Die Gegenwart eines Lebensgrenzgängers
Was bleibt im Alter von Kunst und Literatur, dem eigenen Werk und Wirken? Albert von Schirndings späte Notate unter dem Titel „Alter Mann, was nun?“
Von Oliver Pfohlmann
Fangen wir mit einem Gleichnis an. Wer wissen will, was die Zeit oder besser gesagt: die Lebenszeit ist, dem empfiehlt Albert von Schirnding, sich zwei Schalen vorzustellen. Die eine sei voll und höher gelegen und heiße Zukunft. Die andere sei leer, tiefer platziert und trage den Namen Vergangenheit.
Beständig tröpfle nun der Inhalt der einen Schale in die andere, mit einem Übergang dazwischen, der ebenso unsichtbar wie unmessbar sei. „Du hast trotzdem einen Namen für ihn: Gegenwart. / Es muss einen einzigen Augenblick in deinem Leben gegeben haben: Da waren beide Schalen gleich voll. Das war die Mitte deiner Lebenszeit, der Punkt, in dem die goldene Waage in gleichen Schalen stille stand.“
Bewusst erleben lässt sich dieser mystische Moment nicht, schließlich weiß niemand von uns, wann sich seine Schalen im Gleichgewicht befinden. Aber eins ist klar: Albert von Schirnding ist mit 89 Jahren über ihn schon weit hinaus. Doch wie lebt es sich als „Lebensgrenzgänger“, wenn man nur noch wenig Zukunft vor sich hat und viel Vergangenheit hinter sich? Alter Mann, was nun?, so heißt das neue Buch des Lyrikers und Elder Statesman der deutschen Literaturkritik. In Schirndings umfangreichem Werk finden sich Kritiken für die „Süddeutsche“, Essays über Richard Wagner oder Thomas Mann, Übertragungen der Liebeslyrik Sapphos und nicht zuletzt Lyrik- und Erzählbände. Dieser Vorliebe fürs Kurze, Verdichtete bleibt der Autor, der standesgemäß auf Schloss Harmating in Oberbayern wohnt, auch in seinem neuen Buch treu.
Alter Mann, was nun? ist eine beeindruckende Sammlung von etwa 90 essayistischen Miniaturen. Neben gleichnisartiger Kurzprosa und Träumen finden sich darunter auch Reflexionen, etwa über die nie gelebte Homosexualität Thomas Manns oder die Vergänglichkeit von Ruhm. Und Erinnerungen, etwa an die Jahre des gebürtigen Regensburgers als Sekretär bei Ernst Jünger oder als Münchner Gymnasiallehrer junger Möchtegern-Genies (darunter immerhin der Schriftsteller Rainald Goetz).
Wie der Autor in seinem Vorwort berichtet, sind die Aufzeichnungen in der Coronazeit nach Schirndings allmorgendlichen Waldspaziergängen entstanden. Das allein ist schon alles andere als selbstverständlich, selbst für einen Homme de lettres wie Schirnding. Denn in dieser Lebensphase ist eben gar nichts mehr selbstverständlich, wenn selbst geliebte Tätigkeiten wie Schwimmen oder Autofahren aufgegeben werden müssen. Und weil der Kreis der Möglichkeiten und Interessen im Alter schrumpfe, werde die Versuchung immer größer, es einfach sein zu lassen, einfach morgens liegen zu bleiben, so Schirnding. Wie viel bedeuten einem in dieser Lebensphase noch Kunst und Literatur?
Mit neuen Werken beschäftigt sich Schirnding – als Kritiker einst gerühmt für seine unstillbare Neugierde – nur noch ausnahmsweise. Doch was, wenn auch die großen Werke der Vergangenheit plötzlich ihre Anziehungskraft verlieren? „[…] mit Schrecken habe ich eines – späten! – Tages erkannt, dass ich von Wagner keine weiteren Offenbarungen erwarten kann, der ‚Malte Laurids Brigge‘ mir nichts Neues mehr sagen wird. Es ist, wie wenn in einer zunächst bis oben mit Süßigkeiten gefüllten Dose der Boden sichtbar wird.“
So manche dieser Texte voller Weisheit, Noblesse und bitterem Trost werden der Leserin oder dem Leser noch lange im Gedächtnis bleiben, nicht zuletzt aufgrund der präzisen Sprache des Autors. Wie jene Erinnerung an den nicht enden wollenden Publikumsjubel nach einer Aufführung des Don Carlos 1968 in der Mailänder Scala unter dem legendären Claudio Abbado.
Eine Erinnerung, die in Schirnding die unheimliche Vision hervorruft, all die großen Künstler ließen sich noch einmal auf die Bühne rufen: „Könnte man sie heute nach mehr als einem halben Jahrhundert noch einmal zusammenrufen, würden sie sich ausnehmen wie der durch einen Orkan gelichtete Wald. Denn die Zeit ist ein Sturm, den wir nur an seinen Verwüstungen erkennen. Die von Ovationen umbrandeten Stimmbänder der Sänger sind verdorrt und die der Bravissimo Brüllenden auch. Sollte man daraus nicht das Gegenteil des ‚Carpe diem‘ als Maxime ableiten: jede Gegenwart mit Vorbehalt erfahren, als künftige Vergangenheit?“
Was unsere Gegenwart angeht, so fehlt diese in Schirndings Aufzeichnungen durchaus nicht. Sie findet sich zum Beispiel in den glossenartigen Beiträgen über die Sprachfehler unserer Zeit. Ohnehin lässt ja der selbstironische Titel von Schirndings Buch heutzutage weniger an Hans Falladas Romanklassiker denken als an die notorischen alten weißen Männer, von denen es heißt, sie seien für alle Übel dieser Welt verantwortlich. Umso eindringlicher liest sich jener Text, in dem der Altphilologe und einstige Pädagoge all jene verflucht, die sich bei ihren Missbrauchstaten unzulässigerweise auf die griechische Knabenliebe beriefen.
Wie also soll man leben mit dem Ende vor Augen? Am besten, schreibt der Autor, wie Goethe, der nicht eher zu sterben bereit war, als bis sein „Faust“ vollendet war. In diesem Sinne möchte man Albert von Schirnding noch viele fruchtbare Waldspaziergänge wünschen – in der Hoffnung auf einen Folgeband.
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