Der Mörder kommt zur Hochzeit
Leonie Swanns Roman „Tod in Mistletoe Manor“ über eine Verbrechen aufklärende Senioren-WG besticht einmal mehr mit skurrilem Humor, enttäuscht aber durch einen aufgesetzten Schluss
Von Stefan Neuhaus
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Unser Herz hat Platz für allerlei Widersprüche“, heißt es in Theodor Fontanes Irrungen, Wirrungen, und das gilt nicht nur für die Liebe zu Mensch und Tier, sondern auch für die Liebe zur Literatur. Manche Romane, Dramen und Gedichte liest man, weil man sie bewundert, andere, weil man sich gut unterhalten fühlt. Die Grenze zwischen E und U, zwischen ‚ernster Literatur‘ und Unterhaltungsliteratur ist fließend geworden, doch manche Erwartungen sind geblieben. Von einer zur Entspannung dienenden Sommerlektüre erwarte ich nicht ein Ende, das in gewisser Weise mit dem von Shakespeares Hamlet vergleichbar ist. „Schwimmt der Held im eigenen Blut? / Ende schlecht, alles gut!“, dichtete Erich Kästner einmal ironisch. Für anspruchsvolle Literatur ist das durchaus nicht verkehrt, will sie doch zur Reflexion anregen. Aber bei Büchern, zu denen man aus anderen Gründen greift, auch? Was also tun, wenn sich gleich zwei meiner Lieblingsautoren entscheiden, meine Erwartungen erst zu erfüllen und dann maximal zu enttäuschen? Walter Moers hat es letztes Jahr getan in Die Insel der tausend Leuchttürme; Leonie Swann hat es gerade getan in Tod in Mistletoe Manor.
Leonie Swann ist ein Pseudonym. Ohne groß recherchiert zu haben, ist die Autorin dahinter offenbar ein Mysterium, auch darin Walter Moers vergleichbar, oder Patrick Süskind, einem anderen Erfolgsautor, wobei man bei Moers und Süskind zumindest die echten Namen kennt, wenn auch nicht viel mehr als das. Man erfährt, wie bei jeder Neuerscheinung von Swann, im Klappentext, dass sie „1975 in der Nähe von München geboren“ wurde, „Philosophie, Psychologie und Englische Literaturwissenschaft in München und Berlin“ studierte, dass sie in England lebt und dass ihre Bücher, zumindest einige von ihnen, bisher in 25 Sprachen übersetzt wurden. Schon das Studium der Englischen Literatur, vermutlich eher das der Anglistik, dürfte eine Herzensentscheidung gewesen sein und es wäre interessant zu wissen, wie es gekommen ist, dass eine geborene Bayerin so anglophil ist (wobei ihr angenommener Nachname vermutlich auf Marcel Prousts bekannte Figur anspielt).
Die Hauptschauplätze ihrer Bücher sind in der britischen Provinz, beginnend mit dem unerhört witzigen Einfall, ein Schaf zur Ermittlerin in einem Mordfall zu machen. Glenkill. Ein Schafskrimi erschien 2005 und nun liegt mit Tod in Mistletoe Manor der neunte Roman der Autorin vor. Sie liebt offenbar ebenso Fortsetzungen wie die Abwechslung. Garou. Ein Schaf-Thriller von 2010 führt das tierische Figurenpersonal von Glenkill fort und die Bewohner*innen der Rentner-WG von Sunset Hall kommen im neuen Krimi nun zum dritten Mal vor, nach Mord in Sunset Hall von 2020 und Miss Sharp macht Urlaub von 2022.
Wie bei ihren anderen Romanen ist die Autorin auch hier um Originalität bemüht: Die Figuren, die ihren Lebensabend in einem alten englischen Landhaus verbringen, sind skurrile Persönlichkeiten, die auch alle einen zum Genre passenden Hintergrund haben. Die Eigentümerin des Hauses und Hauptfigur, Agnes Sharp, hat früher bei der Polizei Mordfälle aufgeklärt; ihr Verehrer, der Marschall (eine Figur ohne Eigennamen), ist der sprichwörtliche Militär, allerdings mit Herz. Edwina war beim Geheimdienst, Bernadette hat – wenn auch nicht als Ermittlerin, sondern aus persönlicher Betroffenheit – einst einen Drogenring gesprengt und wurde mit einer neuen Identität ausgestattet.
Dieser dritte Roman der Senioren-WG ist die Fortsetzung von Handlungssträngen der beiden Vorgängerromane, die sich allerdings auch unabhängig voneinander lesen lassen, weil die wichtigsten Verbrechen jeweils einer Lösung zugeführt werden, so wie auch Einsteiger durchaus mit diesem Roman beginnen können (was nur wegen des Schlusses vielleicht ein Problem darstellt, aber dazu später mehr). In diesem dritten Sharp-ermittelt-Roman werden alle noch losen Fäden aufgenommen, die Erzählung um Agnes und ihre WG spitzt sich weiter zu. Im Zentrum der Handlung stehen die Hochzeitsvorbereitungen von Bernadette und Jack, einem ehemaligen Auftragskiller. Die beiden waren schon früher ineinander verliebt, aber durch Bernadettes neue Identität haben sie sich aus den Augen verloren und erst im vorherigen Roman wiedergefunden. Bernadette dachte eigentlich, Jack wäre auf Rache aus, weil sie seine Mitverbrecher verraten hatte; doch Jack war und ist seine Liebe zu ihr wichtiger als alles andere. Doch haben die beiden die Rechnung ohne einen ehemaligen ‚Kollegen‘ von Jack gemacht, der mit verraten wurde, ins Gefängnis kam und nicht zur Vergebung bereit ist. Die Rätselspannung des Romans besteht zunehmend aus der Frage, welche der Figuren, die zur Hochzeit dazukommen und der WG bisher nicht bekannt gewesen sind, der getarnt operierende Finsterling ist. Dass er mit einer anderen kriminellen Organisation in der Nähe zusammenarbeitet, erklärt später einige Zusammenhänge; wie und weshalb es zu dieser Zusammenarbeit gekommen ist, bleibt allerdings offen und ist wohl auch nicht so wichtig für den Fortgang der Handlung. Etwas irreführend ist der Titel des Romans, denn in Mistletoe Manor wird vergleichsweise wenig gemordet, auch wenn nicht nur die Hochzeiter:inne, sondern ebenso die Verbrecher:innen dort in gewisser Weise zuhause sind.
Erhalten bleibt die größte Stärke der Romane Swanns: Ihre Figuren sind auf eine witzige Weise skurril, die man oft den Briten selbst unterstellt. Edwina kümmert sich liebevoll um die Schildkröte Hettie und die Schlange Oberon, die auch beide ihre Gedanken und Gefühle mit den Leser*innen teilen. Tiere zu denkenden und handelnden Figuren zu machen, bleibt also neben der Frage nach unnatürlichen Todesursachen einer der beiden roten Fäden der Romane Swanns. Der wuschelige Wolfshund der WG heißt witzigerweise Brexit und die klugen WGler:innen sind sich alle einig in der Ablehnung der knappen politischen Mehrheitsentscheidung.
Die Skurrilität der Figuren ist Teil des Humorkonzepts. Alle Romane Swanns bestechen durch lakonisch-witzige Formulierungen, hier ein innerer Monolog von Agnes als Reaktion auf Bernadettes Erklärung, dass sich der Ex-Profikiller Jack darüber freut, seine Fähigkeiten in einer für die WG-Gemeinschaft nützlichen Weise einsetzen zu dürfen: „So konnte man es auch sehen. Ewina kümmerte sich um die Reptilien. Winston machte die Speisepläne. Der Marschall bestellte Sachen im Internet. Charlie hatte verrückte Ideen. Und Jack beseitigte unbequeme Leichen. Arbeitsteilung in ihrer schönsten Form.“ Überhaupt ist der Verzicht auf formelhafte Metaphern oder Adjektive und die durchgängige Verwendung leichter Ironie eine Wohltat, wenn man andere bekannte Unterhaltungsromane damit vergleicht. Abgesehen davon, dass die Senior*innen manchmal etwas wehleidiger gezeichnet werden als nötig, finden sich auch durchaus zu den Figuren passende kluge, Empathie zeigende Einsichten: „Das war eine der guten Sachen am Alter: Man lebte von Tag zu Tag. Und jeder Tag war ein kleiner Sieg.“
Wenn nur der Schluss nicht wäre, über den vermutlich bereits schon zu viel verraten wurde. Swann hätte sich, wenn sie unbedingt nach Höherem streben will, besser bei T.S. Eliot Rat geholt, der dereinst in seinem Gedicht The Hollow Men festhielt: „This is the way the world ends. Not with a bang but a whimper.“ Bei Swann steht am Ende der – auch wörtlich zu nehmende – Knall, wobei das auch noch nicht das Ende ist, frei nach dem berühmten Zitat von Oscar Wilde, hier in deutscher Übersetzung, oft auf Postkarten gedruckt: „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.“ Nun ja, wie sehr das Ende Wilde überzeugen würde, lässt sich nicht beantworten, und ob es, anders als mich, andere Leser*innen überzeugt, mögen diese selbst entscheiden.
Der Autor dieser Zeilen findet den Roman in Summe nicht stimmig und daher unbefriedigend; er wird nun auch, wie nach der Lektüre des letzten Romans von Walter Moers, erst einmal andere gelungene Unterhaltungsliteratur für sorgenfreie, aber dafür humorvolle Abendstunden suchen oder wieder einmal auf das Original, also die Detektivfigur, mit der Agnes Sharp oft verglichen worden ist, zurückgreifen: auf Agatha Christies Miss Marple. Wer auf intelligente Weise unterhalten werden möchte, ist bei Christie noch nie enttäuscht worden. Immerhin liegen 66 Kriminalromane von ihr vor (natürlich nicht alle mit Miss Marple), die sich von Zeit zu Zeit wieder lesen lassen, dem schlechten Gedächtnis sei Dank. Nicht immer ist der Erfolg beim Publikum auch ein Garant für kluge Texte für entspannte Stunden, für wohligen Nervenkitzel mit ein wenig Tiefgang – bei Christie aber schon.
Nun – wer weiß, vielleicht kriegt Leonie Swann beim nächsten Roman die Kurve und findet eine ebenso verblüffende Erklärung für ihren verblüffend-enttäuschenden Schluss, so wie dereinst Sir Arthur Conan Doyle bei Sherlock Holmes oder Wolf Haas bei dem Erzähler seiner Brenner-Krimis, die beide – . Mehr sei aber nun wirklich nicht verraten.
|
||