„und was es sonst noch an Thomassen gibt“

Eine Randbemerkung zur Lektüre in Heinrich Bölls Roman „Fürsorgliche Belagerung“

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

In Fürsorgliche Belagerung, Heinrich Bölls letztem zu Lebzeiten erschienenen Roman, spielen Lektüren keine große Rolle, im Unterschied zu Gruppenbild mit Dame. Was Lene Gruyten liest: Trakl, Brecht, Kleist, erfährt der Leser genau – bis hin zu ihrem geradezu abenteuerlich-gefährlichen Versuch, sich 1944 Franz Kafkas In der Strafkolonie zu besorgen. Einen leidenschaftlichen, ja existenziellen Leser wie sie gibt es in Fürsorgliche Belagerung nicht. Auch die Hauptfigur, der Zeitungsverleger Fritz Tolm, ist bei aller kunsthistorischen Bildung keiner. Umso auffälliger ist eine kleine Szene, in der die Rede auch auf Literatur kommt, allerdings durch keinen der Reichen und Gebildeten, die der Roman darstellt.

Von Rolf Tolm, dem Sohn des Verlegers, der sich nach Verbüßung einer Freiheitsstrafe wegen Brandstiftung aufs Land zurückgezogen hat, wird erwähnt, dass er gelegentlich im Dorf Hubreichen den ‚alten Bewerloh‘, den Vater seines früheren Freundes Heinrich, besucht habe. Der Alte, „der ihn mißtrauisch einließ, nicht einmal murmelte, stumm mit ihm in das Dachgeschoß stieg“, zeigte ihm „Heinrichs Schlaf- und Studierzimmer“. „Sie hatten es das Kabuff genannt, neun Quadratmeter mit schrägen Wänden und zwei Dachluken“. In diesem kleinbürgerlichen Kinderzimmer scheint alles noch an seinem Platz zu sein, so als hätte der Sohn es gerade erst verlassen:

Lineale, Mäppchen, Schreibmaterial ordentlich auf dem Klappschreibtisch, der ans Fußende des Bettes angeschraubt war; da lag noch der Löscher und im durchsichtigen Bleistiftspitzgerät sah man noch die flockigen Holzreste; eine angebrochene Zigarettenschachtel, eine Kippe im Aschenbecher, an der Wand das eingerahmte Doktordiplom, ein Kruzifix, die Raffaelmadonna: gruseliges Reliquiarium, in dem auch die Oberleutnantsachselstücke nicht fehlten. (FB, 238)

Die Besichtigung gilt dem Kinderzimmer eines Terroristen. Heinrich Bewerloh, promovierter Wirtschaftswissenschaftler, ist untergetaucht und hat sich mit Rolfs Ex-Frau Veronika und deren und Rolfs Sohn Holger ins Ausland abgesetzt. Holger wird am Ende zu seiner Familie zurückgeschickt und setzt in einem unbeobachteten Moment das Schloss der Tolms in Brand. Heinrich Bewerloh stirbt, von der Polizei in Istanbul aufgestöbert, als eine Art Selbstmordattentäter.

Sein Vater, „der vertrocknete, saure alte Mann“, beginnt die Führung mit einem Hinweis auf die Bibliothek seines Sohnes:

Der Alte zeigte höhnisch auf die Bücher, die noch da standen: Thomas Morus und Thomas Aquinas und Thomas Mann, „und was es sonst noch an Thomassen gibt.“ (FB, 237-238)

Die Bemerkung des alten Bewerloh scheint einigermaßen rätselhaft. Man muss sich fragen, was diese „Thomasse“ miteinander verbindet: den englischen Autor der ersten Utopie, den italienischen Scholastiker und den deutschen Romancier des 20. Jahrhunderts. Das mag eine zweite Frage aufwerfen: Was für Thomasse gibt es denn sonst noch? Der von Jochen Schubert besorgte Kommentar der Kölner Ausgabe hat dazu einen Hinweis: „Neben anderen: Thomas von Kempen (1379/80-1471), Augustinermönch und Schriftsteller. Verfasser der De Imitatio Christi.“ (KA 21, 574)

In der Tat: Das Wort des alten Bewerloh verführt dazu, die schon für sich merkwürdige Reihe fortzusetzen, in der Hoffnung, mehr über die Thomasse zu erfahren. Man könnte etwa an Thomas Wolfe denken, dem Böll einen begeisterten Essay gewidmet hat. Oder an Thomas Merton und Thomas Müntzer, die ihm ebenfalls bekannt waren. Allerdings würde damit die Reihe nur noch bunter werden. Was es mit den Thomassen auf sich hat, zumindest im Verständnis des alten Bewerloh, würde damit aber nicht klarer. Denn ihm dürften alle diese Namen nichts sagen – oder eben nur der Vorname.

Der alte Bewerloh mag ihn vor allem aus der Kirche kennen: als Namen des Apostels. In allen Evangelien wird er erwähnt; berühmt geworden in der christlichen Überlieferung aber ist, was im Johannes-Evangelium über ihn steht (20,19–29): Er zweifelte bei der Auferstehung Jesu, bis er die Wunden selbst gesehen und berührt hatte. In der Volksfrömmigkeit bezeichnet sein Name deshalb vor allem einen Zweifelnden: den ‚ungläubigen Thomas‘. Ungläubige, Zweifler sind für den alten Bewerloh offenbar alle Autoren – und vermutlich deswegen auch zweifelhafte Leute. Sein Wort von den „Thomassen“ drückt selbst Zweifel aus – an literarischer Bildung.

Böll hat diese Haltung des Öfteren beschrieben. Sie war für ihn Ausdruck eines gesellschaftlichen Problems, das er schon 1964 in seinen Frankfurter Vorlesungen als „Bildungsverletztheit“ (ESuR 2, 36) bezeichnet hat. Bildung verletzt, weil sie „nicht Sozietät schafft“ (ebd., 49): Sie schließt die Ungebildeten aus. Böll hat das konkret geschildert:

Es gab und gibt immer noch Eltern, die sich weigern, ihre Kinder auf eine höhere Schule zu schicken, auch wenn ihnen deren Begabung und Intelligenz amtlich bescheinigt wird, sie weigern sich nicht, weil sie das finanzielle Opfer und die Anstrengung fürchten, sondern weil sie die schmerzliche Trennung fürchten, die in dem Augenblick fällig werden könnte, wenn ihr Kind den Status des Akademikers erreicht hat. In einem solchen Verhalten spricht sich bittere Erfahrung, spricht sich auch die Anmaßung der gebildeten Stände aus. (ebd., 47)

Der alte Bewerloh, ehemaliger Postbote „im Status eines Arbeiters“ (FB, 229), ist offensichtlich ein Bildungsverletzter, der meint, seinen Sohn durch Schule und Studium verloren zu haben. Noch mehr scheint er aber zu argwöhnen, dass die Bildung aus seinem Sohn vor allem einen Zweifler gemacht hat, der sich dann von der Familie abgewandt und sich gegen Gesellschaft gewandt hat: eben einen ungläubigen Thomas.

Heinrich Böll hat die Bildungsverletztheit verstanden, nicht nur weil man ihn, wie es in den Frankfurter Vorlesungen heißt, „mit einiger Herablassung oft einen Autor der kleinen Leute genannt“ hat (ebd., 39), die sie empfinden. Die Bildungsverachtung hat er dennoch abgelehnt, schon weil er sie für politisch gefährlich hielt.

Die Deutschen sind ein bildungsverletztes Volk, diese Verletztheit schafft die günstigsten Voraussetzungen für Demagogie, sie schafft Bildungsstände, Reserven, Gereiztheiten. Es braucht sich nur einer die Bildungsriten führender Nationalsozialisten anzusehen: Gescheiterte, Verletzte. (ESuR 2, 47)

Heinrich Böll hätte gleichwohl dem alten Bewerloh in einem Punkt vermutlich zugestimmt – allerdings nur vorderhand. „Lesen macht rebellisch“, hat er, in seinem Essay-Band Vermintes Gelände, 1982, drei Jahre nach Fürsorgliche Belagerung erschienen, das Vorwort für sein Lesebuch neu überschrieben. Es ist der Kernsatz seiner Poetik des Lesens, den er verschiedentlich variiert hat. Im selben Jahr, in dem Fürsorgliche Belagerung erschien, 1979, hat er eine Rede zur Eröffnung der Kölner Zentralbibliothek gehalten. Ihr Titel lautet: „Lesende Staatsbürger sind nicht die gehorsamsten“. Böll hat hinzugefügt: „schreibende schon gar nicht“ (KA 21, 315). Für ihn ist, im Unterschied zum alten Bewerloh, solcher Ungehorsam eine Tugend: unverzichtbar für eine Demokratie.

Der Leser, den Böll schätzte, ist ein Wesen, das sich nicht gängeln lässt. Ihn, so heißt es schon in den Frankfurter Vorlesungen, zeichnet aus, „dass er „nichts lassen kann“ (ESuR 2, 43): Er lässt sich nichts verbieten, und er lässt sich nichts entgehen, was gedruckt ist. Er will verstehen, er will erkennen, er will wissen. Denn „der höchste Stand der Bildung“, den ein Autor und ein Leser erreichen können, ist für Heinrich Böll: „sich ein Bild machen können“ (ebd., 49). Der Leser hat damit Teil an der Freiheit, von der Böll in seiner Dritten Wuppertaler Rede gesagt hat, dass die Kunst ihre „einzig erkennbare Erscheinungsform […] auf dieser Erde“ (ESuR 2, 228) sei.

Auch der Leser ist ein Thomas: einer, der vielleicht nicht ungläubig, auf keinen Fall aber leichtgläubig ist, der es genau nimmt, der sehen muss, wovon andere erzählen, der frei ist, zu bezweifeln und zu glauben, was er hört und liest. Und aus dieser Einstellung heraus schreibt er auch, wenn er ein Schriftsteller ist.

Literatur:

Heinrich Böll (1979a): Werke. Hg. von Bernd Balzer. Köln o.J. Essayistische Schriften und Reden. 3 Bände. 2. Bd. (ESuR 2).

Heinrich Böll (1979b): Fürsorgliche Belagerung. Köln (FB).

Heinrich Böll (1982): Vermintes Gelände. Essayistische Schriften 1977-1981. Köln.

Heinrich Böll (2006): Werke. Kölner Ausgabe. Hgg. von Árpad Bernáth u.a. Bd. 21: 1979-1981. Hg. von Jochen Schubert. Köln (KA 21).

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dieter Lampings Kolumne Randbemerkungen eines Lesers.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz