Visuelle Sinfonie der Superlative

In „Stockhausen. Der Mann, der vom Sirius kam“ loten Thomas von Steinaecker und David von Bassewitz die Grenzen der Graphic Novel aus

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manchmal lässt sich Musik nicht von Alltagsgeräuschen unterscheiden; manchmal nähern sich Musik und das, was man gemeinhin als Krach bezeichnet, einander an. Für Alltagsgeräusche bietet sich somit die Chance, sich in Musik zu transformieren und für Musik eröffnet sich umgekehrt die Möglichkeit, sich an den Alltag zu assimilieren. Einer, der dies auf einzigartige Weise zu belegen vermag, ist Karlheinz Stockhausen. Mit seinem Tod im Jahr 2007 hinterließ der 79-jährige Komponist das Opus Magnum von 363 zwar einzeln aufführbaren Musikstücken, die in ihrer Totalität jedoch eine neue Art von Gesamtkunstwerk bilden.

Stockhausen, der unter anderen die Beatles und Miles Davis inspirierte, war ein avantgardistischer Tausendsassa. Dem Wesen jeder Avantgarde gemäß, kreierte er bahnbrechende Werke und reflektierte gleichermaßen über den Stellenwert von Kunst im menschlichen Leben und darüber hinaus. Seine Kompositionen, für die beispielsweise Adjektive wie „atonal“, „seriell“ oder „elektronisch“ herangezogen wurden, entziehen sich jedweder Etikettierung.

In die Schar der Bewunderer reiht sich Thomas von Steinaecker ein, dem es mit der vorzüglichen Visualisierung von David von Bassewitz nicht nur gelingt, ein exzellentes Porträt des Komponisten zu entwerfen, sondern der ebenso vermitteln kann, wie seine individuelle Rezeption dieser besonderen Musik begonnen und wie sie sich entwickelt hat. Er skizziert die Etappen seiner Annäherung an Stockhausens Leben und Werk in einem autofiktionalen biografischen Panorama oder schlichtweg einem prächtigen dickleibigen Bilderbuch, das bislang lediglich „Teil Eins“ von zwei geplanten Teilen ausmacht.

Jedes der fünf großen Kapitel beginnt mit einer einfarbigen Doppelseite, auf der allein der jeweilige Titel erscheint: rechts mittig platziert, vergleichsweise klein, immer so, dass eine Seite gänzlich ohne Text bleibt und die Farbe perfekt auf das Kommende einstimmen kann. „ – Wie die Zeit vergeht – “ steht unter der Ägide eines dunklen Anthrazitgraus; „Kontrapunkte ● ·“ ist demgegenüber in einem gräulichen Blau mit leichten Schattierungen, zum Lila hintendierend, gehalten; „● · gesang der jünglinge“ kommt in einem dunklen Salbeigrün daher; „kont a k t  e“ in einem hellen Bordeauxrot mit weißen Schlieren auf der Mitte der Seite. „L i c h t“ manifestiert sich in einem buttrigen Gelb, das mit helleren Schattierungen durchsetzt ist. Wie ein Drama in fünf Akten tritt das Buch auf, indessen nicht als Tragödie mit einer Katastrophe als Kulminationspunkt, sondern vielmehr mit einer (vorläufigen) finalen Apotheose, in die der stringente Aufbau einmündet. Die unterschiedlich langen Kapitel wirken außerdem wie eine Sinfonie in fünf Sätzen, in der man eine Reminiszenz an Ludwig van Beethovens Sechste Sinfonie, die Pastorale, oder Gustav Mahlers Fünfte Sinfonie erahnen könnte, insofern als beide, nicht klassisch regelkonform, aus fünf Sätzen bestehen. Beide Komponisten gelten, ähnlich wie Karlheinz Stockhausen, als musikalische Innovatoren.

Am Anfang der Kapitel liegt der Fokus durchweg auf dem jungen Ich-Erzähler, unverkennbar der Autor. Die Extradiegese, die Rahmenhandlung, setzt im Juli 1989 ein: die Anfänge von Asterix-Comics in Bild und Wort erinnernd, unterstreicht der Erzähler, dass in der ganzen Bundesrepublik Urlaubsstimmung herrsche, nur nicht in einem bayerischen Dorf an der tschechoslowakischen Grenze, wo die Ferien so ablaufen würden wie in allen Jahren zuvor – in gediegener Langeweile. In diese Ferien-Melancholie bricht jedoch ein überwältigendes Hörerlebnis hinein: Stockhausens Gesang der Jünglinge, den der zwölfjährige Thomas als eine Art „Grower“ rezipiert: zuerst empfindet er ihn als „beknackt“, bevor er, rundum enthusiasmiert, „die Platten wie Tickets zu einem fremden Planeten“ feiert. Mit der Lektüre einer Stockhausen-Biografie, die er zuerst dem älteren Bruder überlassen muss, nimmt das Fantum seinen Lauf.

Die Binnenerzählung beginnt im Jahr 1938. Der zehnjährige Karlheinz, dessen Stiefmutter ein Kind erwartet, blickt voller Trauer auf die Zeit zurück, als er mit beiden Elternteilen und seiner jüngeren Schwester zusammengelebt hat – bis zu dem Tag, als seine psychotische Mutter in eine Heilanstalt eingewiesen wurde, dort dauerhaft verschwand und der Vater sich scheiden ließ. 1941 trifft die Nachricht ein, dass die Mutter in Hadamar plötzlich an Leukämie verstorben sei. Wie viele andere fiel sie dort einer Zwangstötung zum Opfer.

1942 bis 1944 befindet sich Stockhausen in einem Internat in Xanten, bevor er und seine Mitschüler im Frontlazarett Bedburg bei der Versorgung von Kriegsverletzten helfen müssen. Im Februar 1945 flieht er, kommt nach Hause, nur um zu erfahren, dass sich der Vater freiwillig an die Front gemeldet hat.

Eigentlich möchte Stockhausen Schriftsteller werden, entscheidet sich aber für das Studium der Schulmusik. Während eines Semesters in Paris begegnet er Arnold Schönbergs Zwölftonmusik und Olivier Messiaens Werken. Zurück in Köln, heiratet er seine Freundin Doris, mit der er vier Kinder haben wird.

Eines der ersten bedeutenden Stücke, Kontra-Punkte, wird am 26. Mai 1953 in Köln uraufgeführt.

Bis zur ersten Aufführung des Gesangs der Jünglinge, 1956, intensiviert Stockhausen sein Schaffen. Er gilt als „Skandalkomponist“, den Kollegen aus der ganzen Welt besuchen.

1961 lernt er Mary Bauermeister kennen, die in ihrem Kölner Atelier einen „Ort für alle Künste“ bereitstellen möchte. Nach dieser Begegnung habe sich Stockhausens Musik, so der Ich-Erzähler, verändert. Der Künstler unternimmt Reisen durch die ganze Welt, bevor er 1967 eine Gastprofessur an der University of California antritt. Mary, nun seine zweite Ehefrau, begleitet ihn. Eine Komposition dieser Zeit ist Stimmung – darauf habe ihn sein kleiner Sohn Simon gebracht –, eine weitere ist Hymnen, die Kombination von 40 Nationalhymnen. In dieser Zeit hätten wohl die Beatles gern ein Konzert mit Stockhausen gegeben, was dieser aber abblockt.

Nach der Trennung von Mary Bauermeister, im Mai 1968, entferne sich Stockhausen längere Zeit aus der Öffentlichkeit. Später lebt er mit zwei Musikerinnen zusammen, widmet sich der sogenannten Formelmusik und verfolgt schließlich nur ein einziges Ziel: eine Oper bzw. sieben Opern mit dem Titel Licht zu komponieren. Sie sollen sein Leben spiegeln, seine sechs Kinder, seine Exfrauen und die aktuellen Lebensgefährtinnen sollen an der Aufführung beteiligt sein. Für ihn – so der Ich-Erzähler – sei die Stockhausen-Episode wohl irgendwann vorbei gewesen, wenn er ihn nicht 1996 getroffen hätte. Doch das werde in Teil 2 erzählt.

Thomas von Steinaecker und David von Bassewitz inszenieren all diese biografischen Etappen in beeindruckender Dichte: Im ersten Kapitel ergreifen insbesondere alle Bilder, die mit der Erkrankung der Mutter und ihrer Internierung zu tun haben. Schwärze breitet sich genauso aus, als Karlheinz im Lazarett assistieren muss. Nur die Konturen der vor Blut tropfenden Gliedmaßen, die der Operateur in die Höhe hält, durchdringen die Dunkelheit. Die Tötung verletzter Kriegsgefangener traumatisiert den Jungen vollständig, was packende Illustrationen verdeutlichen.

Der Gegenpol zum Entsetzen wirkt nicht minder authentisch: im Kapitel „Kont a k t  e“ zeigt sich Stockhausens Affinität zur 1968er Generation und ihrem Standardslogan, „Make love not war“. Flower-Power-Stimmung verleiht dem Leben des Komponisten Farbe, was Bilder und Text meisterhaft wiedergeben.

Dasselbe gilt für die Nähe, die der Ich-Erzähler zu Stockhausen empfindet, und für die christlich-katholische Bodenhaftung, die den Komponisten, ehemals Messdiener, trotz aller Widrigkeiten auf Besseres hoffen lässt. Als er aus dem Lazarett nach Hause flieht und wortwörtlich „im finsteren Tal wandelt“, tröstet ihn Psalm 23. Später weicht dieser Glaube einer gewissen spirituellen Flatterhaftigkeit.

Im Vergleich zu anderen Graphic Novels weist Stockhausen eher wenig Text auf. Trotz der chronologischen Ordnung formiert dieser eine gleichsam diskontinuierliche, episodische und nahezu minimalistische Erzählung, die sich in ausgeklügelte Illustrationen einfügt. Sowohl großflächige Close-ups als auch detailreiche Panels beweisen, dass eine Vielzahl künstlerischer Mittel zum Einsatz kommen. Mit ihnen wird die Gattung Graphic Novel unter anderem in Richtung Film und Theater transzendiert, passgenau – so lässt sich folgern – zu Stockhausens Kompositionen. All dies wird den Leser:innen so dargeboten, dass sie ihre persönliche Stockhausen-Episode in die Rezeption des Buches einschreiben können. Die Geschichte einer Begeisterung kann sich also in die Art und Weise hinein fortsetzen, wie die Illustrationen aufgenommen und wie der Text gelesen wird. Wenn man Stockhausens Musik begleitend hört, potenziert sich die damit gebotene Chance eines synästhetischen Erlebnisses.

Sich allem Normativen widersetzen, neue künstlerische Wege suchen, sich nicht von den Unkenrufen der Traditionalist:innen beirren lassen – so oder ähnlich ließe sich die wichtigste Botschaft des Autorenduos zu Stockhausen auf den Punkt bringen. Laut Peter Bürgers Theorie der Avantgarde zeichnen sich historische Avantgarden, so etwa der Surrealismus, dadurch aus, dass sie Kunstwerke nicht als auratische, lebensferne ästhetische Gebilde konzipieren, sondern danach streben, sie bei aller Grandiosität und Exzeptionalität zu demokratisieren. Vor diesem Hintergrund ergeben sich Querschnittstheoreme, die auch Stockhausens Schaffensperioden, so divergierend sie sein mögen, durchziehen: Entautonomisierung und damit Nahbarkeit von Musik und Kunst, das Publikum, selbst wenn es etwas fremdelt, als integralen Bestandteil der Tonwelten zu begreifen, sich an der Disponibilität aller künstlerischen Mittel zu erfreuen und diese auf Philosopheme auszudehnen. Sie sind eingebunden in eine synkretistische Gesamtschau, vom Katholizismus über Buddhismus hin zu einer anthroposophischen Akzentuierung, immer mit dem Anspruch, dass Kunst eine göttliche Ordnung widerspiegeln solle. Alles Besondere sei an das Leben gekoppelt, Leben sei „die wesentliche Komposition“, „die er zu vollbringen habe“, so wird Stockhausen zitiert. Darüber hinaus: „I really think music, not politics, is the tool that can heal this world“.

„Stockhausen, das war eine Lebenseinstellung“ – so resümiert Thomas von Steinaecker. Hinzuzufügen wäre, dass der musikalische Inspirator mit durchdringender interindividueller Strahlkraft nicht minder großen Wert auf Phasen individualistischer, nachgerade egozentrischer Einkehr legte. Immer wieder betonte er, auf „sein Inneres“ und seine Intuition zu hören. Angeregt durch Schriften von Sri Aurobindo, verfasste er Texte, mit denen die Mitglieder seines Ensembles einen „direkten Kontakt zum Überbewussten“ herstellen sollten, damit „die mentale Operation, die uns an den Boden nagele“ sie nicht hemmte.

Avantgardistische Multiperspektivität, damit einhergehende radikale Infragestellung alles Traditionellen gepaart mit einem Hang zum Superlativistischen – all dies ist auf eindrückliche Weise beim Betrachten und Lesen der brillanten Bild-Text-Kompositionen zu spüren. Sie laden dazu ein, in sie hinab zu tauchen, sie mehrfach anzuschauen und zu lesen, sich in toto auf die genretranszendierende visuelle Sinfonie einzulassen und dabei im Idealfall Stockhausens Musik zu hören.

Man darf gespannt sein auf den Folgeband.

Titelbild

Thomas von Steinaecker / David von Bassewitz: Stockhausen – Der Mann, der vom Sirius kam.
Carlsen Verlag, Hamburg 2022.
392 Seiten , 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783551733665

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