Verlust und Erinnerung

In „Die Reise nach Ordesa“ wirft Manuel Vilas einen melancholischen Blick auf das Leben und Sterben im Spanien der Gegenwart

Von Steffen KrautzigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Steffen Krautzig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem ersten Roman Die Reise nach Ordesa hat der 1962 geborene Autor und Lyriker Manuel Vilas den Nerv vieler spanischer Leserinnen und Leser getroffen. Das Buch, in dem ein Ich-Erzähler vom Tod der Eltern und von der Suche nach verloren geglaubten Erinnerungen berichtet, wurde nach dem Erscheinen 2018 schnell zu einem Bestseller in seinem Heimatland. Von der Ehefrau verlassen, den Job als Lehrer gekündigt, Umzug in eine neue Wohnung – die alltäglichen Details der Geschichte deuten auf eine ausgewachsene Midlife-Crisis. Doch der Erzähler bringt seine private Situation mit den großen gesellschaftlichen Umbrüchen der letzten 30 Jahre in Verbindung, vor allem mit dem Niedergang der spanischen Mittelschicht bis hin zum Platzen der Immobilien-Blase in den 2000er Jahren. Die in einfachen aber intensiven Bildern beschriebenen, universellen Verlusterfahrungen können nun auch deutschsprachige Leserinnen und Leser in der lesenswerten Übersetzung von Astrid Roth nachempfinden.

Ich dachte, dass mein Seelenzustand eine vage Erinnerung an etwas sei, das sich an einem Ort im Norden Spaniens ereignet hatte. In Ordesa, einem Ort inmitten der Berge, und die Erinnerung daran war gelb. Die Farbe Gelb besetzte den Namen Ordesa, und hinter Ordesa zeichnete sich die Figur meines Vaters im Sommer 1969 ab.

In 157 kurzen, manchmal nur eine halbe Seite langen Kapiteln begibt sich der Erzähler auf die Spur einzelner, bruchstückhafter Erinnerungen an Kindheit und Jugend. Im Mittelpunkt steht dabei neben anderen Familienangehörigen meist sein vor kurzem verstorbener Vater, ein Handelsvertreter für Textilien mit kleinem Einkommen: „Mein Vater machte für Spanien, was er konnte: Er fand Arbeit, arbeitete, gründete eine Familie und starb.“ Aus unscheinbaren Ereignissen wie einem Einkauf im Supermarkt, einer Autopanne oder dem Bad in einer zu kleinen Wanne zieht Vilas lakonische Schlüsse. In nahezu jedem Kapitel finden sich Aphorismen wie:

In der Hypochondrie liegt Schönheit, weil jeder Mensch, sobald er die Hälfte seines Lebens hinter sich hat, seine Zeit damit verbringt […], darüber nachzudenken, welche Art von Krankheit ihn aus dem Leben reißen wird.

Dass die vielen Kapitel dabei keiner strengen Chronologie folgen und nur lose miteinander verbunden sind, passt zum Inhalt. Statt eine kontinuierliche Handlung zu entwickeln, verarbeitet Vilas, bzw. der Erzähler die tiefgehenden Erfahrungen des Abstiegs bis hin zum Tod mittels des Schreibens selbst. Er bedauert, nicht häufiger mit seinem Vater gesprochen zu haben: „Indem er mir nicht sagte, wer er war, hat mein Vater mich zu diesem Buch angestiftet.“ Einander ähnelnde Gedanken über die Vergänglichkeit, die Sinnlosigkeit des Lebens werden immer wieder eingekreist, auch schwarze Flecken in der Erinnerung angegangen – Schreiben als eine aktive Form der Vergangenheitsbewältigung.

Wie die Schriftsteller W. G. Sebald oder Teju Cole nutzt Vilas in den Text gestreute, auf den ersten Blick belanglose, ungestellte Fotografien, um Erinnerungen auf die Spur zu kommen. Diese Schnappschüsse (ein Mann an einer Bar, ein Kind an der Hand eines Erwachsenen, ein tanzendes Paar usw.) kitzeln nicht nur Vergessenes aus dem Gedächtnis, sondern inspirieren den Erzähler ebenfalls zu einer Rekonstruktion der Vergangenheit. Er behängt die Wände seiner neuen Wohnung, die er nach der Trennung von seiner Frau bezieht, mit zahlreichen dieser alten Fotografien in billigen Rahmen. Und ähnlich wie Roland Barthes in seinen Mythen des Alltags deutet Vilas konkrete Alltagsgegenstände wie den Kleinwagen Seat 600 oder eine bestimmte Spülmaschine als Zeichen und Verweise, die bei spanischen Leserinnen und Lesern sicherlich die gleichen nostalgischen Erinnerungen auslösen. Mit Blick auf das Auto spricht Vilas sogar von einer „mystischen Verbindung der spanischen unteren Mittelschicht“ zu diesem Verkehrsmittel.

Zu den besonderen Stilmitteln in Die Reise nach Ordesa gehört die immer wieder ausführlich angesprochene Farbsymbolik: „Gelb ist ein visueller Zustand der Seele. Gelb ist die Farbe, die von der Vergangenheit erzählt…“ Auch wenn die Farbe Gelb im Zentrum des Buches steht – Schutzumschlag und Lesebändchen sind passenderweise ebenfalls gelb gehalten – treten auch die anderen beiden Grundfarben an wichtigen Textstellen hervor (rotes Badehandtuch, blau gestrichenes Kopfende eines Bettes). Ob den Farben aber die gleichen Charaktereigenschaften oder Töne wie in den 1920er Jahren an der Kunstschule Bauhaus gegeben werden können, soll an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden. Allerdings spielt auch die klassische Musik eine bedeutende Rolle in dem Buch: Kapitel um Kapitel gibt der Erzähler allen anderen Personen Namen von berühmten Komponisten: seinen Vater nennt er Bach, seine Mutter Wagner, einen Onkel Händel und seine Söhne Brahms und Vivaldi. Auch diese Assoziationen liefern ausreichend Stoff für weitere Interpretationen: Welche Musik passt zu welchem Charakter? Spätestens an dieser Stelle wird zudem eine Distanz zwischen dem Autor Manuel Vilas und dem Ich-Erzähler deutlich: Aus anscheinend realen Ereignissen hat Vilas, der u.a. wie der Erzähler lange als Lehrer arbeitete, einen leicht lesbaren aber dennoch kunstvollen, lyrischen Text voller origineller Anspielungen geschaffen.

Trost findet sich für den Erzähler auch nicht in der Katholischen Kirche, denn wie seine Eltern glaubt er nicht an Gott: „Uns ist egal, ob Gott existiert oder ob er nicht existiert.“ Und doch ist er überzeugt vom Übersinnlichen, sieht die Verstorbenen als Geister, die durch subtile Zeichen Kontakt zu ihm aufnehmen. Neben dem Schreiben als Erinnerungsarbeit ist es die offene Gesellschaftskritik aus der Perspektive der unteren Schichten und aus der Provinz, die dem Erzähler etwas Halt gibt, auch wenn er resigniert: „Die menschliche Gier ist unbeschreiblich. Seit Jahrhunderten beschreiben wir die Gier, und wir fassen sie nie.“ Als Epilog sind unter dem Titel Die Familie und die Geschichte wie als Verdichtung der einzelnen Themen 11 Gedichte in freiem Vers abgedruckt, die in wenigen Worten die melancholische Stimmung des ganzen Buches zusammenfassen. Einige der starken Bilder, seien sie auch noch so trostlos, wirken dabei noch lange nach.

Titelbild

Manuel Vilas: Die Reise nach Ordesa.
Aus dem Spanischen von Astrid Roth.
Berlin Verlag, Berlin 2020.
400 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783827014023

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