Flucht aus der Sklaverei in surrealer Eisenbahn

Colson Whitehead schreibt einen eindringlichen Sklavenroman mit fantastischen Elementen

Von Christina DittmerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Dittmer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Sonderbare an Amerika war, dass Menschen Dinge waren.“ Dieser Gedanke kommt Cora, der Protagonistin von Colson Whiteheads Roman Underground Railroad in den Sinn – denn sie ist, wie schon ihre Mutter und Großmutter, Sklavin auf einer Baumwollplantage in Georgia. Nach einem Streit mit einem der Sklaven, der auch als Aufseher fungiert, wird sie zusammen mit anderen Unruhestiftern in den „Hob“ verbannt, in dem die aus der Sklavengemeinschaft Ausgestoßenen hausen. Ihr einziges kleines Glück ist ein Gemüsebeet, das sie von ihrer Mutter geerbt hat.

Sprachlich eindringlich und schonungslos erzählt Whitehead von der Brutalität, die auf der Plantage herrscht und von der grausamen Skurrilität des Sklavenhandels im Amerika des 17. bis 19. Jahrhunderts: „Die Schaulustigen verzehrten frische Austern und warmen Mais, während die Versteigerer in die Luft brüllten. Die Sklaven standen nackt auf dem Podest.“ Durch die sehr realistischen Beschreibungen des Lebens der Sklaven ist es stellenweise durchaus hart den Roman zu lesen. Im Gegensatz zu vielen anderen Autoren von Sklavenromanen romantisiert Whitehead ihre Lebensbedingungen und ihren Zusammenhalt untereinander nicht.

Der junge Caesar überredet Cora schließlich, mit ihm von der Plantage zu fliehen. Er sieht sie als Glücksbringer, denn ihre Mutter Mabel war Jahre zuvor die einzige Sklavin, die der Plantage jemals durch die umgebenden Sümpfe entkommen konnte und nie gefunden wurde.  Durch einen Kontaktmann erfuhr Caesar von der titelgebenden „Underground Railroad“, einer – wie der Name schon sagt – unterirdischen Eisenbahnstrecke, die fluchtwillige Sklaven in andere Bundesstaaten bringen kann, wo die Sklavereigesetzgebung möglicherweise eine andere ist.

Historisch war die Underground Railroad ein Netzwerk von Gegnern der Sklaverei, die Sklaven zur Flucht verhalfen. Als Codewörter benutzten sie Ausdrücke aus dem Zugverkehr, worauf sich der Name zurückführen lässt. Die Metapher der Underground Railroad inspirierte Colson Whitehead dazu, die Eisenbahn in seinem Roman Realität werden zu lassen. An geheimen Orten führen lange Treppen zu Untergrund-Bahnhöfen, die Sklaven zur Flucht verhelfen sollen. Ein Deus Ex Machina, der die Sklaven plötzlich und unkompliziert in Sicherheit bringt, sind sie aber nicht. Zu unberechenbar ist, welches Ziel die Züge haben und ob sie überhaupt dort halten. Denn durch ein kompliziertes Sicherheitssystem werden immer wieder Bahnhöfe gesperrt, die nicht mehr sicher scheinen oder die Bahnhofsaufseher verlässt der Mut und sie verschütten die Eingänge.

Die Beschreibungen der Lokomotivführer, die laut Cora „ausnahmslos von einer Art Tunnelwahnsinn befallen wurden“, sind ebenso eindrücklich wie die der Stationsaufseher. Sie zeigen Charaktere, die durch ihren abgeschiedenen Lebenswandel sonderbar werden, und Menschen, die gern Gutes tun wollen, aber in solcher Angst leben, dass sie Cora, der sie ja eigentlich helfen wollen, aus Angst vor Entdeckung selber gefangen halten.

Mit welchen (finanziellen) Mitteln oder durch welche Gönner die Eisenbahn betrieben wird, wird nicht klar. Zwar ist sie im Untergrund, doch ist kaum zu glauben, dass es nicht auffällt, unglaubliche Mengen an Kohle, Wasser und Ersatzteilen heranzuschaffen. Durch die historische Inauthentizität und Logikverstöße wie diese, mutet die unterirdische Eisenbahn wie ein Fantasyelement an und nicht wie etwas, dass es unter gewissen Umständen hätte geben können (die erste U-Bahn der Welt wurde übrigens erst 1863 in London in Betrieb genommen).

Durch das Stilmittel der Eisenbahn, erspart Whitehead sich langwierige Beschreibungen einer Flucht durch das Land, die vom eigentlichen Kern der Erzählung, den psychologischen Folgen der Flucht auf ihre Protagonistin und den Lebensbedingungen für entlaufene Sklaven in den verschiedenen Bundesstaaten, ablenken würde. Die reale Existenz der Railroad im Roman schließt eine metaphorische Deutung zudem nicht aus.

Underground Railroad wirft Fragen dazu auf, inwieweit es problematisch ist, wenn konkrete historische Ereignisse und surreale Elemente in der Literatur vermischt werden, gerade bei einem solch sensiblen Thema. Der Roman kann nicht als rein historischer Roman eingeordnet werden, wenngleich er ansonsten fast immer sehr fundiert recherchiert wirkt. Fast, denn abgesehen von der  Eisenbahn weicht der Roman an manchen Stellen absichtlich von historischen Fakten ab. So gibt es beispielsweise im South Carolina des Romans Bestrebungen, schwarze Frauen gegen ihren Willen zu sterilisieren, damit der Bundesstaat zukünftig nur noch von Menschen mit weißer Hautfarbe bevölkert ist. Solche Ungenauigkeiten sind einerseits irritierend, besonders wenn sie von einem Leser mit wenig Hintergrundwissen für bare Münze genommen werden. Andererseits entheben sie den Roman seiner historischen Situation in der Mitte des 19. Jahrhunderts und verlegen ihn in eine literarische Parallelwelt, in der sich die Essenz dessen vermischt, welche Verbrechen rassistische Gesellschaften, überall auf der Welt und in vielen Jahrhunderten, für Verbrechen an ihren Mitmenschen begangen haben. Nicht zufällig erinnern die oben beschriebenen Methoden an das Dritte Reich.

Cora flüchtet unterdessen durch mehrere Bundesstaaten, doch selbst wenn sie sich in Sicherheit wähnt und sogar eine Arbeit mit Bezahlung findet, ist eigentlich nichts wirklich in Ordnung, denn ihr neuer Job in einem Museum – als Ausstellungsstück – ist erniedrigend und lässt den Leser erschauern. Sie lebt unter anderem eine Weile auf einer Farm in Indiana, auf der Abolitionisten, Künstler, Freigelassene und Entlaufene zusammentreffen. Es ist ein „Ort der Heilung“ für Cora, doch natürlich hält diese Ruhe nur für eine kurze Zeit, denn der berüchtigte Sklavenfänger Ridgeway hat es zu seinem persönlichen Anliegen gemacht, sie zu finden. Schließlich war er es, dem ihre Mutter entkam.

In Zeiten von immer stärker aufkeimendem Rassismus sind solche Romane wichtig, um daran zu erinnern, in welchen Grausamkeiten Hass und Geringschätzung zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen gipfeln können.

Und auch Amerika ist eine Illusion, die größte von allen. Die weiße Rasse glaubt – glaubt von ganzem Herzen – , dass sie das Recht hat, das Land zu rauben. Indianer zu töten. Krieg zu führen. Ihre Brüder zu versklaven. Wenn es irgendeine Gerechtigkeit auf der Welt gibt, dürfte diese Nation nicht existieren, denn ihre Grundlagen sind Mord, Diebstahl und Grausamkeit.

 Starke Statements wie dieses machen Underground Railroad zu einem – gerade heute – wichtigen Roman.

Die Charaktere sind samt ihrer Schwächen sehr gelungen und wirken authentisch. Akkurat recherchierter Realismus trifft auf surreal-fantastische Elemente – so präsentiert Whitehead mit Underground Railroad eine neue Art über die amerikanische Sklaverei zu schreiben. Das ist durchaus mutig.

Titelbild

Colson Whitehead: Underground Railroad. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Nikkolaus Stingl.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
352 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256552

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