Von Brüchen und Klüften

Karin Schutjer geht in „Goethe und das Judentum“ dessen Verhältnis zum Judentum auf den Grund

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„War Goethe Antisemit?“, fragte Adolf Muschg 2004 in einer Rede vor der Neuen Mittwochsgesellschaft. Karin Schutjer, Germanistik-Professorin an der University of Oklahoma, fühlte sich durch diese provokante Frage zu einer eigenen Studie über Johann Wolfgang von Goethes Verhältnis zum Judentum ermutigt. Denn anders als die bisher sonst meist „apologetisch“ und „hagiographisch“ ausgerichtete Goethe-Forschung dies nahe legt, gibt es deutliche Hinweise darauf, dass man mehrere Aussagen Goethes „ohne Umschweife antisemitisch nennen muss“ – um mit Muschg zu sprechen. Ein prägnantes Beispiel bieten Goethes oft zitierte Äußerungen über das jüdische Ghetto in Frankfurt, welches dem Patriziersohn unmissverständlich Abscheu einflößte. Jüdische Emanzipation war ihm ohnehin ein Gräuel.

Karin Schutjer wählt in ihrer 2015 auf Englisch und jetzt auf Deutsch erschienenen Studie trotzdem einen moderateren Weg und möchte „ein hohes Maß an Vorsicht“ walten lassen. Zunächst entscheidet sie sich für den in Bezug auf Goethe eher angemessenen Begriff des Antijudaismus – ein nachvollziehbarer Schritt, wurde doch der Begriff Antisemitismus erst nach der Goethe-Ära geprägt. Weniger nachvollziehbar ist allerdings Schutjers Begründung dieser Entscheidung: „Wenn ich mich in meiner Erörterung häufiger für den historisch weniger befrachteten Begriff „Antijudaismus“ entscheide, tue ich dies lediglich um einer milderen Rhetorik willen, die nicht so schnell das erdrückende Gespenst des Holocaust heraufbeschwört.“

Angesichts von Goethes herausragender Stellung in der deutschen Literatur und für das deutsche Volk – er verwandelte sich schließlich spätestens ab der Mitte des 19. Jahrhunderts in eine „nationale pädagogische Institution“ – erscheint es wenig sinnvoll, Linien außer Acht zu lassen, die antijudaistische Äußerungen von Persönlichkeiten solcher Größenordnung mit dem Holocaust verbinden könnten. Der konstruktive Charakter dieser Entscheidung Karin Schutjers ist dennoch nicht von der Hand zu weisen: die Auseinandersetzung mit Goethes Einstellung zum Judentum jenseits der Verdikte erweist sich im Fall ihres Buches als durchaus fruchtbar. Als Teil ihres gemäßigten, um Ausgleich bemühten Gestus stellt sie Muschgs Überlegungen die konträre – und komplementäre – Frage an die Seite: „War Goethe Philosemit?“ Ihre sofortige, konzise formulierte Antwort auf diese Frage ist ein wichtiger Ausgangspunkt der vorliegenden Monografie: „Denn Goethes antijüdische Einstellungen existierten Seite an Seite mit einer ausgesprochenen Faszination und Bewunderung für Juden und das Judentum und sicher auch mit freundschaftlichen Bekanntschaften zu jüdischen Zeitgenossen.“  

Schutjer positioniert Goethe letztendlich im Spannungsfeld zwischen Antijudaismus und Philosemitismus und möchte hier die „konfligierenden Agenden“ und die „verschiedenen Funktionen“ des Judentums in seinem Denken und Wirken untersuchen. Von der Prämisse ausgehend, „dass Goethes Konzeption der Moderne – seine Befürchtungen wie auch seine positivste Sicht der Entwicklung seines Zeitalters – aufs Engste mit seiner Konzeption des Judentums verflochten ist“, gelangt die Autorin über ausgedehnte Analysen zu der Schlussfolgerung:

Während Goethe sich gegen die Emanzipation der zeitgenössischen Juden stellte, fand er zugleich im Judentum einen Raum der Freiheit und Heterodoxie, eine Alternative zu allem, was ihm in seiner christlichen Umgebung einengend und widerwärtig erschien.

Allgemein fokussiert sich Schutjer dabei weniger auf die „Darstellung des Judentums in Goethes Werken“, wie in der Einleitung angekündigt, als auf seine Auseinandersetzung hauptsächlich mit der hebräischen Bibel. Goethes „Liebe“ zur hebräischen Bibel sei jedoch „ein zweischneidiges Schwert“ gewesen. Im Laufe ihrer Untersuchung kann die amerikanische Autorin die „Komplexität“ und „Ambiguität“ von Goethes Umgang mit diesem für sein Verständnis des Judentums grundlegenden, „paradigmatischen Text“ zeigen. Goethes Rezeption sei insgesamt sehr subjektiv und „eigenwillig“.

Schutjer findet neue Wege innerhalb Goethes „Galaxie“ gerade mit Hilfe seiner Lektüren der hebräischen Bibel. Keine neue Einsicht, hier aber deutlich skizziert ist Goethes kritisch-distanzierte Einstellung zum Christentum. Ein Akt der Auflehnung gegen tradierte christliche Werte und Herangehensweisen ist beispielsweise Goethes Weigerung, das Alte Testament lediglich als „einen bloßen Prolog zum Neuen Testament“ zu lesen. Richtig interessant und lohnenswert wird Schutjers Buch jedoch erst durch den Entschluss der Autorin, Goethes biblische Lektüren anhand der Klüfte und Brüche zu verfolgen, die sich für ihn auf Schritt und Tritt auf diesem Wege auftaten. Einer der großen Brüche war derjenige zwischen dem Alten und dem Neuen Testament, ein anderer derjenige zwischen dem Buch „Genesis“ und dem Buch „Exodus“. Man taucht mit Goethe in die Weite und Freiheit der „patriarchalischen Welt“ der „Genesis“ ein, die von Schutjer als ein Pendant zu Goethes „entschieden aristokratisch[er], antiegalitär[er] und antidemokratisch[er]“ Grundeinstellung angesehen wird. Die Geschichte im „Exodus“ hingegen sei ein Ausdruck der „Kräfte der Uniformität, des Legalismus, des Kollektivismus und der Revolution“ gewesen und somit für Goethe bedrohlich.

Die fünf Kapitel in Schutjers Buch erhellen solche Bruchlinien in verschiedenen Werken Goethes – in Dichtung und Wahrheit, Herrmann und Dorothea, in Goethes Volksbuch-Projekt, in den Wanderjahren und schließlich in beiden Teilen von Faust. Große Aufmerksamkeit wird dem rekurrenten Wandermotiv geschenkt. Faust wird weitgehend vor den Folien der biblischen Hiob- und Salomongeschichten, aber auch als Moses-Figur (hier dient Konrad Burdachs Studie Faust und Moses aus dem Jahre 1912 als Ausgangspunkt) neu gelesen. Einen besonderen Schwerpunkt bekommt Goethes Aufsatz Israel in der Wüste.

Das Buch stellt eine anregende und auf jeden Fall lohnende Lektüre dar, auch wenn man Schutjers close-reading-Analysen nicht in einem Zug lesen kann. Mit diesen tiefgründigen und differenzierten Analysen tritt die Autorin in Dialog mit der bisherigen Forschung, bietet jedoch auch dezidiert eigene, teilweise gegensätzliche Lesarten an. Die an sich eher „periphere Rolle“, die jüdische Prätexte für Goethe spielten, wird von Schutjer entschieden in den Mittelpunkt gerückt. Goethe brauchte das Judentum, um sich der Moderne anzunähern, um sich darin zu orientieren und sich mit ihren Dilemmata auseinanderzusetzen. Jüdisches half ihm, „fließende Gegenkräfte“ zu Erstarrungstendenzen zu erfinden, „Wechsel-Dauer“ darzustellen, seinem Hang zum Irdischen oder aber seinem „durchgängige[n] Misstrauen gegenüber dem Volk“ Ausdruck zu verleihen. Und doch war sein Verhältnis zum Judentum nicht einfach, sondern „geprägt von einer wechselnden, heiklen und verwickelten Mischung aus Bewunderung, Sympathie, Dankesschuld, Ressentiments, Herablassung und Ablehnung“ – all das, was Schutjer unter Berufung auf Harold Bloom „Einflussangst“ nennt.

Eine tiefe Kluft klaffte auch zwischen seiner Identifikation mit den Juden und seiner Kritik an ihnen. Goethe eignete sich Wissen, Motive, Figuren und Geschichten aus der hebräischen Bibel an, um das Jüdische nicht zuletzt „umzugestalten“, zu „überwinden“ und zu „verdrängen“. Oder noch schlimmer: „In seinem Bemühen, die hebräische Bibel für eine säkulare, moderne Literatur einzuspannen, ist er immer wieder ausdrücklich bestrebt, sich von modernen Juden abzugrenzen, sie zu verunglimpfen und ihrer eigenen Tradition zu enterben.“ Leider bleibt diese von Schutjer festgestellte Verunglimpfung und Enterbung der Juden durch Goethe in ihrer Monografie noch etwas randständig.

Titelbild

Karin Schutjer: Goethe und das Judentum. Das schwierige Erbe der modernen Literatur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
288 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-13: 9783835336308

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