Scheißliberale?

Der Konferenzband „Liberalismus als Feindbild“ ist ein Anfang mit großen Lücken

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2014 erschien im Wallstein Verlag ein Konferenzband mit dem Titel Liberalismus als Feindbild. Das ist, so viel vorweg, zu begrüßen. Herausgegeben von Ewald Grothe und Ulrich Sieg, handelt es sich nicht um eine der seit knapp zwei Jahrzehnten immer inflationärer werdenden bloßen ‚Buchbindersynthesen‘, deren Beiträge nichts weiter verbindet als die Teilnahme der Verfasser an einer Konferenz. Der Wille, das zunehmend fragwürdige Publish or perish-Gebot zu beherzigen, führt auch in der deutschen Geisteswissenschaft dazu, dass Beiträge und Bücher entstehen, deren Autoren auf dem Gebiet, über das sie schreiben, wenig bewandert sind. Im vorliegenden Band dagegen  schreiben ausgewiesene Wissenschaftler teilweise lesenswerte Aufsätze. Es sind auch einige Kenner des Liberalismus darunter. Am Ende der Lektüre weiß man zwar, dass, aber nicht so recht, wie und warum der Liberalismus in den vergangenen beiden Jahrhunderten in Deutschland zum Feindbild geworden ist. Es wird noch nicht einmal klar, worin das ideelle Profil des Liberalismus, das sich im Verlauf seiner Geschichte selbstredend gewandelt hat, überhaupt jeweils bestand. Zeitlich endet der Band in der Ära von Willy Brandt, räumlich in der alten Bundesrepublik. Die DDR-Diktatur, die als solche trotz ihrer scheinliberalen Partei LDPD ein antiliberales Faktum par excellence war, kommt gar nicht erst vor, und folglich auch nicht die am Modell einer liberalen Demokratie westeuropäischer Prägung orientierten ostdeutschen Bürgerrechtler. Das ist umso bedauerlicher, als der Liberalismus hierzulande leider so beliebt ist, „wie ein Fuchs im Hühnerstall“.

Der Liberalismus hat in Deutschland einen schlechten Ruf. Zu Unrecht – aber aus gutem Grund. Linksliberale Positionen, wie sie etwa Gerhart Baum oder Sabine Leutheusser-Schnarrenberger als Exponenten der „Freiburger Thesen“ in der FDP vertraten, hört und liest man inzwischen selten. Politisch einflussreich sind sie nicht. Hildegard Hamm-Brücher trat am Ende ihres Lebens wegen des auch von einigen FDP-Vertretern ventilierten neuen Antisemitismus aus der Partei aus. Seit Anfang der 2000er Jahre, den israelfeindlichen Eskapaden des verstorbenen Jürgen Möllemann und der FDP-Führung unter dem gleichfalls verstorbenen Guido Westerwelle ist der parteipolitische Liberalismus in Deutschland nach anfangs beachtlichen Wahlerfolgen und dem Wahldesaster von 2013 öffentlich ins Abseits geraten. Wirtschaftsliberalismus ohne Gesellschaftsliberalismus tendiert meist zum bloßen Marktradikalismus. Wie sich die Arbeit der wiedererstarkten FDP unter Christian Lindner zukünftig gestaltet, wird man sehen. Auch all diese Entwicklungen der letzten drei Jahrzehnte fehlen im Konferenzband Liberalismus als Feindbild.

Eine Massenbewegung war der Liberalismus in Europa zu keiner Zeit und die liberalen Parteien demnach auch nie Volksparteien. Abgesehen davon, dass man das Verhältnis zwischen Individuum und Kollektiv klüger fassen kann, als es ihre Entgegensetzung oder ihr bloßes Zusammenfallen suggerieren, liegt der Schwerpunkt des Liberalismus auf dem Individuum und nicht auf dem Kollektiv oder der Gruppe. Und dies als Staatsbürger, also Citoyen, und nicht als Bourgeois. Das macht ihn für totalitäre Weltanschauungen unbrauchbar. Der transatlantische Liberalismus nordamerikanischer Prägung, in den USA und in Kanada ist indes noch einmal eine andere Angelegenheit. Wer das nicht bedenkt, läuft bei dessen Charakterisierung und Beurteilung zwangsläufig in die Irre. Denn es handelt sich um originäre Einwanderungsstaaten und -gesellschaften. Darum musste Identitätspolitik hier eine so zwiespältige Rolle spielen. Das Zarenreich, das deutsche Kaiserreich, die Habsburger Monarchie, selbst das Osmanische Reich waren multikulturelle, aber keine offenen Gesellschaften. Nach europäischen Maßstäben ist Identitätspolitik antiliberal, weil kein Mensch darüber entscheidet, wo und als was er geboren wird. Folglich kann kein Mensch aufgrund dieser Koordinaten benachteiligt oder bevorzugt werden. Dem europäischen Liberalismus lag neben anderem als Orientierung in der Regel das Leistungsprinzip zugrunde. Leider werden die Überlegungen liberaler Denker der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts wie Karl Popper, dem wir das ausformulierte Konzept der offenen Gesellschaft verdanken, Isaiah Berlin, Judith N. Shklar, John Rawls oder in Deutschland Ralf Dahrendorf – „Bildung ist Bürgerrecht“ – nur von wenigen Wissenschaftlern gelesen und verstanden. Kaum dass man ihre Namen kennt – im Unterschied zu Karl Marx oder Lenin. Groteske Schlagworte wie das vom „Neoliberalismus sind in aller Munde und werden mit dem Liberalismus als solchem assoziiert, was grober Unfug ist. Erstens erfuhr der Begriff „Neoliberalismus“ in den 1970er Jahren eine fast vollständige Umdeutung. Zweitens waren Politiker wie Margaret Thatcher und Ronald Reagan, mit deren Namen die rücksichtslose Politik der Privatisierung und des Marktradikalismus ohne soziale Abfederung gewöhnlich in Verbindung gebracht wird, Konservative und keine Liberalen. Drittens haben Sozialdemokraten wie Gerhard Schröder und nicht Liberale den deutschen Sozialstaat ramponiert. Bleibt zu resümieren, dass weder Liberale noch der Kapitalismus die aktuellen wirtschaftlichen und sozialen Turbulenzen und Verwerfungen zu verantworten haben. Sie sind Folgen der Entscheidungen konservativer und linker Politiker, die keine angemessenen, geschweige denn gescheiten Antworten auf den rasanten Wandel der Arbeitswelt gefunden haben. Viertens sind Fragen der Rechtsstaatlichkeit, der Rechtsfähigkeit und der Verfassung liberale Themen, die sich keineswegs mit ihrer Verankerung in einem Staat erledigt haben, da sich Gesellschaften nun einmal verändern. Gegen den sogenannten großen Lauschangriff gingen 1998 Liberale vor Gericht, nicht Sozialdemokraten oder Grüne. Fünftens stellen die sozialen Bewegungen der 1970er Jahre, die sich die berühmten linksliberalen Freiburger Thesen gleichsam einverleibten, in vielfacher Weise eine Herausforderung für den Liberalismus in Europa und in Deutschland  dar, ganz einfach weil sie dem Gruppendenken verhaftet bleiben und dabei ein Prinzip – das der Herkunft oder des Geschlechts – forcieren, von dem der Liberalismus gerade absehen will. Es versteht sich von selbst, das Leistungsgerechtigkeit erst unter der Bedingung von Chancengleichheit möglich ist.

Worauf aber dürfen sich Leser des Sammelbandes freuen? Die Anordnung der einzelnen Beiträge folgt thematisch der Chronologie der Zeitgeschichte. Der Band beginnt Anfang des 19. Jahrhunderts, als es noch keinen organisierten Liberalismus in Deutschland gegeben hat, zur Zeit der sogenannten Befreiungskriege gegen die Truppen Napoleons und in der Ära Metternichs. Die meisten der nachfolgenden Beiträge widmen sich bestimmten Einzelpersonen, ihren Biografien, ihren Vorstellungen von politischem Liberalismus, ihrer  Befürwortung, Ablehnung oder Verachtung liberalen Denkens und Lebens. Vermutlich bleiben die Konturen von Liberalismus und Antiliberalismus deshalb so vage. Zwangsläufig, denn beides ist definitiv keine Personalgeschichte; eine Frage wie die nach dem Feindbild Liberalismus lässt sich nicht auf der Ebene von Lebensgeschichten beantworten. Selbstverständlich werden liberale wie antiliberale Positionen von Personen vertreten, aber die Position und nicht die Person steht dann im Vordergrund. Zwar ist es richtig, dass im wilhelminischen Kaiserreich Judenfeindschaft oft mit einer antiliberalen Position zusammenfiel – man findet noch in Thomas Manns konservativen Betrachtungen eines Unpolitischen viele Bezugnahmen auf Paul de Lagarde. Die spätere, von den Nationalsozialisten propagierte Unterscheidung zwischen „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital, zwischen ehrbarem und ehrlosem Kaufmann bezog ihre Ware auch aus der liberalen Ideenkiste, man denke an den liberalen Publizisten und Schriftsteller Gustav Freytag und seinen vielgelesenen antisemitischen Roman Soll und Haben oder an  Ludwig Thoma, den Verfasser der Lausbubengeschichten, der ebenfalls zugleich Liberaler und Antisemit im wilhelminischen Kaiserreich gewesen ist. Judenfeindschaft war bereits im 19. Jahrhundert ein Massenphänomen und nicht an bestimmte politische, soziale oder kulturelle Milieus gebunden, folglich war auch keines dieser Milieus frei davon. Zwar wurde die erst in den 1960er Jahren als Berliner Antisemitismusstreit (Walter Boehlich) bezeichnete Auseinandersetzung zwischen dem konservativen Historiker Heinrich von Treitschke und dem liberalen Historiker Theodor Mommsen ausgetragen, doch kann man deshalb nicht von einer speziellen „Amagalmierung“ (Ulrich Sieg) antisemitischer und antiliberaler Positionen im deutschen Kaiserreich sprechen. Die Antisemitenpetition scheiterte, aber Nationalliberale waren ebenso wenig bereit, sie zu verurteilen wie Konservative. Sozialisten, deren unzweideutig projüdisches Votum ausgesprochen zweifelhaft ist, saßen damals nicht im Parlament.

Den Linksliberalen ging es seinerzeit um die Verurteilung der Petition und um die Beibehaltung der bereits erreichten formaljuristischen Gleichstellung von Juden; das zweite Ziel wurde erreicht, das erste nicht. Aus der Übereinstimmung von einigen Stereotypen auf eine Vermischung von aversiven Phänomenen zu schließen, ist sehr kühn. De Lagarde und Houston Stewart Chamberlain waren, wie der Autor Ulrich Sieg sicher besser weiß, kulturkonservativer und keine Kulturkritiker wie die Marxisten beziehungsweise Sozialisten oder weite Teile der zeitgenössischen Avantgarden. Carl Schmitt, der zur Zeit der Weimarer Republik vermutlich der bekannteste antisemitische, antiparlamentarische, antiliberale und antidemokratische Intellektuelle war, ist auch unter Theoretikern der Neuen Linken – man denke an Claus Offe – sehr beliebt. Sein ideeller Gegenspieler war der Staatsrechtler Hans Kelsen, der 1920 das wichtige Buch Vom  Wesen und Wert der Demokratie publizierte und darin gleichermaßen gegen Nationalsozialisten und Kommunisten – damals nannte Kelsen sie „Bolschewisten“ – argumentierte, ist als zeitgenössische intellektuelle Kontextreferenz nun einmal schwerlich zu ignorieren, wenn es darum geht, Schmitts Positionen ideen- und ideologiegeschichtlich einzuordnen. Reinhard Mehrings Beitrag zu Schmitt lässt seine Leser diesbezüglich etwas ratlos zurück.

Im Band ist mehrfach von „Krise“ oder „Krisenzeiten“ die Rede. Das entspricht dem zeitgenössischen Sprachgebrauch einer bereits damals unzutreffenden Zustandsbeschreibung, die hier nur wiederholt, aber nicht analysiert wird. Das damalige Gerede von der „Krise“ der liberalen Demokratie stieß schon Zeitgenossen wie dem legendären ersten Präsidenten der CSR und entschiedenen liberalen Demokraten Tomáš G. Masaryk unangenehm auf. Nicht die jungen demokratischen Neuordnungen waren in der „Krise“, sondern der Revanchismus, der Autoritarismus, das Gruppendenken et cetera zu stark, um dem ohnehin nicht massen- und gruppentauglichen liberalen Denken den Garaus zu machen und die gerade erst eingeführte Demokratie wieder abzuwählen. Der deutsche Linksliberalismus der Zwischenkriegszeit, parteipolitisch verkörpert in der DDP, hat sich 1930 bekanntlich selbst abgeschafft: Zusammen mit dem antisemitischen Jungdeutschen Orden ging er in der deutschen Staatspartei auf und verlor dadurch Wähler und die Unterstützung der demokratischen Presse. Es war kein Krankheitssymptom, sondern das Handeln bestimmter Akteure, das unerwünschte Resultate zeitigte.

Interessant ist der Aufsatz von Wolfgang Kraushaar zum Antiliberalismus der 68er Generation beziehungsweise der Studentenbewegung. Als jugendliche Protestbewegung war der Aufruhr gegen die Elterngeneration ein internationales Phänomen. Es gab sie in den USA – man lese nur Carl Bernsteins Biographie Hillary Clintons – und Westeuropa; selbst die osteuropäischen Länder mit ihren sozialistischen Diktaturen erlebten diese Form des Aufbegehrens gegen verkrustete Strukturen, die aufgrund des Zweiten Weltkriegs nicht infrage gestellt worden waren. Nur hatte sie in Deutschland eine besondere Brisanz, ganz einfach weil die Elterngeneration hier zugleich die Generation gewesen war, die den Nationalsozialismus und die mit ihm verbundenen Massenmorde, vor allem die Shoa, direkt oder indirekt veranstaltet oder mitgetragen hatte. Im Zuge der jugendlichen Revolte entstand die Neue Linke und mit ihr die Zuwendung zu einer anderen totalitären Ideologie, die einerseits im Gegensatz, andererseits in Partnerschaft zur NS-Ideologie gestanden hatte und in der DDR noch immer stand. Was sie ausschloss, war die liberale Demokratie. Diesbezüglich herrschte Konfusion unter den deutschen 68ern. Doch antiautoritär waren auch die Jugendbewegungen vergangener Jahrhunderte und Jahrzehnte. Ebenso war der Freiheits-Begriff der 68er konfus: Freiheit hatten auch die Nationalsozialisten gefordert, nämlich die kollektive Freiheit der ‚deutschnationalen Volksgemeinschaft‘ von der vermeintlichen Fremdherrschaft der Siegermächte des Ersten Weltkriegs: Großbritannien, Frankreich und den USA. Die Freiheit, die die 68er meinten, bezog sich wiederum auf die Bevormundung durch die Elterngeneration – und war nicht politisch im liberalen Sinn, wo sie vom Individuum als Staatsbürger ausgeht und zwischen privater und politischer Sphäre unterscheidet. Die vermeintlich antiautoritären 68er redeten einem Gruppenegoismus und Gruppenautoritarismus das Wort, die mit Liberalismus unvereinbar waren und sind. Hinzu kommt die vermeintliche Identität von Gruppen- und Einzelinteresse, sodass sich prima Karriere machen ließ. „Im Grunde genommen galt der Liberalismus aus historischen Gründen als erledigt“, schreibt Kraushaar treffend. Das war schon die Position Carl Schmitts, eben nur mit umgekehrtem politischem Vorzeichen. Das scheint auch die Position der Herausgeber des Bandes zu sein, die nicht verstanden zu haben scheinen, worin das Projekt des politischen Liberalismus historisch und aktuell bestand und besteht. Vielleicht würde es helfen, ein paar aktuellere liberale Denker zu lesen.

Titelbild

Ulrich Sieg / Ewald Grothe (Hg.): Liberalismus als Feindbild.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
308 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783835315518

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