Robert Müller

(12.9.1924)

Von Franz BleiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Blei

Vor einigen Tagen hat sich Robert Müller, ein kenntnisreicher Publizist und Verfasser eines vorzüglichen Romans, erschossen. Nicht aus materieller Not, aus der eine Intelligenz von seiner Energie immer herausfindet. Sondern aus Ekel an dieser heutigen Welt. Und weil dieser Mann zu intelligent war, um, was Dummköpfe tun, in das Traumschloß des „seinerzeit [sic] vorausgeeilten Dichters“ oder in eine stupide „Weltanschauung“ zu flüchten und ein Narr seines Elends zu werden. Lieber abtreten, als sich was vormachen. Ohne Sentimentalitäten möchte ich diesem Schuß ein Echo geben, indem ich in seine Schallrichtung einige harte deutsche Tatsachen rücke, die nur unmittelbar den deutschen Schriftsteller angehen, mittelbar das ganze deutsche Volk. 

Als einen positiven Wert deutscher Schriftstellerei las ich es unlängst von einem Professor gebucht, daß ihr eine Tendenz zum Weltanschauungshaften eigentümlich sei. Vielleicht war das einmal so und recht so. War es einmal so, als es in politischer und materieller Dürftigkeit für die Deutschen kein anderes Reich gab, worin zu herrschen oder sich zu behaupten als das des Geistes. Als das umliegende wohlgenährtere Europa so stolz darauf war, in seiner Mitte das Reich der Dichter und Denker zu haben mit der Hauptstadt Weimar. Das alles hat sich sehr geändert. Nur darin nichts, daß man bei uns immer noch den Dilettanten unterstützt, wenn er sein Unvermögen nur mit so was wie einer Weltanschauung deckt. Und dem Schriftsteller, der sich mehr um Weltkenntnis kümmert als um Weltanschauung, den auszeichnenden Titel „Dichter“ verweigert, mit dem man übrigens bei uns umgeht als wäre es der Titel Direktor. Jeder Verfasser von zehn lesbaren Romanen oder einem Dutzend brauchbaren Theaterstücken wird zum „Dichter“ avanciert. Oft ist er so dumm, es zu glauben und sich wirklich für einen Dichter zu halten und entsprechende Anstrengungen zu machen. Da gibt’s dann etwa ein Bändchen dünner Sonette von einem, der einige vortreffliche Bühnenstücke verfertigt hat. Oder ein Epos in absurden Hexametern. Oder ein ausgezeichneter Romancier streckt sich, um dem Vorurteil, das für ihn als „Dichter“ besteht, zu genügen, zu einem historischen Jambenstück. Oder es gibt einer, dessen Qualität das nichts als Gemüthafte und gar nicht das Denken war, in einem Bändchen aphoristisch Geist von sich, der zwar kurz, aber nicht gut ist. Die öffentliche Meinung und die, welche ihr dienen, sollten aber alles das vermeiden, was durch Überwertung der Verfasser diese in das Wolkenhafte einer falschen Vorstellung vom Dichter abschiebt. Denn nur zu oft erliegt der Schriftsteller bei uns solchem Drängen: er verliert damit seine Substanz, die mitzuteilen seine Aufgabe ist, und beginnt zu schwefeln [sic], wird unsolide. Als ob es eine Schande wäre, ein Schriftsteller zu sein! Als ob die von einem genommen würde durch die Benennung „Dichter“! Und durch kritische Untersuchungen, darüber angestellt, ob der Verfasser des Stückes Kolportage ein Dichter oder nicht! Was ist nun der Effekt solcher Haltung gegenüber unserer Literatur? Daß wir keine haben, sondern nur „Dichtwerke“. Daß wir sie ihres eigentümlichen wirklichen Wertes berauben, indem wir ihr einen fiktiven Wert geben, den sie weder erfüllen kann noch will, außer auf Kosten ihres wirklichen Wertes. Wir haben, ich brauche die Namen nicht zu nennen, eine Reihe Romanciers, die in geschmackvoller Form ihre Kenntnisse von Menschen und Dingen mitteilen. Wir haben Theaterautoren, die für die Dauer einiger Stunden durch die Mittel der Bühne fesseln und spannen können. Das ist sehr viel und – ist alles. Die Franzosen und die Engländer haben nicht mehr. Nur fällt es diesen Völkern nicht ein, Galsworthy oder Shaw, Guwtry [sic] oder Morand Dichter zu nennen und ihnen zuzureden, endlich ihren Faust zu dichten. Solches aber geschieht bei uns. Wir nehmen unseren Schriftstellern die ihnen angemessene Atmosphäre, treiben sie in die Wolken. Die es widerstandslos geschehen lassen, kriegen da oben das Asthma, um früher oder später platt und tot auf die Erde zu fallen. Die aber bleiben, was sie sind, die sterben am Ekel. Und im übrigen ist der durch diese Verwolkung entleerte anständige Ort der literarischen Mitte bevölkert von dem auf die leeren Plätze nachrückenden völligen Schund der allerdümmsten Schreiberei, der meistgelesenen. Welcher Mann der Industrie, der Bank, des Handels liest denn einen Roman von Döblin oder Musil? Ich nenne diese beiden außerordentlich sachlichen modernen Autoren in Robert Müllers Nähe, weil beide sich nicht in dieses entsetzliche deutsche Konvenü des „Dichters“ hineintreiben lassen, sondern mit ihren Beinen auf der Erde und durchaus Schriftsteller bleiben. Aber die genannten Berufe lesen Detektivgeschichten und sentimentalen Schund, wenn sie überhaupt was lesen, denn der Begriff des deutschen Dichters – Gott, ist unser Olymp übervölkert! – ist ihnen dank der deutschen herumordnenden Tätigkeit identisch mit dem der Langeweile geworden. Ein weiterer Effekt solcher falschen Haltung ist die geringe Stellung der deutschen Schriftsteller im öffentlichen Leben der Nation. Einem „Dichter“ gibt man kein Amt und schenkt ihm kein öffentliches Vertrauen. Er hat zwar eine Weltanschauung, aber keinerlei Weltkenntnis. Und dieses Urteil stimmt: man verlangt und schätzt die erstere[n] von den deutschen Schriftstellern, Pardon Dichtern, so über alles, daß sie ihre Weltkenntnis verlieren, wenn sie überhaupt eine gehabt ober erworben haben. In Frankreich stehen zwei Dutzend Autoren im öffentlichen Dienst, von Herriot angefangen, der weder ein Advokat noch ein Grundbesitzer ist, sondern der Verfasser eines famosen Werkes über die Récamier. Und er macht bessere Politik als der Advokat Poincaré. Kein Mißverständnis soll aufkommen: ich will keinen solchen Vorschlag zur Güte machen, die den Reichskanzler Thomas Mann andeutete. Die gutgemeinten Reden Unruhs zeigen, wie lang es brauchen dürfte, auf daß ein deutscher Schriftsteller auch nur Vizekonsul wird und dazu taugt. Er hat überdies noch so viel anderes zuvor zu tun. Er muß sich den Wahn abgewöhnen, mit Weltanschauung zu ersetzen, was ihm an Weltkenntnis und Talent fehlt, muß sich keine langen Haare einreden lassen. Er muß im Umfang seiner Begabung bleiben und sie mit bester Arbeit beweisen. Er muß in Ehrfurcht von den drei, vier zeitgenössischen Dichtern seines Volkes sprechen und sich mit gleicher Ehrfurcht einen Schriftsteller nennen, einen Romancier, einen Theaterstückverfasser, einen Publizisten. Er soll das ihm zugemutete poetische Wolkenkuckucksheim als Wohnort ablehnen. Die ästhetischen Maßstäbe von vor hundert und mehr Jahren sind heute falsch durchaus. Unsere Aufgaben sind andere, wir sind anders. Der Begriff des Dichters ist nicht einmal attraktiv aus allen bisher gelebt habenden Dichtern, außer so im Herzen eines Kathedermenschen. Aus Homer, Shakespeare, Goethe, Dostojewski, Meredith etwas zusammenzubacken, das man dann Dichter nennt, ist absurd.

Wie und welches ist denn der heutige Zustand? Eine von der Menge – Volk und Spitzen des Volkes – gemiedene Literatur, über die und innerhalb welcher ein Streit tobt, ob sie und welche einen „dichterischen Wert“ habe. Viele Versuche dieser Literatur, vor sich selbst zu desertieren ins „Dichterische“. Schwindender Sinn für das Weltliche, Tatsächliche, Gegebene, ohne daß dieser Schwund durch Phantasie ersetzt würde. In einem auf Realismus gestellten, aber einem symbolischen Tiefsinn gerichteten Romanwerk lese ich in der Beschreibung des Maschinenraumes eines Ozeandampfers von Treibriemen. Unsere Bücher sind so voll von diesen Treibriemen!

Was man heute in Deutschland liest: die Stände der Bahnhofsbuchhandlungen biegen sich unter Tarzan, dem Affenmenschen. Nach zehn weiter so verlaufenden Jahren wird eine geschmackvoll geschriebene Erzählung von Wassermann in tausend numerierten Exemplaren gedruckt werden, da sie mehr Leser nicht mehr voraussetzen kann.

Unsere heutige deutsche Literatur ist nicht besser und nicht schlechter als die der heutigen Franzosen und Engländer. Aber sie hat nicht deren Haltung. Sie leidet unter ihrer Neigung, ins Wolkenhafte zu exzedieren, sich dichterisch auszuputzen. Unterstützt und gefördert von einer öffentlichen Meinung und deren kritischen Wortführern, daß solcher Exzeß eine Vorzüglichkeit eben unserer Literatur sei. Ein hoher Flug sei, der über das platte Land, in dem sich etwa Flaubert aufhalte, hinausführe. Aber solche Anschauung und Lehre sind ein Übel. Sowohl für die Autoren und deren Talent wie für das deutsche Volk. Wir haben zu unserem großen Schaden Jahrzehnte eine Politik gemacht, als ob wir allein auf der Welt wären. Und wir erreichten die verhängnisvolle Isolation und deren Zertrümmerung. Die Deutschen sollten ihre Literatur nicht in den Wolken isolieren und ihre Schriftsteller nicht um jeden Preis zu Dichtern machen; sie verlieren damit das, was sie besitzen.

Erstdruck: Berliner Tagblatt und Handels-Zeitung. 53. Jahrgang, Nr. 435, Abendblatt, 12. 9. 1924, S. 2–3. Nachdruck und Vorlage für die erneute Veröffentlichung in: Thomas Schwarz / Günter Helmes (Hg.): Robert Müller. Paralipomena. Igel Verlag, Hamburg 2019. S. 209-212.