kollektive Unterbewusstsein in einem Dorf ist groß und da passt viel hinein. […] Es wird geboren und gestorben, verunfallt und fremdgegangen, gestohlen und gelogen, getrunken und gestritten, und jeder weiß das, weil es ja über der Schwelle liegt, unter der es nicht jeder weiß.
Randl kreiert eine Erzählinstanz, die diesem kollektiven Unterbewusstsein nahekommt und in erlebter Rede von den Motiven und Gedanken der anderen Figuren berichtet. Stellenweise scheint die Erzählerin allwissend zu sein, wobei sich diese Allwissenheit auch aus im Dorf kursierenden Erzählungen speisen kann. So wissen die Dorfbewohner*innen, dass die verschroben wirkende Ich-Erzählerin eine Affäre mit dem Mann von Gegenüber pflegt. Sie kümmern sich deshalb nur widerwillig um ihre Kinder, da die beiden diese Zeit nutzen, um ihren Trieben freien Lauf zu lassen. Viele Kapitel handeln vom Paarungs- und Sozialverhalten der Tiere und regen zum gedanklichen Übertrag auf das menschliche Verhalten an. Dieser Abgleich sorgt für eine Komik, die über den gesamten Roman angelegt ist: Humoristisch und mit reichlich Selbstironie blickt die Erzählerin auf ihre animalischen Triebe, die ihre zwischenmenschlichen Beziehungen herausfordern. Sie legt viel Wert auf die freie Auslebung ihrer Sexualität, in der sie sich gleichzeitig zu verlieren droht und gefangen zu sein scheint. Repräsentativ ist hierfür die Beziehung zu ihrem ehemaligen Analytiker, der skurrile sexuelle Neigungen hegt und von dem sie sich dennoch angezogen fühlt. Im Gegensatz zu anderen Tieren entwickeln Menschen nach der Befriedigung ihrer Triebe häufig Schuldgefühle, falls sie ethische und soziale Gepflogenheiten verletzten. Auch die Erzählerin ist davor nicht gefeit.
Sie reflektiert, verurteilt und rechtfertigt ihre Verhaltensweisen in gleichem Maße und sucht in ihren Überlegungen das Wesen des Menschen zu ergründen. Wie steht der Mensch als anthropomorphes Tier Pflanzen und anderen Tieren gegenüber? Sind Triebunterdrückung und die Suche nach dem Sinn des Lebens konstitutiv? All das geschieht augenzwinkernd in heiterem Erzählton, der über die dreihundert Seiten des Romans durchaus anstrengend werden kann. Auch der Sprachstil ist Geschmacksache, die Ausführungen der Erzählerin sind in umgangssprachlichem Ton verfasst und erinnern an Plaudereien im Freundeskreis. Dennoch macht die Erzählerin spitzfindige Beobachtungen, die ihre eigene und die Verschrobenheit der anderen Menschen präzise in den Blick nehmen. Die Erzählerin, deren Vorstellung vom Land ursprünglich eine paradiesische war, realisiert, dass den Menschen die Domestizierung der Natur weiter von ihr entfernt:
Obwohl der Schädling ein Schädling ist, ist er Teil der des Paradieses. Er ist Teil der Natur und kann nicht von ihr getrennt werden. Der Mensch hat es da schwerer. Er ist Teil der Natur und trotzdem von ihr getrennt. Allerdings ist er selbst schuld, weil er hat sich das mit dem Paradies ja überhaupt selbst erst ausgedacht. Hätte er es sich gar nicht ausgedacht, würde es das Paradies gar nicht geben und er wäre auch nicht getrennt davon. […] Das macht den Menschen ein bisschen wütend und er bekommt Lust, die Pflanzen und Tiere zu unterdrücken. Wenn er schon nicht Teil davon sein kann, will er sich die Natur zumindest unterwerfen.
Im Roman treiben der Wunsch zur Rückkehr an den Ursprung und die Suche nach dem Sinn des Lebens Menschen in das Dorf, das sich dabei in ein globalisiertes Sammelbecken verwandelt und doch seine Eigentümlichkeit beibehält. Japaner*innen betreiben ein Café mit integriertem Restaurant und Kommunikationsdesigner*innen halten Workshops ab, in denen sie darüber diskutieren, wie sie Natur zu Kunst umwandeln können. Eine zugezogene Dorfbewohnerin wiederum versucht mittels des Konzepts der Permakultur in den natürlichen Kreislauf einzugreifen und hofft, damit zur Rettung der Welt beizutragen. Die Figuren wirken in ihrer Zeichnung zwar teils klischeehaft, doch keineswegs unglaubwürdig. Da sich die Erzählerin selbst nicht vom Stereotyp eines Stadtmenschen ausnimmt, der der Illusion der Dorfidylle verfallen war und ohne landwirtschaftliche Fachkenntnisse aufs Land gezogen ist, driften ihre Schilderungen nicht ins Gehässige ab, sondern werden stets aus einer selbstironischen Perspektive erzählt.
Vor diesem literarischen Erstlingswerk, das auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises stand, ist Randl als Regisseurin verschiedener Filme in Erscheinung getreten. In ihrem 2018 veröffentlichten Film Von Bienen und Blumen thematisierte sie bereits ihr eigenes Leben auf dem Dorf. Im Roman gelingt es Randl, eine Ich-Erzählerin in den Mittelpunkt zu stellen, die gerade durch ihre Macken im Verlaufe des Romans an Sympathie gewinnt. Es bereitet zunehmend Freude, der Erzählerin bei der Erforschung ihres Innenlebens und der Pflanzen- und Tierwelt zu folgen. Trotz der kurzen Kapitel zieht sich die Lektüre allerdings, da kein konsequent verfolgter Handlungsstrang zu erkennen ist, sondern vielmehr lebensnah – mit allen Höhen und Tiefen – erzählt wird. Lässt man sich auf diese Erzählweise ein, verbringt man mit Der Große Garten unterhaltsame und lehrreiche Stunden.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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