Autosoziobiografisches Schreiben

Ein Gespräch mit Marco Ott über soziale Herkunft, Intertextualität und den persönlichen Schreibprozess

Von Rebecca SiegertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rebecca Siegert

Literaturkritik.de: Vor allem französische Stimmen der gegenwärtigen Literatur wie Didier Eribon und Annie Ernaux sind bekannt für die Thematisierung von Klassismus in ihren autosoziobiografischen Texten. Édouard Louis ist als junger französischer Schriftsteller in aller Munde. Welche Vorreiter*innen gibt es für diesen Themenbereich in der deutschen Literatur?

Marco Ott: Ich würde gerne vorher einsteigen. Ich stoße mich ein bisschen an dem Begriff Klassismus. Er definiert die Diskriminierung aufgrund von sozialer Herkunft, aber damit wird dann immer etwas Größeres unterschlagen, was Strukturelles und zwar die Ungleichverteilung von verschiedenen Kapitalsorten. Das größere Problem ist das Hierarchieverhältnis. In meinem Verständnis – und das hat sich über die Monate und Jahre auch gewandelt – greift der Klassismusbegriff zu kurz. Wir sollten uns die Strukturen anschauen, die zu Klassismus führen.

Literaturkritik.de: Kannst du das Thema, das du und die schon genannten Stimmen literarisch verhandeln, spezifizieren?

Ott: Ich würde einfach Klasse sagen. Du hattest gefragt, wen es im deutschsprachigen Raum gibt. Ich habe gestern Klassenliebe von Karin Struck zu Ende gelesen, 1973 erschienen bei Suhrkamp. Ich fand es teilweise ein bisschen langweilig, weil es tagebuchartig ist und Kommunenleben beschreibt, was mich nicht so gejuckt hat. Ich weiß leider nicht mehr, wie ich auf das Buch gekommen bin, aber da steckt super viel drin, was die Klassenübergängerfigur angeht, die aus einer Arbeiterfamilie stammt und sich in der akademischen Welt wiederfindet. Da ist Karin Struck eine komplette Vorreiterin, noch vor Annie Ernaux. Es gibt ein paar Stellen, die echt einen Nerv bei mir getroffen haben. Ich habe ja schon viel gelesen zu diesem Thema, deswegen finde ich es umso erstaunlicher, dass sie mich an einigen Stellen noch so treffen konnte.

Literaturkritik.de: Welche aktuellen Stimmen der jüngeren deutschen Literatur sind für dich nennenswert, wenn es um das Thema Klasse geht?

Ott: Olivier David ist eine wichtige Stimme. Mit seinem Schreiben füllt er gerade eine wie ich finde große Lücke: In Zeiten des erstarkenden Rechtsextremismus braucht es dezidiert linke Stimmen. Die sind in meinen Augen selten anzutreffen, weil der bürgerliche Literaturbetrieb seine Kunstschaffenden implizit zu einem Gehorsam erzieht, dass sie befürchten müssen, ihren hart erkämpften Platz zu verlieren, wenn sie dezidiert linke Positionen vertreten. Vor allem in seinem zweiten Buch Von der namenlosen Menge stellt Olivier wichtige Überlegungen an, darüber wie man über Klasse schreibt, auf eine Weise, hinter der man stehen kann. Er denkt in größeren strukturellen Kontexten und stellt sich Dingen, die wichtig und schwierig sind, davor ziehe ich meinen Hut.

Literaturkritik.de: Was ich zurückließ, dein Debütroman, der ebenfalls autosoziobiografisch ist, ist in diesem Frühjahr erschienen. Er handelt von einem Sohn, der sich mit einem Brief an seine Eltern richtet. Durch eine Nachricht seines Vaters kommen viele Erinnerungen an die Vergangenheit hoch, an seine Kindheit und Jugend in einer Arbeiterfamilie in Dinslaken und „seine Versuche, in der akademischen Welt Fuß zu fassen“. Die Frage ist, was er auf diesem Weg zurückgelassen hat. Und meine Frage an dich ist: Gibt es Bücher, die für die Entstehung oder für die Arbeit an deinem Roman wichtige Wegweiser oder Inspirationsquellen waren und wenn ja, welche?

Ott: Für die Form war es sicher Ocean Vuongs Auf Erden sind wir kurz grandios, ein Brief an die Mutter, die nicht lesen kann. Das Buch war ein riesen Schreibimpuls für mich. Da gibt es formal viele Überschneidungen, natürlich mit ganz anderen Inhalten. Und natürlich Édouard Louis, Wer hat meinen Vater umgebracht?– ist glaube ich mein Lieblingsbuch von ihm. Da findet auch eine Adressierung an den Vater statt. Das waren Bücher, die mich dazu bewegt haben, literarisch einen ähnlichen Weg einzuschlagen. Und natürlich Annie Ernaux, was so eine Präzision in der Sprache angeht, die Genauigkeit und Kürze, dass man mit knappen Sätzen manchmal mehr sagen kann als mit ausufernden Sätzen. Das entspricht mir auch, als Herangehensweise, dass hinter den Worten was steckt, oder was mitschwingt. Das hat meine Schreibweise mit Sicherheit beeinflusst.

Literaturkritik.de: Was unterscheidet dein Debüt von anderen Texten junger deutschsprachiger Autor*innen, die über Klasse und Milieu-Wechsel schreiben?

Ott: Im deutschsprachigen Raum gibt es so weit ich weiß niemanden, der diese Briefform genutzt hat. Mir war es wichtig, da ganz nah ranzukommen, auch was die Beziehung zu meinen Eltern angeht, den Finger in die Wunde zu legen. Ich wollte über Entfremdung schreiben, aber auch über Nähe. Das Nähe-Distanz-Verhältnis zu meinen Eltern spielt eine große Rolle. Ich glaube, ich habe versucht, das im Schreiben auch herzustellen. Meine Sprache ist eher eine nüchterne und zurückgenommene Sprache, durch die ich versuche, bewusst auch Lücken zu lassen für die Leserin oder den Leser, sich da einzufühlen. Entweder das zu durchfühlen, was der Protagonist durchlebt oder sich selbst reinprojizieren zu können.

Literaturkritik.de: Ich würde gern noch ein bisschen über die Handlung des Romans mit dir sprechen. Du schreibst von einer gewissen Entfremdung zwischen dir und deinen Eltern, das thematisierst du schon im Prolog, wenn der Protagonist das Ruhrgebiet verlässt und nach Berlin zieht, um dort zu studieren. Wie kam es zu dieser Entfremdung?

Ott: Das Schulsystem ist das Problem, weil man dort mit bürgerlichen Wertmaßstäben konfrontiert wird, und wenn du dich als Arbeiterkind in diesem System bewegst und auch irgendwie behaupten willst, musst du dich dieser Wertmaßstäbe annehmen, und das führt natürlich automatisch zu einer Abwertung des Herkunftsmilieus, weil da ganz andere kulturelle Praktiken herrschen als im Schulkontext, zum Beispiel, was Bücher angeht: in der Schule wird dann Büchner oder Thomas Mann gelesen und zu Hause Kriminalromane. Das sage ich ganz bewusst ohne Wertung, aber da ist natürlich eine Diskrepanz. Eribon hat mal was Spannendes gesagt zu seinem Bildungsweg: „Unterwerfung war meine Rettung, Widerstand hätte meinen Untergang bedeutet.“ In jungen Jahren gibt es glaube ich keinen Weg, eine Balance zu halten, ich glaube es kann sehr schnell kippen, dass man sich diese Wertmaßstäbe zu eigen macht und wenn das passiert, dass es immer mit einer Abwertung des Herkunftsmillieus einhergeht, und gleichzeitig ins andere Extrem: Wenn man bei sich und seinem Herkunftsmillieu bleiben will, dann vollzieht man eine Abwertung des Schulsystems und schließt sich selbst aus. Man hat in so jungen Jahren eine Ahnung, dass Dinge von einem erwartet und verlangt werden, die man von zu Hause nicht kennt. Bildungssystem und bürgerliche Wertmaßstäbe sind glaube ich der Glutkern dieser Entfremdung zwischen mir und meinen Eltern. Man hat auch in dem Moment nicht die Wahl. Es gibt eine Schulpflicht. In jungen Jahren kann man glaube ich nicht auf beiden Hochzeiten tanzen.

Literaturkritik.de: Du schreibst von mehreren Umzügen in deinem jungen Erwachsenenleben, von Dinslaken nach Berlin, nach Leipzig, nach Frankfurt, nach Hildesheim. Aus deiner heutigen Sicht: Wieso hast du immer wieder entschieden an einem anderen Ort neu anzufangen?

Ott: Diese Orte waren für mich immer geknüpft an das, was ich so vorhatte. Berlin: Filmuniversität, Leipzig: Literaturinstitut, Frankfurt: Mittelweg, nicht angenommen worden am DLL, aber trotzdem was mit Literatur studieren wollen, also Literaturwissenschaft studieren. Dann in Hildesheim doch genommen worden an so einem Institut. Wege haben sich für mich immer wieder als Sackgassen rausgestellt, wenn du mehrmals an der Filmhochschule abgelehnt wirst, ist es zwangsläufig so, dass du da mit Dingen konfrontiert wirst, die dich denken lassen: Okay, dieser Weg ist versperrt. Da komme ich nicht weiter. Und ich glaube, meine Umzüge waren immer Wege, um wieder neu anzufangen und mir auch den Auftrieb des Ortswechsels zunutze zu machen, dabei gerät ja immer auch etwas ins Rollen und entsteht eine gewisse Energie, es gibt neue Eindrücke, ein neues Umfeld. Ich bin phasenweise auch versumpft, nach meiner zweiten Absage in Leipzig zum Beispiel musste ich auch einfach da weg, woanders hin, um neue Kräfte zu sammeln. Ich hatte den Job als Fahrradkurier und den Freundeskreis, aber es war alles nicht wirklich erfüllend. Da hat was gefehlt und dann musste ich ganz dringend da weg. Ist auch spannend die Frage: was bewegt einen dazu, zu gehen? Andere wären wahrscheinlich geblieben, man hat seinen Kreis, seinen Job. Also auch spannend die Frage: was hindert einen daran, zu gehen?

Literaturkritik.de: Du studierst aktuell noch im Master am Literaturinstitut Hildesheim. Wann kam der Impuls, über deine soziale Herkunft zu schreiben?

Ott: Begonnen hat es in Frankfurt. Wie das manchmal so ist: Ich saß im Zug und neben mir saß ein Typ, der hat Rückkehr nach Reims gelesen. Ich fand das Cover irgendwie ansprechend. Dann habe ich es mir gekauft und gelesen und das war eine Art Erweckungserlebnis für mich. Das ist ein großes Wort, aber das kann man in diesem Fall guten Gewissens sagen. Ein Buch hat dann zum anderen geführt, ich habe Soziologie-Seminare besucht, und das alles hat Dinge losgetreten, weil es mir eine Sprache an die Hand gegeben hat für Dinge, die ich zwar gefühlt habe, aber die ich noch nicht greifen konnte. Das war der Anstoß, um sich auch literarisch mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Dann habe ich erstmal eine Kurzgeschichte geschrieben, recht distanziert, in der dritten Person und dann war sie fertig und ich habe gemerkt, ich bin noch nicht fertig damit, da muss ich tiefer reingehen.

Literaturkritik.de: „Erst später habe ich begriffen, dass die Beziehung, die ich zu euch habe, ein Spiegelbild der Beziehung ist, die ich zu mir selbst habe.“ In den Texten von Annie Ernaux gibt es immer wieder Mini-Resümees, wie dieses Zitat von dir. Die Sprache ist sehr präzise und kurz. Glaubst du, dich bewusst von ihr inspiriert haben zu lassen, was deinen Schreibstil betrifft oder dass es ein organischer Prozess war?

Ott: Ich glaube, bei einer autosoziobiografischen Schreibweise drängt sich diese Reflexionsebene auf. Man versucht, Dinge im Sozialen zu erkennen und einzuordnen. Da muss man zwangsläufig mal einen Schritt zurücktreten. Die Reflexionsklammer habe ich natürlich von Annie Ernaux. Ich finde das auch was Schönes. Das ist ja eine Art Wertschätzung, intertextuelle Bezüge, Überschneidungspunkte zu Leuten, zu denen man aufschaut.

Literaturkritik.de: Das, was dieses Zitat aussagt, ist das etwas, das dir schon bewusst war, als du angefangen hast, das Buch zu schreiben?

Ott: Es gibt ja diesen Epilog, wo es mehr Einordnung gibt und der Satz kam mir, als ich total im Tunnel war. Ich habe erst später gemerkt, dass da voll viel mitschwingt. Lange Zeit war das Manuskript in der Schwebe, die Agentur- und Verlagssuche ist total im Sande verlaufen und dann lag der Text einige Monate nur rum. Ich habe bei der Mitte des Frankfurtteils aufgehört und konnte nicht zu Ende schreiben, weil es mir so zugesetzt hat, dass keinerlei Resonanz kam. Ich war in so einer Art Fatalismusmodus. Wieso soll ich es jetzt zu Ende schreiben? Und dann hat es geklappt mit der Edition W und dann habe ich das Buch innerhalb eines Monats zu Ende geschrieben. Da haben sich dann Dinge gelöst, ich habe den Vertrag unterschrieben und damit war klar, es wird ein Buch draus, das hat mir großen Antrieb gegeben, nochmal alles reinzulegen in die letzten Seiten. Ich glaube, im Endeffekt war es gut, dass ich nochmal Luft holen konnte. Für den Text, nicht für mich persönlich. Und in diesem Gefühlskonglomerat ist dann auch der Satz entstanden.