Sich erzählen

Almut Kristine von Wedelstaedt über „philosophische Theorien narrativer Identität“

Von Stefan BreitrückRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Breitrück

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der anti-essentialistische Blick auf menschliche Identität als diskursives Konstrukt, der in der narratologischen Perspektivnahme eine Variante findet, hat sich in den Geistes- und Sozialwissenschaften als äußerst fruchtbare und produktive Theorieentscheidung erwiesen. Für die Philologie und die komparatistischen Literaturwissenschaften ergibt sich die erzähltheoretische Auseinandersetzung mit Identität aus dem Forschungsgegenstand selbst. Insofern kann und darf Almut Kristine von Wedelstaedts Band Von Menschen und Geschichten. Über philosophische Theorien narrativer Identität, bei dem es sich um eine überarbeitete Fassung ihrer im Jahr 2013 an der Universität Bielefeld angenommenen Dissertation handelt, ohne Weiteres auf eine interdisziplinäre Leserschaft hoffen.

Von Wedelstaedt bietet mit ihrem Buch einen informativen und kritischen Überblick über einige der wichtigsten Denker von Theorien narrativer Identität, über zentrale Frage- und Problemstellungen, die sich im Zuge einer narratologischen Perspektivnahme auf menschliche Identität ergeben, sowie über die Möglichkeiten und Grenzen narrativer Identitätsstiftung. Ihre Referenz- und Leittheoretiker sind dabei Paul Ri­cœur, James D. Velleman, Daniel C. Dennett, Alasdair MacIntyre und Marya Schechtman.

Flankiert von Einleitung und Schluss ist von Wedelstaedts Band zweiteilig angelegt. Im ersten Teil widmet sie zunächst je ein Kapitel der Klärung der Fragen, wie die Konzepte „Identität“, „narrativ“ sowie – in Zusammenführung – „narrative Identität“ im Kontext von philosophischen Theorien narrativer Identität zu verstehen sind, wobei sich die Autorin weitgehend auf ein Referat ihrer Leittheoretiker beschränkt. Hieran schließt im letzten Kapitel des ersten Teils ein Vergleich der Theoretiker in Hinblick auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede an.

So sei allen gemein, dass sie Identität als etwas verstehen, das „jemanden zu dem macht, der er ist“ und zwar „im Sinn von Merkmalen, die jemandem nicht äußerlich sind“, das „sich über Zeit hinweg verändern kann“, das „Menschen sich selbst schaffen, indem sie die Geschichte ihres Lebens erzählen“ und das sich „in einem Wechselspiel von einem selbst mit anderen“ bildet.

In Hinblick auf das narrative Moment, das die Autorin erfreulich streng beim Wort nimmt und pragmatisch als das Erzählen von Geschichten definiert, zeichnen sich alle behandelten Theoretiker dadurch aus, dass sie einen „engen Geschichtenbegriff“ pflegen, dass sie also nur solche Narrative als Geschichten zulassen, die einen „bestimmten Sinnzusammenhang“ besitzen. Ferner ist allen gemein, dass Geschichten bei ihnen mit der „Kohärenz in jemandes Leben“ sowie mit einem „Verstehen, sowohl dem Selbstverstehen als auch dem Verstehen anderer, zu tun“ haben. Zuletzt eint sie, dass „die narrative Identität“ bei ihnen „eine Lebensgeschichte“ ist.

Unterschiede zwischen Theorien narrativer Identität ergeben sich nach von Wedelstaedt sodann in Hinblick auf die Fragen, ob man in seinem Leben „auf eine Geschichte festgelegt [ist] oder nicht“, ob man von einer narrativen Identität also nur dann sinnvoll sprechen kann, wenn sie sich aus einer Geschichte ergibt, ob Identität „eine Geschichte oder etwas aus einer Geschichte Abstrahiertes“ ist, ob Identität „etwas Bewusstes oder Unbewusstes“ ist und ob „nur manche Menschen oder Personen eine narrative Identität haben [oder] alle Menschen oder Personen“.

Eben diese Differenzen nimmt von Wedelstaedt im zweiten Teil ihres Bands zum Anlass, den Fragen nachzugehen, inwiefern philosophische Theorien narrativer Identität tatsächlich plausibel machen können, dass Menschen durch den narrativen modus operandi kohärente, stringente und konsistente Identitäten konstruieren. So erörtert die Autorin in je einem Kapitel, ob und in welcher Form Lebensgeschichten einheitliche Identität konstruieren, ob und wie Theorien narrativer Identität mit dem Umstand umgehen, dass Lebensgeschichten in sich einander widersprechende Episoden zerfallen können, und zuletzt, inwieweit Theorien narrativer Identität den Aspekt reflektieren, dass sich Menschen durchaus „über sich selbst irren“, dass also Eigen- und Fremdwahrnehmung miteinander konkurrieren können.

Für eine Dissertation ungewöhnlich, fällt von Wedelstaedts Fazit negativ aus. Wohl können Theorien narrativer Identität noch evident machen, dass sich Menschen durch das Erzählen einer Lebensgeschichte zur Einheit runden. Allerdings scheitern sie daran, verschiedene Lebensabschnitte im Sinne einer konsistenten Identität zu vermitteln – zumindest wenn der Anspruch eines „engen Geschichtenbegriffs“ gewahrt werden soll. Eines der wiederkehrenden Argumente der Autorin ist diesbezüglich der Fall schwerer, charakterverändernder Erkrankungen. Zuletzt können Theorien narrativer Identität nicht abschließend klären, wer – eingedenk des Menschen als sozialem Wesen – eigentlich die Deutungshoheit bei der Erzählung einer Lebensgeschichte hat: man selbst oder die Mitmenschen.

Wenngleich Identität also nicht komplett narrativ eingeholt werden kann, so soll dies jedoch – so von Wedelstaedt – keineswegs suggerieren, dass das Erzählen von (Lebens-)Geschichten nicht zumindest partiell identitätsstiftende Funktionen haben kann. So verweist die Autorin im Schlusskapitel, das sich allerdings nur als Ausblick versteht, in dem die Punkte lediglich angedeutet bleiben, unter anderem auf die Funktionen der Weltauslegung, der geschichtlichen Erinnerung oder der kulturellen Selbstverständigung.

Ein großer Vorzug des Bandes ist, dass jedes Kapitel die Form einer in sich geschlossenen Studie annimmt, dass jedes Kapitel darüber hinaus mit einer konzisen Zusammenfassung seiner jeweiligen Ergebnisse abschließt, auf die im Inhaltsverzeichnis sogar separat hingewiesen wird. In Kombination mit dem auffälligen Bemühen um eine leicht verständliche Sprache – die Direktzitate weiter oben mögen hiervon einen Eindruck vermitteln –, nimmt Von Menschen und Geschichten eher den Charakter eines Handbuchs denn einer Monografie an.

Liest man von Wedelstaedts Buch hingegen dezidiert eben als eine solche theoretische Monografie, so gelingt es dem Band nicht immer, die Balance zwischen systematischer und stilistischer Eingänglichkeit auf der einen und theoretischem Anspruch auf der anderen Seite zu wahren. Das große intellektuelle Erlebnis fehlt. Der komplexitätsreduzierte Stil hat bisweilen theoretische Trivialität zur Folge, beziehungsweise: Er weiß der Komplexität der Sachverhalte nicht Ausdruck zu verleihen. Auch in dieser Hinsicht können die weiter oben angeführten Direktzitate instruktiv sein, wenn es etwa  – und zwar nach weit über der Hälfte des Bandes, im Fazit des ersten Teils – verbatim heißt: „Geschichten haben immer mit Verstehen […] zu tun.“ Hinzu kommt, dass der Band aufgrund seiner Anlage nur schwer ohne Redundanzen auskommt. Im ersten Teil werden die Begriffe der Identität, des Narrativen und der narrativen Identität jeweils sowohl bei Ri­cœur als auch bei Velleman, Dennett, MacIntyre und Schechtman vorgestellt, sodass sich in jedem der ersten drei Kapitel ein Unterkapitel zu jedem dieser Theoretiker findet, die alle gegenseitig aufgegriffen werden wollen. Im zweiten Teil neigt der Band dazu, kleine Gedankengänge unnötig minutiös im Gesamtthema zu verorten, was entgegen der Intention nicht der Orientierung dient, sondern die Konzentration bricht und den Lesefluss hemmt. Vereinzelt bringen das Bemühen um Ein­ordnung und das Fehlen einer elaborierten Begriffssprache den Text nah an die Grenze zur Unlesbarkeit. So leitet etwa die Zusammenfassung von Kapitel fünf wie folgt ein: „Entsprechend der im ersten Kapitel dieses Buchs gemachten Beobachtung, dass die Beantwortung der vierten Frage nach jemandes Identität in Theorien narrativer Identität Antworten auf die zweite und dritte Frage danach nötig macht, ging es in diesem Kapitel um die Antworten, die auf die anderen Fragen nach jemandes Identität gegeben werden können oder müssen, wenn man von der Antwort ausgeht, die in Theorien narrativer Identität auf die Frage gegeben werden, was jemanden zu dem macht, der er ist.“

Solch unglückliche Passagen sind allerdings die Ausnahme und bestimmen nicht das Bild. Von Wedelstaedt legt mit Von Menschen und Geschichten ein solides Nachschlagewerk vor, um sich in die Grundlagen von philosophischen Theorien narrativer Identität einzuarbeiten. Dabei überzeugt vor allem ihr pragmatischer Ansatz, der das phänomenale Wesen des Narrativen, das Erzählen von Geschichten, in Erinnerung ruft. Ein Wesen, das in den abstrakten Gefilden der Diskurstheorie oder eben von Theorien narrativer Identität nicht selten etwas aus dem Blick gerät, sich verselbständigt und bisweilen mit den optimistischsten (identitäts-)ontologischen Potenzialen ausgestattet wird, sodass von Wedelstaedts Band durchaus auch als reality check aufgefasst werden kann.

Titelbild

Almut Kristine von Wedelstaedt: Von Menschen und Geschichten. Über philosophische Theorien narrativer Identität.
mentis Verlag, Münster 2016.
213 Seiten, 39,80 EUR.
ISBN-13: 9783957430519

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