Tabubruch als Skandalauslöser?

Theoretische Überlegungen und das Beispiel von Michel Houellebecqs „Elementarteilchen“

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Wenn ein literarischer Text einen Skandal auslöst, steht oft die Behauptung im Raum, der Autor – oder sein Text? – habe ein Tabu gebrochen. Lässt sich diese Annahme mit Skandaltheorien vereinbaren? Und hält sie der Prüfung an einem historischen Beispiel stand?

Tabubruch und Skandaltheorie

Skandale sind häufig als Abfolge von drei Schritten betrachtet worden: „(1) Ein praktizierter oder angenommener Normbruch einer Person, einer Gruppe von Menschen oder Institution; (2) dessen Veröffentlichung; (3) und eine breite öffentliche Empörung über den zugeschriebenen Normbruch.“[1] Anstelle des Normbruchs könnte sich aus zwei Gründen auch der Tabubruch als erster Skandalschritt anbieten.

Zum einen stellen Tabus in gewisser Weise eine Steigerung von Normen dar. Laut Karin Seibel, die eine sehr ausdifferenzierte Tabutheorie vorgelegt hat, sind Normen „soziale Verhaltensregelmäßigkeiten“[2] und können durchaus kleinteilig und komplex verschiedene Verhaltens- oder Sprechweisen in verschiedensten Zusammenhängen regulieren. Sie sind rollen- und kontextspezifisch unterschiedlich: „Gebunden an Rolle, Position, Status etc. bewegen sich soziale Normen – auch sprachliche Normen – auf einem Kontinuum von Verhaltenserwartungen, welches von ‚gerade noch tolerabel‘ bis zu ‚vollständig erwartet‘ reicht. Außerhalb des Toleranzkontinuums werden Normabweichungen sanktioniert.“[3] Ein Tabu dagegen verbietet nicht nur ein bestimmtes Verhalten, sondern negiert Sprechen und Handeln per se: „[T]abu ist Nicht-Handeln, oder eindeutiger formuliert: Tabu ist Negation von Handeln.“[4]

Der zweite Grund, weshalb sich das Tabu zur Beschreibung von Skandalen als geeignet erscheint, ist die Emotion, die mit ihm verbunden ist: Tabubrüche werden „durch sich unwillkürlich einstellende Gefühle von Peinlichkeit, Scham und Schuld affektökonomisch sanktioniert“[5]. Dass die Gefühlsreaktion geradezu automatisiert erscheint, wird damit erklärt, dass „die Einhaltung des Tabus sowohl durch äußeren sozialen Druck als auch innere Zensurmechanismen überwacht“[6] wird. Mit dem Tabu wird also ein besonders striktes Verbot, eine Art „heißes Eisen“[7] bezeichnet, dessen Nichtbeachtung emotionale Reaktionen hervorruft. Mit einem Tabubruch ließe sich also auch die hohe Emotionalität von Skandalen erklären, die sie von einfachen Debatten unterscheidet.

Sowohl das Konzept vom Normbruch als auch das vom Tabubruch lässt sich einem „objektivistischen“ Skandalverständnis zuordnen. Objektivistische Theorien gehen davon aus, dass die Schwere einer Normverletzung darüber entscheidet, ob ein Ereignis zum Skandal wird oder nicht.[8] Demgegenüber vertreten „konstruktionistische“ Theoretiker die Auffassung, dass Normen niemals feststehen, sondern vielmehr „offene soziale Prozesse“ sind, „in denen multiple Bedeutungen in sozialer Interaktion emergieren.“[9] Ein Norm- oder Tabubruch ist demnach das Produkt eines „sozialen Aushandlungsprozesses“[10], das immer nur situative Geltung beanspruchen kann.

Einem konstruktionistischen Ansatz folgend ließe sich die Ursache für einen Skandal also weder als Norm- noch als Tabubruch bezeichnen: Ob im Text oder aufseiten des Autors eine „Verfehlung“ auszumachen ist, wäre für die Erklärung eines Skandals ganz unerheblich.

Und tatsächlich lösen ja nicht nur manche Texte Skandale aus und andere nicht – obwohl sie womöglich ganz ähnliche Themen behandeln –, Literaturskandale sind auch in hohem Maß vergänglich. Dass etwa Gustave Flauberts Madame Bovary oder Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal einmal Skandale ausgelöst haben, finden wir noch interessant und vielleicht ein wenig aufregend – die „breite öffentliche Empörung“ aber, die den Skandal ausgemacht hat, ist passé. Um die Gründe für solch heftige Reaktionen auf literarische Texte zu verstehen, reicht es also sicher nicht aus, sie zu lesen: Die Vorstellung, dass im Text selbst ein „Normbruch“ oder „Tabubruch“ identifiziert werden könnte, die einen Skandal vollständig erklärt, greift zu kurz.

Skandale sind vielmehr von Anfang an Kommunikationsphänomene: Sie beginnen nicht mit einem Normbruch, sondern mit einem öffentlichen Akt der Skandalisierung, mit dem ein literarischer Text, ein bestimmter Aspekt seines Inhalts oder Stils oder auch das Verhalten seines Autors als Normbruch definiert wird.

Das Tabu im Skandal um Michel Houellebecqs Elementarteilchen

Wie stellt sich das Verhältnis von Tabu und Skandal an einem konkreten Skandalbeispiel dar? Um festzustellen, ob womöglich ein Tabubruch im Text den Skandal um Michel Houellebecqs Elementarteilchen erklären kann, seien die zentralen formalen und inhaltlichen Merkmale des Romans hier kurz skizziert:

Die Handlung wird durch einen Prolog und einen Epilog gerahmt, die beide im pompösen Stil einer Jahrhundertchronik verfasst sind und vorgeben, die faktisch stattgefundene „troisième mutation métaphysique“[11] nachzuerzählen, die sich am Ende als Durchsetzung naturwissenschaftlicher Theoreme von Menschheitsoptimierung und Abschied vom westlichen Konzept individueller Freiheit herausstellt. Auch nach Einsetzen der Handlung wird der Text stilistisch konsequent als Sachtext präsentiert, die Darstellung der Personen dem Ziel einer Gesellschaftsanalyse untergeordnet. Dieser quasidokumentarische Anspruch wird im gesamten Text durch naturwissenschaftliche und soziologische Erläuterungen aufrechterhalten, beispielsweise indem das Verhalten der Figuren mit Beobachtungen aus der Tierwelt erläutert und illustriert wird.

Im Mittelpunkt der Handlung stehen Bruno und Michel, Halbbrüder mit verschiedenen Vätern, die jeweils bei den Großeltern aufgewachsen sind und in unterschiedlicher Weise prototypisch am absoluten Freiheitsdenken ihrer Generation leiden und scheitern. Ihre Mutter ist von den Leitprinzipien der Generation der 68er geprägt: absoluter Selbstverwirklichung, Feminismus und sexueller Befreiung. Etwa Brunos Beschreibung der Begegnungen mit seiner Mutter machen deutlich, dass seine eigene Erotomanie mit der sexualisierten Weltsicht der Mutter zusammenhängt. Sie regt ihn zu einem Aufenthalt auf dem auf dem Landgut Francesco Di Meolas an, einer Art Hippiekommune, wo er sexuell initiiert werden soll, ein Auftrag, den sie selbst bei dem dreizehnjährigen Sohn di Meolas ausgeführt hat. Bruno hegt ein inzestuöses Verlangen nach seiner Mutter – ein Nachholbedürfnis, das ebenso wie die völlig entgegengesetzte nahezu autistische Abkehr seines Bruders von menschlichen Kontakten auf die mütterliche Vernachlässigung zurückgeführt wird. Beide Brüder scheitern mit ihren Überlebensstrategien auf ganzer Linie. Brunos Ehe wird geschieden, weil seine Frau seinen sexuellen Wünschen nicht genügt, er keine Bindung zu seinem Sohn aufbauen kann und sich dann selbst in eine psychiatrische Klinik einweist, weil er sich vor einer seiner Schülerinnen onanierend präsentiert hat. Michel gibt seinen Posten als Leiter eines Forschungsinstituts für Molekularbiologie auf und schottet sich damit noch von seinen letzten Sozialkontakten ab. Beide haben noch einmal echte Liebesverhältnisse, beide Frauen werden körperlich krank und nehmen sich das Leben. Bruno vegetiert am Ende, von Medikamenten ruhiggestellt, in einer Psychiatrie und Michel lebt zurückgezogen in Irland.

Sucht man nach Tabubrüchen im Text, so ließen sich etwa die Inzestthematik, der Neid Brunos auf die sexuelle Potenz seines eigenen Sohnes, seine pädophilen Annäherungen an seine Schülerin und die naturalistischen Schilderungen von Körper und Krankheit fassen. Diese Tabus aber spielen im Skandal beinahe keine Rolle.

Der Beginn des Skandals ist nicht der Tabubruch des Textes, sondern seine Skandalisierung durch die Redaktionsmitglieder der Zeitschrift Perpendiculaire: Sie schlossen Houellebecq, Mitbegründer der Zeitschrift, aus ihrem Kollektiv aus und begründeten den Schritt mit seinen Aussagen über Stalin im Vorfeld der Veröffentlichung des Romans sowie einigen seiner Inhalte. In Le Monde wird einer der Redakteure, Christophe Duchatelet, wie folgt zitiert: 

On n’est plus dans la fiction, on est ailleurs. Quand on développe des thèses sur l’eugénisme, la disparation de la race, l’organisation politique du désir, des thèses proches de la sociobiologie, proches d’Alain de Benoist, de la revue Krisis (Houellebecq attaque aussi l’art contemporain), et que le Front national fait 15 %, quand on est un écrivain qui jouit d’une certaine audience, et qu’on laisse entendre que l’on pense ce qui est dit dans le livre qu’on vient de signer, on prend le risque de donner une portée politique à des thèses inacceptables.[12]

Dass hier Schlagworte wie „Rassismus“, „Totalitarismus“ und „Eugenik“ angesprochen werden, Houellebecq zudem vorgeworfen wird, in diesem Zusammenhang „inakzeptablen Thesen“ Gehör zu verschaffen, führt vor Augen, inwiefern der Tabubegriff für die Skandalanalyse dennoch sinnvoll sein kann. Offensichtlich bedienen sich Skandalisierer des Mittels der Tabuisierung, um einen bestimmten Aspekt des Textes zu verurteilen. Typisch für die Tabuisierung ist das Fehlen einer Begründung: Was tabu ist, verbietet sich schlichtweg von selbst. Duchatelet macht schon deutlich, dass es ihm nicht um literarische Aspekte des Textes geht, vielmehr sind es politische Einstellungen, die aus dem Roman extrahiert werden und die die linke Intellektuellengruppe von Perpendiculaire für unmoralisch hält.

Es lässt sich aber noch eine zweite Skandalisierung erkennen, die die literarischen Elemente des Romans betrifft. Diesen Aspekt demonstriert besonders der am 03.10.1998 erschienene Artikel von Frédéric Badré, der mehrere erzürnte Gegenreaktionen provoziert. Badré diagnostiziert – begeistert, ja euphorisch – „Une nouvelle tendance en littérature“, die er neben Houellebecq noch durch Marie Darrieussecq und Iegor Gran vertreten sieht. Die neue Autorengeneration stelle sich der Romanpraxis der vergangenen Jahrzehnte entgegen, die der Gattung zunehmend Kritik eingebracht habe: „trop narcissique, trop autarcique, trop introverti, sans nécéssité, tourné vers le passé etc.“[13] Als gemeinsame Merkmale der neuen Bewegung nennt er unter anderem ihren großen öffentlichen Erfolg, die Radikalität, mit der sie die gesellschaftliche Gegenwart realitätsgetreu und desillusionierend beschreiben, ihre Ablehnung jeglicher Ästhetisierung, die Behandlung sensibler Themen sowie die Entwicklung von Thesen und Gedanken. Badré schlägt für die innovative Bewegung eine eigene Bezeichnung vor: „La nouvelle tendance est postnaturaliste.“[14]

Interessanterweise greift man viel später – Houellebecq ist mittlerweile als wichtiger Autor der Gegenwartsliteratur längst akzeptiert – im wissenschaftlichen Diskurs auf Badrés Thesen zurück. Sabine van Wesemael identifiziert Houellebecq 2010 tatsächlich als Erneuerer, nämlich als einflussreichster französischer Repräsentant des „roman transgressif“, einer Bewegung, der sie zahlreiche amerikanische und französische Autoren zuordnet.[15] Sie begründet die Prägung eines solchen Begriffs mit einer Vielzahl inhaltlicher Parallelen und dem Bruch mit den Normen des postmodernen Romans, dessen Formalismus und Autoreflexivität zugunsten realistisch-moralischer Ansprüche abgelehnt werden, weshalb sie eine ganz ähnliche Bezeichnung wählt wie Badré: „postréalisme“[16]. Weiterhin nennt sie Beispiele für Bezugnahmen anderer Autoren auf Houellebecq, was seine Bedeutung für eine junge Autorengeneration anschaulich mache.

Nimmt man diese Funktion Houellebecqs als Vorreiter einer neuen Poetik ernst, so lassen sich die erbosten Antworten auf Badrés Artikel als Abwehrreaktionen der vorangegangenen Generation verstehen, deren Kunstverständnis zu veralten droht. Auch inhaltlich erinnern ihre Argumente deutlich an die Skandale des 19. Jahrhunderts um Flaubert, Baudelaire und Zola, in deren Rahmen man seiner Ablehnung gegen die heute kanonisierten realistischen Bewegungen auf emotionale Weise Luft verschaffte.

Wenige Tage nach Badrés Artikel erscheinen, ebenfalls in Le Monde, die von Ruth Cruickshank zu Recht als „ringmaster“[17] des Houellebecq-Skandals bezeichnet wird, gleich zwei kritische Antworten. Marc Petit vergleicht Badré in „‚Nouvelle tendance‘, vieux démons“[18] mit den Propagandisten rassistischer Kunst während des deutschen Nationalsozialismus, namentlich Joseph Goebbels und Hanns Johst, ehemals Präsident der ‚Reichsschrifttumskammer‘. Wie diese lehne Badré komplexe Ästhetik ab und spreche sich für einfache, massentaugliche Ausdrucksformen aus; der Pessimismus, mit dem die Menschheit als dem Untergang geweiht dargestellt werde, begründe auch bei Autoren wie Houellebecq die Notwendigkeit eines neuen Faschismus. Immer wieder auf die Unkultiviertheit der Autorengruppe verweisend, bezeichnet Petit sie als „nos jeunes Barbares“, Badré fungiert in seinen Augen als „leur prophète“. Petit verlässt hiermit wieder weitestgehend die spezifisch literarische Argumentationsebene, um die es Badré gegangen war. Er nimmt die politisch-ideologischen Implikationen der Texte zum Anlass, vor ihren gefährlichen Inhalten zu warnen. Wenn er das Programm eines „postnaturalisme“ kritisiert, so weil man Aristoteles – „Pauvre Aristote!“, ruft er aus – missverstehe, wenn man Kunst so weit abwerte, dass sie nur noch in der Lage sei „de reproduire les choses en pire“. Hinzu kommt bei Petit ein moralisches Argument, wenn er „la promotion de produits culturels ultraviolents“ für fragwürdig hält.

In derselben Zeitungsausgabe findet sich auch der zweite empörte Artikel: „Résister, encore et toujours“[19] von Philippe Di Folco. Die Stoßrichtung ist hier eine etwas andere: Di Folco führt den großen Erfolg Houellebecqs auf die gekonnten Marketingstrategien der Verlage sowie, was seine Romane betrifft, deren leichte Verständlichkeit und voyeuristische, populistische Inhalte zurück. Für eine wirklich literarische Innovation sei dies jedoch kein Anzeichen: „C’est n’est pas parce que certains auteurs réputés difficiles ne vendent pas plus de 1500 exemplaires qu’ils ne sont pas moins signifiants qu’un pseudo-‚tournant littéraire‘ de surcroît fabriqué.“ Wirklich neue Formen seien individuell, oft hermetisch und schwierig, erzielten wohl kaum Bestsellerstatus, sondern entwickelten sich an verborgenen „non-lieux“. Er nennt zahlreiche Autoren – von Kafka und Musil über Sarraute und Beckett, Salinger und Pynchon bis hin zu Perec –, die ähnlichen Probleme wie Houellebecq schon lange zuvor auf bahnbrechende Weise Ausdruck verliehen hätten. Bruno und Michel seien im Vergleich dazu mittelmäßige, selbstbezogene und unangebrachte Figuren.

Ein dritter, mehrere Monate später erschienener Beitrag, knüpft noch einmal kritisch an diese Debatte an. Die Überschrift des Artikels von Michel Guénaire, „Beauté cou coupé“[20], formuliert schon die Beschwerde: Houellebecq ermorde den „compagnon de tous les romans du monde, la beauté“. Guénaires rhetorische Fragen wiederholen exakt die Rhetorik des 19. Jahrhunderts: „Toute les misères du monde méritent-elles qu’on les écrive dans une observation obsédante?“ Der Verfasser formuliert eine normative Poetik, indem er an die Verantwortung des Autors appelliert, Schönes zu schaffen und seine Pflicht hervorhebt, Neuerungen nicht um ihrer selbst willen einzuführen, sondern zur Beflügelung der Fantasie einzusetzen. Guénaire findet es zwar legitim, dass es immer noch literarische „Kriege“ gebe – „Justement, la nouvelle guerre aura lieu et ne sera point guerre de préjugé mais guerre d‘esthétique.“

Diese Aussage widerspricht der häufigen Bewertung der „Affaire Houellebecq“[21], dass man sich mehr mit politischen Aussagen beschäftige oder den Autor befrage als den Roman selbst zu bewerten, ja teilweise überhaupt erst einmal zu lesen.[22] Bis heute liest man in Rückblicken häufig, es sei im Houellebecq-Skandal nur um Ideologien, nicht aber um literarische Normen gegangen. Tatsächlich aber – das zeigen die zitierten Rezeptionsbeispiele sehr deutlich – haben die Diskussionsteilnehmer schon früh begonnen, den Roman auch aus literarischer Perspektive zu bewerten. Die Argumente zielen sichtlich darauf ab, dessen Innovationen zu verurteilen: Erstens verweist man auf seinen Bruch mit der Tradition, indem kanonisierte Autoren und etablierte Formen als Kontrastfolien herangezogen werden. Zweitens werden Brüche mit literarischen Normen moniert, beispielweise aristotelischer oder idealistischer Herkunft. Drittens wird auf die vermeintliche (politische) Gefahr hingewiesen, die von einer bestimmte Autorengruppe ausgehe; und viertens wirft man dem Autor vor, mit seinem Roman eine Art Massengeschmack treffen zu wollen, wodurch die Innovation zur belanglosen Modeerscheinung degradiert werden soll. Alle diese Punkte, besonders aber die letzten beiden, können als rhetorische Strategien entlarvt werden, mit denen man den eigenen Widerwillen gegen Neuerungen und die Ablösung der eigenen ästhetischen Vorstellungen persuasiv zu vermitteln wünscht. Sie alle lassen sich bei genauerem Hinsehen als Symptome eines literarischen Konservatismus identifizieren.

Sowohl die Skandalisierung durch die Redaktionsmitglieder von Perpendiculaire als auch die „literarische“ Seite des Skandals zeigt deutlich, dass die ausschlaggebenden Gründe für den Skandal keinesfalls im Text selbst zu finden sind: Vielmehr lassen sich die breite Empörung auf Konflikte zwischen politischen Lagern oder konservativen und progressiven Literaturkritikern verstehen, die durch Ablehnung bestimmter Aspekte des Textes ihre Normen verteidigen, erstmals formulieren oder neu aushandeln. Der Tabubegriff kann bei der Skandalanalyse dennoch eine bedeutende Rolle spielen: indem man Tabuisierung als Kommunikationspraktik versteht, als „Maßnahme von Disziplinierung“ und „Instrument eines totalitären Machterhalts.“[23]

 

Anmerkungen

[1] Frank Bosch: Öffentliche Geheimnisse. Skandale, Politik und Medien in Deutschland und Grossbritannien 1880–1914. München 2009, S. 9.

[2] Karin Seibel: Zum Begriff des Tabus. Eine soziologische Perspektive. Frankfurt a. M. 1990, S. 247.

[3] Ebd., S. 49.

[4] Ebd.

[5] Claudia Benthien/Ortrud Gutjahr: Interkulturalität und Gender-Spezifik von Tabus. Zur Einleitung. In: Dies. (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender. Paderborn 2008. S. 7-16, hier S. 8.

[6] Ebd.

[7] Hartmut Schröder: Zur Kulturspezifik von Tabus. Tabus und Euphemismen in interkulturelle Kontaktsituationen. In: Claudia Benthien/Ortrud Gutjahr (Hgg.): Tabu. Interkulturalität und Gender. Paderborn 2008. S. 51-70, hier S. 51.

[8] Vgl. Michael Dellwing: Doing Scandal: Skandal als Performativität des radikalen Beziehungsbruchs. In: Andreas Gelz/Dietmar Hüser/Sabine Ruß-Sattar (Hgg.): Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression. Berlin, Boston 2014. S. 271–291, hier S. 273. Vgl. auch Robert M. Entman: Scandal and Silence. Media Responses to Presidential Misconduct. Cambridge 2012, S. 4f.

[9] Dellwing: Doing Scandal, S. 273.

[10] Ebd., S. 276.

[11] Michel Houellebecq: Les Particules élémentaires. Paris 2010, S. 8.

[12] Michel Houellebecq débarqué. In: Le Monde 11.09.1998.

[13] Frédéric Badré: Une nouvelle tendance en littérature. In: Le Monde 03.10.1998.

[14] Ebd.

[15] Sabine van Wesemael: Le roman transgessif contemporain: de Bret Easton Ellis à Michel Houellebecq. Paris 2010.

[16] Ebd., S. 30.

[17] Ruth Cruickshank: Fin de Millénaire French Fiction. The Aesthetics of Crisis. New York 2009, S. 116.

[18] Marc Petit: „Nouvelle tendance“, vieux démons. In: Le Monde, 10.10.1998.

[19] Philippe Di Folco : Résister, encore et toujours. In: Le Monde 10.10.1998.

[20] Michel Guénaire : Beauté cou coupé. In: Le Monde 04.02.1999.

[21] Den Ausdruck verwendet zuerst das Magazin L’Evénement du Jeudi in ihrer Ausgabe vom 17.–23.09.1998, in der sie einen redaktionellen Artikel, ein Interview mit Houellebecq und seinen Gegnern von Perpendiculaire sowie Pro- und Contra-Aussagen zusammenstellen.

[22] So etwa „Mais non, ils ne le lisent pas, ils le traversent, le passent au détecteurs de particules idéologiques.“ (Dominique Noguez: La Rage de ne pas lire (II). In: Dies.: Houellebecq, en fait. Paris 2003. S. 78-85, hier S. 82. Zuerst erschienen in Le Monde 29.10.1998.) Interessanterweise scheint er ihn selbst nicht genau gelesen zu haben. Die Aussage „Or le mot ‘eugénisme’ n’apparaît pas une fois dans le roman“, jedenfalls entspricht nicht der Wahrheit (Dominique Noguez: La Rage de ne pas lire (I). In: Dies.: Houellebecq, en fait. Paris 2003. S. 73f., hier S. 74. Zuerst erschienen in L’Événement du jeudi 17.09.1998).

[23] Seibel, Begriff des Tabus, S. 20.