Unvollendete Geschichten über prekäre Bindungen

Auch Bernhard Schlinks „Abschiedsfarben“ kreisen um Schuld und Unschuld

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es sind durch die Bank unvollendete Geschichten, die Bernhard Schlink in diesem Band zusammenfasst, neun Kurzgeschichten, die um sein Lebensthema kreisen: um die Frage nach Schuld und Unschuld. Eine Frage, die sich in allen diesen Geschichten aufdrängt, weil gleichzeitig und durchgehend von Abschieden die Rede ist, von schmerzhaften wie von entlastenden Abschieden. Unvollendet aber sind diese Geschichten, weil sie alle an einem Punkt abbrechen, an dem eine Korrektur, eine Wendung, ein Neubeginn möglich scheint, jedenfalls aus der Perspektive der zentralen Figuren oder aber wenigstens aus der Sicht der verschiedenen Erzähler.

Diese Erzähler wirken durchaus seriös, auf den ersten Blick. Ältere Herren, die viel gesehen und erlebt haben, die sich zu wehren wissen, wenn sich jemand anschickt, sie zu blenden oder zu hintergehen, die also eine wohltuende Ruhe ausstrahlen. Wie der Ich-Erzähler in der ersten Geschichte dieses Bandes:

Sie sind tot – die Frauen, die ich geliebt habe, die Freunde, der Bruder und die Schwester und ohnehin die Eltern, Tanten und Onkel. Ich bin zu ihren Beerdigungen gegangen, vor vielen Jahren oft, weil damals die Generation vor mir starb, dann selten und in den letzten Jahren wieder oft, weil meine Generation stirbt.

So stellt sich dieser Erzähler vor; später aber redet er sich um Kopf und Kragen.

Er ist oder war Mathematiker, seinerzeit auf seinem Gebiet einer der führenden Experten in der DDR. Als sein Kollege, sein bester Freund, sich in den Westen absetzen wollte, hat er dies verhindert und er hat, jedenfalls aus seiner Perspektive, damit dem Freund nur einen Gefallen getan. Nach dessen Tod aber erhält die Tochter des Freundes Einsicht in die Akten der Staatssicherheit, und es zeigt sich, dass die Erinnerungen des anfangs so vertrauenswürdig auftretenden Erzählers ziemlich lückenhaft, ja gänzlich unzulänglich sind.

So erweisen sich die anfangs in der Regel noch stringent erscheinenden Perspektiven mehr oder weniger rasch als instabil, ramponiert, brüchig. Dabei sind die Themen, um die diese Geschichten kreisen, heikel und strittig genug: Beziehungen, die auf unhaltbaren Voraussetzungen sich gründen oder auch von außen betrachtet peinlich wirken, Affären, Eskapaden. „Was schön war, konnte nicht falsch sein.“ Mit dieser Bekundung stemmt sich eine Figur, die eben eine leicht verhängnisvolle Liaison noch im letzten Augenblick verlassen hat, entschieden gegen jeden Schuldspruch; der Erzähler sieht das offensichtlich ähnlich.

Der Autor indessen hält sich nicht nur mit Schuldzuweisungen zurück, sondern auch aus all dem makellos heraus: Unvollendete Geschichten provozieren Nachdenkmöglichkeiten, alles andere als vorschnelle Urteilssprüche. Das gilt für die diversen amourösen Abenteuer, die hin und wieder an Vladimir Nabokov oder auch Max Frisch erinnern, ebenso wie für die Blickwinkel und Bekenntnisse der Figuren; wer sich nicht in ihre Situationen versetzen kann oder will, der werfe den ersten Stein.

So gesehen sind diese vielfach melancholischen Texte durchaus nicht ganz leicht zu lesen. Aber spannend allzumal. Vor allem auch, weil die Titel durchgehend raffiniert gesetzt sind: auf dass sie Erwartungen wecken und dann auch steuern, die so verschieden sind wie die Farben, die eine nicht zu übersehende Rolle spielen, gelb, grün, blau, rot, lila, ja auch einmal grau (nämlich ein besonders elegantes Kleid). Scharf ausgeleuchtet ist darüber hinaus ein Grundproblem, das alle Konstellationen in diesen Geschichten miteinander eng verknüpft: Sprachlosigkeit. Aber auch darüber wird kein Machtwort gesprochen. Es ist nicht zuletzt der permanent ausgestellte Schwebezustand, der die Attraktivität dieses Erzählbands sichert.

Titelbild

Bernhard Schlink: Abschiedsfarben.
Diogenes Verlag, Zürich 2020.
240 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257071375

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