Sex im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

„Sex Machina“ von Sophie Wennerscheid erkundet das technisierte Begehren

Von Juliane Prade-WeissRSS-Newsfeed neuer Artikel von Juliane Prade-Weiss

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sophie Wennerscheids Band beleuchtet die Effekte, die moderne Technologien im Bereich von Begehren, Intimität und Fortpflanzung bewirken. Der Titel setzt Gentechnik, Digitalisierung, virtuelle Realität, Künstliche Intelligenz und andere Verfahren suggestiv mit jenem Deus ex machina in Verbindung, der auf der griechischen Bühne vermittels einer Theatermaschine zum Erscheinen gebracht wurde, um dem Geschehen eine ebenso abrupte wie grundsätzliche Wendung zu geben. Die Szenerie modernen Begehrens verändert sich Wennerscheid zufolge durch „Techniken, die den Körper auf eine neue Weise mit anderen Körpern oder Dingen verbinden.“ Die Regelungen zu physischer Distanz infolge der SARS-CoV-2-Pandemie haben deutlich gemacht, dass bereits die Frage, ob persönliche oder lediglich digital vermittelte private und berufliche Kommunikation möglich ist, gewohnte Auffassungen von Kontakt und Nähe auf eine harte Probe stellen; umso triftiger ist die Annahme, dass technische Veränderungen etwa der Fortpflanzung in Selbstbilder und Beziehungsstrukturen eingreifen. In die pandemisch angeregte Digitalisierungseuphorie lohnt sich Wennerscheids Frage einzuwenden: „Aber sind Gefühle Informationen?“ Das sind sie nicht, sie werden weniger übermittelt als vielmehr auf dem Weg der Vermittlung erst hervorgebracht, und die Modalitäten dieser Produktion gilt es zu bedenken. Dabei ist Wennerscheids Band alles andere als technologieskeptisch, sondern erkundet das emanzipatorische Potential des neuen „affektiven Gefüges von Natur, Mensch und Maschine“. Dieses Herangehen beruht auf der unterstreichenswerten Annahme, dass „Sex noch nie die natürlichste Sache der Welt“ war, „sondern immer schon durch Moralvorstellungen, Wissensdiskurse und künstlerische Darstellungsformen geprägt“ wurde. Daher stellt Wennerscheid faktisch vorhandene Technologien neben Science Fiction und andere künstlerische Produktionen, um das technische Imaginäre zu ergründen, das die Sexualität der Gegenwart und der Zukunft formt.

Die Annahme einer Rückwirkung von der Fiktion auf den Fakt ist ein etabliertes Verfahren in der Literatur- und Kulturgeschichte des Begehrens. Die Liebe und das Abendland, wie Denis de Rougemont 1939 titelte, wurden beide in der Dichtung geformt; Erotik, Romantik, Leidenschaft und Eifersucht wurden maßgeblich in der Literatur formuliert und dann zu Deutungsvorlagen für erlebte Affekte. Wennerscheid geht es indes um die Suspendierung solcher tradierten Imaginationen, sofern die Interaktion mit der Technik „Geschlechtsgrenzen radika[l] unterlaufen und Heteronormativität grundsätzlich infrage stellen“ kann. Dieses Anliegen der queer theory steht im Horizont des weitergehenden Projekts einer Kritik am Anthropozentrismus, der zufolge der Mensch nicht (mehr) als Krone der Schöpfung zu betrachten sei. Um angesichts von Artensterben und Klimawandel das gemeinsame Überleben von Menschen, anderen Lebensformen und der menschengemachten Technosphäre zu ermöglichen, erscheint es in der Tat dringend erforderlich, neue Wege der Interaktion zu bedenken, die über das Beherrschen hinausgehen und eben im Bereich des Fühlens und Mitfühlens liegen sollten, um sich als wirksam zu erweisen. Dieser Rahmen und die Infragestellung bestehender Begehrensformen erfordern allerdings eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Natur, dem Wennerscheid jedoch durch Floskeln aus dem Weg geht, was dem Band einen enorm ideologischen Anstrich gibt: Natur erscheint in der Argumentation stets nur als „vermeintliche“, Strukturen immer als „verkrustete“ oder „festgefahrene“, die Biologie grundsätzlich als Einschränkung, Tabus gibt es nicht anders als „immer noch“ ‒ Formulierungen, die nicht nebensächlich sind, weil sie auf ein Fortschrittsnarrativ vom Niederreißen aller Schranken schließen lassen, das unreflektiert bleibt, aber sämtliche Validierungen vorgibt, die eigentlich sorgfältiger Abwägung bedürfen. Denn selbstverständlich bedeutet „Natürlichkeit“, zumal in gesellschaftspolitischen Debatten, nicht einfach biologische Gegebenheit, sondern ist ein Kontrastbegriff zu Vorstellungen von Kultur und eben Technik, der das umfassen soll, was sich menschlicher Manipulation widersetzt, von ihr aber ‒ wie die Klimakatastrophe zeigt ‒ keineswegs unberührt bleibt. Das Problem daran, dieser Differenzierung aus dem Weg zu gehen und stattdessen Nonkonformismus als Zukunftsversprechen und technisierte Sexualität als Widerstandsprojekt zu betrachten, ist ein zweifaches:

Erstens macht die bloße Richtung gegen als repressiv empfundene Naturvorstellungen, Strukturen und gesellschaftliche Normdiskurse ‒ so kritikwürdig sie sein mögen ‒ diese zum Maß des neuen Begehrens, da es sich von dem, gegen das es gerichtet ist, eben nicht befreit, sondern daran gebunden bleibt als sein bloßes Gegenbild. Hier fällt ein theoretischer Mangel des Bandes ins Gewicht, der sich auf die von Deleuze und Guattari formulierte Ansicht des Begehrens als Transformationsmotor stützt, die psychoanalytische Auffassung vom Begehren als Ausgleich eines schmerzhaften Mangels zurückweist und Baudrillard, Sloterdijk, Virilio sowie zahlreiche andere technikskeptische Denker kritisiert, aber Foucaults paradigmatische Theorie von der historischen, bio-politischen Verfasstheit des Bereichs, den die Moderne „Sexualität“ nennt, unerwähnt lässt. Foucaults Analyse fehlt, denn sie hätte auf den relationalen Charakter von Machtverhältnissen hinweisen können, die sich in intimen Verhältnissen reproduzieren und an denen auch der Widerstand gegen sie partizipiert, sofern er sich in Begriffen und Logiken bestehender Machtverhältnisse artikuliert und sie mithin fortschreibt. Die Überschreitung von Normativitäts-, Art- und anderen Grenzen, die Wennerscheids Band emphatisch als Zentrum sowohl des Lustgewinns als auch der Zukunftsoffenheit begrüßt, ist auf die Stabilität der Grenze angewiesen, das gilt für Mensch-Maschine-Verbindungen nicht anders als für den Ehebruch in der Minnelyrik des Hochmittelalters. Zur Emanzipation braucht es mehr als Negation. Die mangelnde Analyse der Strukturlogik des Zukunftsversprechens zeigt sich in Sex Machina nicht zuletzt im konsequenten Absehen vom kapitalistischen Hintergrund der besprochenen Techniken, im Fall des Klonens von Haustieren mit dem Argument, „wichtiger als Geld ist die Einstellung zu dem Verfahren als solchem“. Darin ist übersehen, dass die „zunehmend positiv[e] Einstellung“ wesentlich befeuert wird durch das Begehren nach sozialer Distinktion, wie sie ein teures Produkt mit sich bringt, gleichgültig, worin es besteht. Das aber eröffnet eine Untiefe: Vielleicht ist keine der beschriebenen technischen Erweiterungen der Sexualität begehrenswert, weil sie neue Möglichkeiten des Empfindens öffnet, wie Wennerscheid annimmt, sondern weil sie sich gut in die etablierte Zirkulation sozialen Kapitals einspeisen lässt.

Zweitens zieht die Beschwörung eines technisierten Zukunftsversprechens an der Stelle einer Auseinandersetzung mit dem Naturbegriff eine weitgehend unreflektierte Auffassung von Relationalität nach sich. Interaktivität, Verbundenheit und Vernetztheit werden zwar ständig betont, können jedoch am weitgehend solipsistischen Charakter des Begehrens nach und mit Apparaten nichts ändern. Ist, „was uns als technisch Fremdes berührt“, tatsächlich etwas anderes als menschliche Imagination mitsamt ihrer wie immer unabsehbaren Nebeneffekte? Eingehend bespricht Wennerscheid Cunninghams Musikvideo zu Björks All is Full of Love, in dem sich zwei identische, weiblich geformte Roboter umarmen und küssen, während sie von anderen Maschinen gelenkt werden, und schließt mit der Frage: „Welchen Ort nimmt der Mensch in diesem Begehrensgefüge ein? Oder hat er keinen mehr?“ Dabei ist der Mensch dem Video deutlich als darstellende Instanz eingeschrieben, die ‒ wie auf dem griechischen Theater ‒ Maschinen baut und inszeniert, um sich am Anblick ihrer Bewegung zu erfreuen; im Musikvideo nicht im Rahmen einer Tragödie, sondern einer relativ prominenten Männerphantasie. Den Ort des Darstellenden und des Betrachters in der Szenerie der Roboterliebe zu übersehen, entspricht dem von McLuhan bereits in den 1960ern beschriebenen Narzissmus in jedweder Medientechnik: Verliebt in seine Apparate, ist der Mensch betäubt von jeder neuen Erfindung, die sonst die Sinne durch ungewohnte Wahrnehmung überfordern würde. Daher wird jede neue Technik für die Begegnung mit einem Anderen gehalten statt für eine Ausweitung des Körpers. McLuhan bedient sich in der Wendung extensions of man bewusst des generischen Maskulinums, um auf die Normierungs- und Ausschließungsmechanismen aufmerksam zu machen, die mit der Technikliebe des Abendlandes einhergeht. Sein medientheoretischer Klassiker hätte zahlreiche Anknüpfungspunkte für Wennerscheids Emanzipationsnarrativ geboten. Sie versucht, den Narziss-Mythos zur „Erfolgsgeschichte“ zu wenden, statt den bei McLuhan durchaus mitgemeinten psychologischen Narzissmus ernst zu nehmen. Augenfällig wird diese Komplikation etwa in der Rede vom „Wunschkind“ und der „Sehnsucht von Menschen, ein Baby zu haben, ohne im biologischen oder sozialen Sinn Eltern werden zu wollen“, die zu Unrecht „belächelt oder gar als vermeintlich gestört stigmatisiert“ werde. Wennerscheid fragt nicht, was dort gewollt wird, wo ein Kind ohne Elternschaft ersehnt wird; was es heißen soll, in solchem Sinn ein Baby zu haben. Diese Lücke rückt das Kind in die Riege der technischen Ausweitungen des Selbst und es scheint, als sei ein Effekt des besprochenen Technikdiskurses, dass Nachkommenschaft per se in der Logik des Klonens verhandelt wird, der Duplizierung des Selbst, nicht der Hervorbringung von Neuem. Wennerscheid weist die Kritik, das Begehren nach Apparaten vermeide die stets unberechenbare Begegnung mit anderen Menschen, mit dem Argument zurück, am Apparat begegne man immerhin dem Fremden und Befremdlichen in sich selbst und damit der gesamten Art. Wennerscheids Parcours des technisierten Begehrens ändert nichts daran, dass die Hingabe an den Apparat doch als kümmerliche Erfüllung erscheint.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sophie Wennerscheid: Sex Machina. Zur Zukunft des Begehrens.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2019.
240 Seiten, 24 EUR.
ISBN-13: 9783957577061

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