Klimakterische Klage mit Kalendersprüchen

In „Eine halbe Ewigkeit“ erzählt Ildikó von Kürthy, wie sich die Heldin ihres Debütromans entwickelt hat

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1999 erschien Ildikó von Kürthys Mondscheintarif. Dem Bestseller ließ die Autorin eine Reihe weiterer Romane folgen – oft zu launigen Herz-Schmerz-Themen (so etwa Höhenrausch, 2007) und mit der schönen Ausnahme Hilde (2018), die Geschichte eines Hundes. Ein geschickter Coup ist es, 25 Jahre nach dem bislang größten Erfolg nicht nur die Protagonistin und Ich-Erzählerin in Eine halbe Ewigkeit wieder auftreten zu lassen, sondern zeitgleich eine Neuauflage des Debüts auf den Markt zu bringen.

Der mit Fotos von Jens Boldt angereicherte Bestseller um Cora Hübsch, ihres Zeichens Fotografin, endet in der Phase des „Innamorato“, des ersten stürmischen Verliebtseins, und in der hoffnungsfreudigen Atmosphäre eines „vorläufigen Endes“. Wie ist es mit Coras Beziehung zu Dr. med. Daniel Hofmann, Objekt ihrer Begierde, weitergegangen?

Cora ist seit langer Zeit verheiratet mit dem Optiker Christian, alias Dito, hat drei Kinder, Emma, 21, Henry, 19, und den 16-jährigen John, der gerade zu einem Auslandsjahr nach London aufgebrochen ist. Kein Wunder, dass Cora am Empty Nest-Syndrom leidet und zudem an einer Ehe, die mehr als nur in die Jahre gekommen ist. In dieser Stimmung wird sogar das Entsorgen von altem Gerümpel zur Herausforderung – so sehr, dass Cora an der Altpapiertonne einen halben Nervenzusammenbruch erleidet. Wie gut, dass Wanda, eine leidlich berühmte Schauspielerin, die Cora bekannt ist, mit der Dogge Dagmar vorbeikommt und sie aus dem Schlamassel errettet. Wanda steht kurz vor der Trauung mit Ruth. Da der Fotograf gerade abgesagt hat, übernimmt Cora und fährt am nächsten Tag mit der gesamten Hochzeitsgesellschaft an die Ostsee. Dort besitzt Wanda einen Gutshof mit Ferienwohnungen und just in einer davon hat sich Daniel Hofmann eingemietet. Cora und er, wie könnte es anders sein, treffen aufeinander und verbringen eine stürmische Nacht zusammen. Danach fragt Daniel, ob Cora ihm folgen wolle – entweder nach Uelzen, wo ihm eine Praxis angeboten worden sei, oder nach Lima, wo er in einem Krankenhaus tätig werden könne. Verheiratet sei er nie gewesen, Kinder habe er keine, und mit Ende 50 wolle er endlich sesshaft werden.

Hin- und hergerissen zwischen ihrem bisherigen Leben und der sich auftuenden Perspektive, setzt sich Cora intensiv mit dem auseinander, was kurz vor und nach der Trennung von Daniel geschehen ist, mit all dem nämlich, was in Mondscheintarif nicht mehr erzählt worden sei. Als sie ihren Auftrag als Fotografin nach der Trauung erfüllt hat, fährt sie nach Hause. Einige Monate später kehrt sie mit Dito an die Ostsee zurück, um auf Wandas Hof mit ihm und den Bekannten von der Hochzeitsfeier ins neue Jahr zu starten.

So wie Mondscheintarif beruht Eine halbe Ewigkeit auf der Fiktion eines akribisch gegliederten und im Präteritum verfassten Tagebuchs. Abgesehen von der Sprungraffung hin zur Silvesterparty konzentriert sich dieses auf nur vier Tage, für deren Verlaufsstruktur Uhrzeiten eingefügt sind. In den einzelnen Sequenzen werden zwar manche Gespräche zeitdeckend wiedergegeben, es dominieren jedoch Raffungen mit vielerlei Rückwendungen. Ein tagebuchtypischer Bewusstseinsstrom hat darin keine Chance, weil die Protagonistin immer im Nachhinein auf die Ereignisse schaut und sie mit einem gewissen Abstand reflektiert. Die Spannung zwischen erlebendem und erzählendem Ich manifestiert und löst sich gleichermaßen in Kommentaren, die auf einem Spektrum von ernsthaft bis ironisierend bzw. nah am gespiegelten Erlebten bis distanzbildend zu ihm angesiedelt sind. Dabei zeigt von Kürthys Ich-Erzählerin kaum eine Neigung zu psychologischer Analyse. Vielmehr gefällt sie sich darin, Lebensweisheiten unterschiedlichster Güte einzusetzen – alles ist dabei, von komplex-differenzierend, nahezu philosophierend, bis hin zu simpel-homogenisierend und stereotypisierend. 

Ich habe über die Jahre viele feine Einsichten in Worte gefasst, wie Edelsteine in Gold. Gesammelte Erkenntnisse, perfekte Sätze konserviert und präpariert. Schmetterlinge in einem gläsernen Schaukasten. Genadelte Weisheiten, versehen mit einem Fundortetikett. Schön, tot, aufgespießt. Sie werden niemals fliegen.

Wenn Cora über die Unzulänglichkeit des Verbalen schreibt, scheint es, als ob sie Kritik an ihrer Schöpferin übe: alle „feinen Einsichten“ und „perfekten Sätze“ sind leer und abgenutzt, implizieren weder Aktivitäten noch Experimente, auch nicht mit Wörtern. In prononcierter Passung dazu werden thematisch und sprachlich die eventuellen Auswirkungen des Klimakteriums vor und zurück ausbuchstabiert – „ich brenne nicht mehr, ich schwitze nur noch“. Sie sei ein „frustriertes Östrogenmangelwesen“, so Cora, und während der Wechseljahr mutierten „Frauen“ (warum nicht Weiber, um korrekt aus Schillers „Glocke“ zu zitieren) „zu Hyänen“ und nähmen „keine falsche Rücksicht mehr auf Männer, die noch nie Rücksicht genommen“ hätten; es werde „gnadenlos abgerechnet“. „Die Kunst ist herauszufinden, ob du eine Hormonersatzbehandlung brauchst oder eine Scheidung“ – so resümiert Erdal, ein Freund der beiden Bräute, der dem Bild des frauenverstehenden homosexuellen Mannes entspricht.

Besonders unschön ist es, wenn von Kürthy der grassierenden Mode des generischen Du huldigt – „Du freust dich als leidlich junger Mensch nicht jeden Abend darüber, dass du gut einschläfst“ oder „Ein Tagebuch ist wie ein Zimmer. […] Du bist darin allein mit einem Spiegel und schaust auf den Grund deiner Seele“. Ohne das Duzen hätte die Beschreibung des Tagebuchs richtig gut werden können. Schade, dass niemand hier korrigierend eingegriffen hat.

Doch es wabern keineswegs nur abgeschmackte und schale Phrasen durch den Text. Ab und an flackern echte Weisheiten auf, perspektivische Originalitätsfunken, mit denen sich die Romanfiguren von ihren Lamenti distanzieren, so z. B. in einem Gespräch, das Cora mit Gloria, Ruths Schwester, führt. Nach den typischen Tiraden über den mütterlichen Funktionalitätsverlust erkennen die beiden Frauen, dass ihre Kinder ideologisch ganz anders orientiert sind als sie selbst. Glorias Hoffnung, dass August, ihr „Strebersohn“, das Herz eines „ätherischen Wesens mit Interesse an Liebesromanen, Magic Mushrooms und Psychologie“ gewönne, die mit ihr „Handlettering-Kurse am Wochenende“ besuchte, hat sich mit der rationalen Emma, Coras Tochter, die angeblich mit der FDP sympathisiert, nicht erfüllt. Selbstredend ist auch das Motiv Hippie-Eltern mit Mainstream-Kindern klischeebehaftet, so wie daneben die vielfältige Metaphorik rund um die Ehe – „Altbau mit Reparaturstau in gehobener Wohnlage“ oder wie der „dreiundzwanzig Jahre alt, silbergraue Passat Kombi“, um den sie, so Cora, niemand beneide, der aber „zuverlässig“ sei und „wahrscheinlich ewig“ halte. Auf den ersten Blick sind solche Motive und/oder Bilder katachrestisch, schräg und unpassend, auf den zweiten punkten sie tendenziell mit Denkanstößen und Sprachwitz.

Ebenso schwingt im Text oft ein gerütteltes Maß an Selbstironie mit, eine Ironie, die Probleme der Protagonist:innen und die oft kolportierten Alltagsweisheiten abmildert, ohne das eine oder das andere verschwinden zu lassen, eine Ironie, die ihre Janusköpfigkeit ausspielt, aber auch Gefahr läuft, manchmal unentdeckt zu bleiben.

Mit dem Design der Hochzeitsgesellschaft geht ein humorvolles Plädoyer für Vielfalt einher. Sie besteht aus einem „bunten Haufen“, einer „verrückten Mischpoke“ aus „unterschiedlich Liebenden“. Da sind allen voran die beiden Bräute, Wanda und Ruth, oder – unter einigen anderen – der Trauzeuge Erdal und seine Mutter Renate, die sich, mit über 80 und an Krebs erkrankt, an der Ostsee neu verlieben wird. Nicht zu vergessen ist Dagmar, die Dogge, die ganz anders ist, als ihre massige Gestalt insinuiert: sie meidet jede Auseinandersetzung, ist empathisch und möchte traurige Menschen mit ihrem Jaulen trösten.

Ildikó von Kürthys Plot beruht auf einer Reihe von Zufallskonstruktionen, die leicht zu durchschauen sind: Cora ist kurz davor, ihr altes Tagebuch, „Mondscheintarif“, zu entsorgen, rettet es aber gerade noch so aus dem Container, Wanda und Cora kennen sich, die Hochzeitsgesellschaft benötigt eine:n Fotografin:en. Cora kann leichterhand an die Ostsee mitfahren, weil sie gerade allein zuhause ist, denn ihr Mann hat den Sohn nach London begleitet. Daniel macht ausgerechnet auf Wandas Hof Urlaub und Coras Tochter Emma hat einen Freund, der, wie sich kurz vor der Hochzeit herausstellt, der Neffe der Braut Ruth ist.

Die einzelnen Glieder dieser Zufallskette motivieren die Protagonistin zur Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die auch über das Verliebtsein hinausreicht. Sie stellt sich den Erinnerungen, vor denen sie „auf der Flucht“ war. Diese erfüllen den Text mit einer tragischen Dimension, die Stoff für einen anderen Roman hätte bereitstellen können.

Neben den „Was-wäre-wenn-Überlegungen“ zu einer eventuellen Zukunft mit Daniel fügt Cora ihrem Tagebuch und damit Ildikó von Kürthy ihrem Roman Mondscheintarif in Eine halbe Ewigkeit einen Schluss hinzu, der von dem „vorläufigen Ende“ wegführt und um Coras Freundin Johanna zentriert ist. Bevor die Geschehnisse um sie, die in Mondscheintarif eine wesentliche Rolle gespielt hat, enthüllt werden, steigern Anspielungen auf sie das Lese-Interesse.

Unabhängig davon stellt sich jedoch die Frage, warum Ildiko von Kürthy auf ihren Erstling rekurriert hat. Letztendlich kombiniert und kompiliert sie in der Fortsetzung den Stoff für zwei neue und autonome Romane. Warum war es außerdem nötig, Mondscheintarif das offene Ende wegzunehmen? Glücklicherweise bleiben Cora und Daniel nach dem Wiedersehen nicht zusammen. Sonst wäre die Parodie auf Arztschnulzen aus Groschenromanen und TV-Serien, als die Mondscheintarif durchaus gelesen werden kann, völlig zunichte gemacht worden.

Im Unterschied zu vielen anderen Autorinnen, die in den 1990er Jahren wegen ihrer schwungvollen Frauenromane „gehypt“ waren, so etwa Hera Lindt, Gaby Hauptmann oder Eva Völler, ist sich Ildikó von Kürthy selbst treu geblieben. Sie bedient den Geschmack einer vorwiegend weiblichen Ü-50-Fangemeinde, deren Mitglieder all das aus eigener Erfahrung kennen, was in Mondscheintarif aufgefahren wird: den „Hustinettenbär“ und das „HB-Männchen“ als Kindheitserinnerungen aus der Fernsehwerbung genauso wie das mittlerweile antiquierte Technik-Arsenal der 1990er – unter anderem CDs, Festnetz und Anrufbeantworter.

Zu Eine halbe Ewigkeit dürften die Meinungen geteilt sein, genauso wie zu dem zweiten Vorwort zum (neu erschienenen) Mondscheintarif, in dem die Autorin sich fragt, ob „die Bewältigung des Alltags und die stete Verteidigung der Liebe und des Lebens gegen die Routine“ nicht „das eigentliche Abenteuer“ sei. Exakt diese Thematik hätte in Eine halbe Ewigkeit ausgeweitet, differenziert und vertieft werden können. Immerhin: Mit dem Diktum „Gewohnheit wird, was Liebe war“ zitiert Kürthy Tucholsky, sich beziehnd auf zwei abstrakte Entitäten, von denen die eine im Vergleich zur anderen weniger wert zu sein scheint. Aber wäre eine Union möglich? Eine Liebe zur Gewohnheit mit einer zumindest für Mikro-Abenteuer offenen Perspektive?

Titelbild

Ildiko von Kürthy: Eine halbe Ewigkeit.
Roman.
Wunderlich Verlag, Reinbek 2023.
320 Seiten , 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783805201018

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch