Die Farben und Formen der Erinnerung

In Lane Smiths Kinderbuch „Großvaters Bäume“ wird ein Garten zum Ort des Gedächtnisses und des Dialogs der Generationen

Von Katja HachenbergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katja Hachenberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Farbe der Erinnerung ist Grün. Zumindest für den Urgroßvater in Lane Smiths Kinderbuch Großvaters Bäume (im amerikanischen Original Grandpa Green). Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Urenkel ist im ausgedehnten Garten des Urgroßvaters unterwegs, in welchem dieser die wichtigsten Ereignisse seines Lebens festhält, indem er sie in Buchsbäume, Büsche und Hecken hineinschneidet. Wir bewegen uns mit dem Urenkel, der verlegte oder verlorene Gegenstände – Handbesen, Kehrblech, Gartenschaufel, Brille, Sonnenhut, Leiterwagen, Gartenhandschuhe – des vergesslich gewordenen Urgroßvaters aufsammelt, durch den Garten, in dem jeder Busch und jeder Baum etwas zu berichten weiß, und kommen schließlich beim Urgroßvater selbst an, der sich über das Auftauchen des Urenkels und die von ihm mitgebrachten Gegenstände freut und gerade damit beschäftigt ist, mit der elektrischen Heckenschere einen Buchsbaum der Gestalt des Jungen nachzubilden.

Es ist der Urenkel, durch dessen Augen der Garten gesehen wird, und es ist der Urenkel, der die Geschichte des Urgroßvaters erzählt. Von dessen Geburt vor sehr langer Zeit, „als es weder Computer noch Handys noch Fernseher gab“; davon, wie der Urgroßvater aufwuchs auf einem Bauernhof mit Schweinen, Karotten und Kaninchen; wie er in der vierten Klasse Windpocken bekam, im Bett bleiben musste und während dieser Zeit Bücher „über geheime Gärten, über Zauberer und eine kluge Lokomotive“ las. Nach dem Abschluss der Schule wollte er Gartenbaukunst studieren, doch stattdessen musste er in einen Weltkrieg ziehen. Während des Kriegs, in einem kleinen Café, verliebte er sich in eine wunderschöne Frau, die er nach dem Krieg heiratete und mit der er viele glückliche Jahre verbrachte: „Sie bekamen Kinder, noch viel mehr Enkelkinder und einen Urenkel. Mich.“

Jetzt, fasst der Urenkel zusammen, ist der Uropa „ziemlich alt“. Doch alles Wichtige, befindet der kleine Junge, „erinnert für ihn der Garten“. Und der Junge selbst beginnt, eine neue, eigene Geschichte in den Garten einzuschreiben, indem er – das ist letzte Bild des Buchs – das Konterfei des Urgroßvaters mitsamt Sonnenhut in einen Buchsbaum schneidet. So setzt sich der Lauf des Lebens fort und die Erinnerung an den Großvater wird über die Zeiten hinweg bewahrt werden, ist sie doch eingeschrieben in einen immergrünen Strauch, der ein Symbol für ein langes Leben darstellt. Es ist die erste vom Urenkel selbst gestaltete Figur, die Grundlage des weitergeführten Gartens, der Grundstein und wesentliche Ankerpunkt im Erleben und Erinnern des Jungen, der erste Ton einer eigenen Geschichte, die ihr Fundament im Leben des Urgroßvaters hat. Und es ist eine Spiegelung des Tuns des Urgroßvaters, der ja gerade die Gestalt des Urenkels formt.

Diese Spiegelung von Alt und Jung, von Urgroßvater und Urenkel, kommt auch in der Kleidung der beiden zum Ausdruck: Beide tragen Latzhose, Gummistiefel und ein gestreiftes T-Shirt, und beide sind in feinen schwarzen Strichen (im Gegensatz zur mal üppigen, mal zarten grünen Vegetation) gezeichnet. Dieser Spiegelung der Figuren entspricht die Spiegelung und Verschränkung von Zeitebenen insofern, als man sich während des Spaziergangs durch den Garten der urgroßväterlichen Erinnerungen manches Mal die Frage stellt, ob es nun der Urgroßvater selbst als Kind beziehungsweise Junge ist, der sich in den Räumen und Situationen seines früheren Lebens bewegt, oder der Urenkel. Dieses Vexierspiel der Zeiten zeigt eindringlich einerseits die Zusammengehörigkeit der Generationen auf, andererseits die archaische Gleichförmigkeit des Lebens bei simultaner Individualität: Geburt und Kindheit, erste Liebe und Krankheit, Erschütterungen durch äußere Ereignisse, Ehe, Familienleben und die Sehnsucht nach einem Zuhause.

Es ist ein wundervolles Buch, das Lane Smith, preisgekrönter Bilderbuch-Künstler, Illustrator und Autor zahlreicher Kinderbuch-Bestseller, hier vorgelegt hat. Es verzaubert vom ersten Blick an. Jede Seite erzählt eine eigene Geschichte; auf jeder Seite hält man sich als Betrachter auf wie an einem Haltepunkt, um zu schauen und noch tiefer einzutauchen. Betrachtend sinkt man ein in das Grün, das in allen Variationen (hell und dunkel, transparent und leicht sowie von großer Dichte und Schwere) die Seiten dominiert. Der Schrifttext gerät darüber in den Hintergrund, taucht zum Teil wie eine Überraschung an unerwarteten Stellen auf.

Grün ist die Farbe der Erinnerung und zugleich die Farbe der Erneuerung und des Wachstums. Grün ist der Frühling, der auf Farblosigkeit und Erstarrung des Winters folgt. Grün ist aber nicht nur die Farbe von Wachstum und Weisheit, sondern auch ein Symbol für Unerfahrenheit: Ein junger Mann ist ein „Grünschnabel“, noch „grün hinter den Ohren“. Insofern umfasst das Grün in diesem Text sowohl die Weisheit und das gelebte Leben des Urgroßvaters als auch die Unerfahrenheit und Kindlichkeit des Urenkels. Die Zeit läuft von der Vergangenheit über die Gegenwart in die Zukunft und gegenläufig aus der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit. Grün ist nicht nur die Erinnerung, sondern auch die Hoffnung auf Leben und Überleben.

Es ist eine eindrucksvolle, lange nachwirkende Geschichte, die Lane Smith in Bilder und Worte gefasst hat. Eine Erzählung über das Weiterleben in Menschen und in selbstgeschaffenen Dingen, in dem, was die eigenen Hände hervorgebracht und geformt haben. Insofern ist Großvaters Bäume auch als eine Poetologie zu lesen. Es ist eine Geschichte über das menschliche Bemühen, Erfahrungen und Erinnerungen festzuhalten, zu speichern, sie in eine ihnen gemäße Form zu bringen, die überdauert und es vermag, zu nachfolgenden Generationen zu sprechen. In Urgroßvaters Garten ist es das Grün der Pflanzen, das die Erinnerungen bewahrt – nicht ein (digitales) Fotoalbum, kein Videofilm, keine Bild- oder Tonaufnahme. Das Archiv der Erinnerungen ist hier ein lebendiges, ist die Natur, die selbst im ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens und wieder Neu-Entstehens befangen ist. Man stellt sich vor, wie die Buchsbäume weiter gedeihen, wie sie über die ihnen vom Urgroßvater aufgeprägte Form hinaus wachsen, hier und da Äste herauszustehen beginnen und die Dinge irgendwann ihre abgegrenzte Form zur Gänze verlieren. Es wird dann die Aufgabe der Nachkommen sein, die Erinnerungen weiter zu hegen und zu pflegen und ihre Form zu bewahren. Dies wird immer auch eine Auseinandersetzung und Verknüpfung mit der Person ihres Gestalters und mit dessen Leben sein.

Denn hiervon erzählt Lane Smiths Geschichte ebenfalls: Von der innigen und besonderen Beziehung eines Urenkels zu seinem Urgroßvater, von Prägung und Fürsorge, vom Dialog der Generationen, zu dem jede der beiden Seiten ihren Teil beisteuert: der Urgroßvater sein gelebtes Leben, der Urenkel seine Haltung des aufmerksamen Betrachtens, Aufnehmens und eigenen Gestaltungswillens.

Erlebnisse und Erfahrungen überdauern, indem sie in eine Form gebracht werden, indem sie sichtbar, fühlbar, erlebbar gemacht, erzählt oder künstlerisch gestaltet werden. Die Vergesslichkeit des Urgroßvaters bezieht sich auf die unmittelbar gegebene Situation, das Hier und Jetzt. Sein Gedächtnis aber ist umfassend und unbestechlich, es erinnert bildhaft und präzise Situationen, die ein halbes Jahrhundert und länger zurückliegen: Die Kaninchen auf dem elterlichen Bauernhof, die Windpocken als Grundschüler (Buchsbaumhecke mit roten Vogelbeeren an Kopf und Körper), die Figuren aus geliebten Kinderbüchern (eine bunte Schar in Buchsbaumgrün), den Ausbruch des Weltkriegs (Sturm, wirbelnde Blätter, Buchsbaum in Kanonenform, Flugzeug, Fallschirm, Einschläge in roter Farbe), die Begegnung mit der großen Liebe und späteren Ehefrau (Eiffelturm in Buchsbaum, rosa Blüte im Haar der in den Baum geschnittenen Frau, Hochzeitstorte in Grün, ein Buchsbaumherz mit roten Blättern inmitten eines immergrünen Labyrinths). Die Erinnerungen erscheinen riesengroß aus der Perspektive des kleinen Jungen.

Großvaters Bäume ist weiterhin eine Geschichte über die Beziehung Mensch/Natur. Die Natur ist in ihr der lebendige Träger der Erinnerung und eine – vom Menschen sorgfältig und achtsam geformte und kultivierte – Kraft, die überdauert. Sie ist Bewahrer und Erhalter des Lebens. Solcherart vermittelt das Buch in subtiler Weise die Bedeutsamkeit der Übernahme von Verantwortung für die uns umgebende Umwelt wie auch für die Wichtigkeit eines behutsamen Miteinanders, eine Haltung, die über das eigene Erleben und den eigenen Tellerrand hinausschaut.

Das Buch ist lesbar auf verschiedenen Ebenen, und auf jeder dieser Ebenen ist es vollkommen: In reiner Anschauung befangen, durch den Garten der Erinnerung flanierend, den spärlichen Text außer Acht lassend, sich im Grün verlierend; analytisch und interpretierend, auf den geordneten und hergerichteten Wegen schreitend. Es ist ab einem Alter von vier Jahren empfohlen, aber eine Bereicherung für jedes – auch erwachsene – Lesealter.

„Jetzt ist er ziemlich alt.“ Der kleine Satz zum Bild eines über zwei Doppelseiten sich erstreckenden weit verzweigten Baums, der alle Jahreszeiten spiegelt: Von einem frühlingshaften hellen Grün seiner Blätter über die starke Farbkraft des Sommers hin zu bunten, schließlich sich entfärbenden und abfallenden, im Wind davonwehenden, zartgelben Blättern – der Lauf eines Menschenlebens über alle Jahreszeiten. Und just in den sich entblätternden, entfärbenden Ast hat sich der kleine Junge gehängt und schaukelt mit angezogenen Beinen, nachdenklich ein herabfallendes Blatt betrachtend. Das neue Leben steckt schon im Alten.

Ein Tableau des urgroßväterlichen Lebens bietet auch die aufklappbare Doppelseite gegen Ende des Buchs, die noch einmal alle wesentlichen Lebensstationen auf einen Blick enthält: vier Seiten, das Innere nach außen gekehrt, die Sichtbarkeit der Erinnerung. Und obschon der Urgroßvater niemals Gartenbaukunst studieren konnte, wie er es als junger Mann hatte tun wollen, so ist es ihm nun, am Ende seines Lebens, dennoch gelungen, seinen Traum auf seine eigene Weise wahr werden zu lassen, Bäume und Natur sein Leben erzählen zu lassen, diesen autobiografischen Garten zu erschaffen. Und was könnte besser geeignet sein, den bleibenden Wert von Erinnerungen zu veranschaulichen, als Bäume, die uralt werden können, Himmel und Erde verbinden und unser Leben als Menschen prägen und begleiten, sei es bildlich als Stammbaum der Familie oder konkret als Maibaum, Weihnachtsbaum oder persönlicher Lebensbaum.

Großvaters Bäume ist ein zeitloser Klassiker. Es ist eine Hommage an einen wundervollen Urgroßvater und seinen ebenso wundervollen Urenkel, an die Natur und das Leben. Die Bilder erzählen unmittelbar und eindringlich, der Garten wird zum symbolischen wie konkret begehbaren Ort, der nicht nur die Ebenen der Zeitlichkeit, sondern auch die der Räumlichkeit verschmilzt. Ein Buch, das in das Bücherregal einer jeden Familie gehört und dessen Genuss niemand sich entgehen lassen sollte.

Titelbild

Lane Smith: Großvaters Bäume.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Uwe-Michael Gutzschhahn.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
44 Seiten, 14,99 EUR.
ISBN-13: 9783737354233

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch