Blick zurück nach vorn
Iris Wolffs neuer Roman bringt Licht in die Geschichte Mitteleuropas
Von Helmut Sturm
„Unter der Pinie hatte er ihr eröffnet, dass er zurück müsse“, heißt es gleich zu Beginn des Romans Lichtungen, der von den Freunden Lev und Kato handelt. Nach fünfjähriger Trennung treffen sie sich wieder in Frankreich und beschließen, gemeinsam zurück nach Rumänien zu reisen. Gut zehn Nummern der ab 1979 von Klaus Wagenbach herausgegebenen Vierteljahresschrift Freibeuter enthielten die Rubrik „Blick zurück nach vorn“, die Absicht: die Auswirkungen der Vergangenheit für die Gegenwart zu erkennen und zu korrigieren. Auch Iris Wolff geht davon aus, dass die Vergangenheit Festschreibungen enthält, die letztlich maßgebend unsere Identität und Sicht auf das Leben bestimmen. In einem Interview erklärt sie: „Will man die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, muss man sich ihr zuwenden.“ Und dass diese Auseinandersetzung dazu beitragen könne, ein gegenwärtiger und freier Mensch zu werden. In ihrem Roman setzt sie diese Einsicht auch formal konsequent um, indem sie rückwärts erzählt: Das Kapitel 1 steht am Schluss und ist der Ausgangspunkt der Spurensuche, die den Blick von uns Lesern frei macht für die Tatsache, wie sehr das Zeitgeschehen und die sozialen Erfahrungen in die Lebensläufe der Romanfiguren (und vermutlich von uns allen) eingeschrieben sind. „Seine Herkunft war in seinem Akzent, war ihm eingenäht in Kleidung und Schuhe.“
Die Freundschaft zwischen Lev und Kato beginnt in der rumänischen Heimat, als Lev nach einem Unfall ans Bett gefesselt ist. Es ist die am Rande des Dorfes lebende Kato, die begabt und kreativ sich darum kümmert, dass Lev den schulischen Anschluss nicht verliert. So entsteht eine Nähe, die die beiden Außenseiter in einer lebenslangen Freundschaft verbindet, obwohl im Erwachsenenalter sich ihre Wege zunächst trennen: Kato verlässt das Heimatdorf mit dem deutschen Touristen Tom, während Lev in Rumänien bleibt, die Schule abbricht, zum Militärdienst muss und als Waldarbeiter sein Geld verdient. Es sind die Postkarten Katos, die Erinnerung und das starke Vertrauen, die weiterhin die Verbindung bestehen lassen.
Lev hat eine siebenbürgische Mutter und einen rumänischen Vater; sein Großvater Ferry beruft sich auf seine österreichischen Vorfahren. An seinem Beispiel zeigen sich die ganze Vertracktheit nationaler Zuschreibung und die Komplexität des Themas Zugehörigkeit und Identität besonders.
Lev verfolgt in der Begleitung seines Großvaters in einem Kurbad interessiert am Esstisch ein Gespräch, ob Lenau ein rumänischer, deutscher oder österreichischer Dichter sei.
Wenn die Sache bei Lenau so schwer war, wie war es dann bei ihm? Ein Rascheln verriet, dass der Großvater aufgewacht war (“noppen nannte dieser den Schlaf, der sich zur Mittagsruhe einstellte), und Lev fragte ihn, was er denn nun eigentlich war. Im anderen Bett wurde ein paar Mal tief ein- und ausgeatmet. Bei einer siebenbürgisch-sächsischen Mutter, einem rumänischen Vater und einem österreichischen Großvater sei die Sache nicht so einfach. […] Ein paar Minuten verstrichen, dann richtete sich Ferry auf und sagte, wenn die Verhältnisse so kompliziert seien wie in ihrer Familie, plädiere er dafür, dass man sich die Sache aussuchen könne. Sie saßen auf ihren Betten, einander gegenüber. Lev baumelte mit den Beinen, die des Großvaters reichten bis zum Boden. Zugehörigkeit, sagte Ferry, ist vielleicht nichts anderes als eine Entscheidung.
Eine Entscheidung vor der in der Gegenwart wohl mehr Menschen stehen als früher. Ferry entscheidet sich zur Flucht nach Österreich, Lev ist Fluchthelfer.
Iris Wolff erzählt in Bildern, die lange nachwirken und im Gedächtnis verbleiben: Bilder ländlichen Dorflebens, Bilder aus der Familienchronik, Bilder von Geheimnis und Unterdrückung beschatteter Zusammenkünfte, Bilder von Lichtungen als Spuren unveräußerlicher Hoffnung. Es sind Bilder genährt von genauem Hinschauen und geduldigem Zuhören. Bilder, die auf faszinierende Weise Assoziationen auslösen, wie das große Literatur vermag.
Lichtungen ist ein Roman, der die Geschichte Osteuropas, die erst mit der Migrationsbewegung nach 1989 zunehmend wahrgenommen wird, lebendig werden lässt. Es entsteht ein eindrucksvolles Bild des ländlichen, multiethnischen Rumäniens in der Zeit der kommunistischen Diktatur. Dabei ist die Haltung der Autorin ziemlich einzigartig. Sie benennt nicht einzelne politischen Sachverhalte, sondern zeichnet diese ganz aus der oft auch sehr beschränkten Wahrnehmung der unter ihnen leidenden Menschen nach. So entsteht keine explizite Anklage, vielmehr eine Art melancholische Trauer über Unfreiheiten und Machtverhältnisse. Beim Kurarzt wartet Lev, eigentlich Leonhard, auf das Untersuchungsergebnis:
Da es eine Weile still blieb, nahm er an, dass die Untersuchung fertig war. Ceaușescu sah gütig aus, großväterlich, sein Haar glänzte, sein schwarzer Anzug stand im Kontrast zur blau-gelb-roten Flagge. Nur das in den Himmel aufragende Gerüst auf der linken Plakatseite hatte Lev noch nie verstanden. Sein Bruder Valea sagte, es stelle den Fortschritt dar. War der Fortschritt ein Gerüst?
Wenn es tatsächlich so etwas wie einen Fortschritt geben kann, dann helfen Romane wie dieser, dazu beizutragen und daran zu glauben.
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