Bachmannpreisprosa mit Stolpersteinen

Julia Wolfs „Walter Nowak bleibt liegen“ überzeugt als Sprachkunstwerk

Von Julian IngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Ingelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Wir haben es hier mit einem ganz starken Text zu tun“, lobte F.A.Z.-Redakteurin Sandra Kegel, als Julia Wolf ihre Lesung auf den 40. Tagen der deutschsprachigen Literatur gerade beendet hatte. „Ein Text“, so Kegel weiter, „der von seiner sprachlichen Finesse lebt und sich, wie ich meine, in seiner literarischen Qualität weit vom Mittelfeld abhebt.“ Ihre Jurykollegen stimmten zu: Stefan Gmünder zeigte sich „beeindruckt“, Hubert Winkels fand Wolfs Romanauszug „ausgesprochen gut“. Selbst die kritische Hildegard Keller musste zugestehen, dass der Auszug „als Hörtext funktioniert“. In der Nachberichterstattung klang auch das Feuilleton angetan: Für Die Presse zeichnete sich der Beitrag „durch sprachliche und stilistische Präzision aus“, die TAZ fand ihn „schön, ungewöhnlich erzählt“. Am Ende gewann Wolf zwar nicht den Ingeborg-Bachmann-Preis, aber immerhin den hochdotierten 3sat-Preis.

Mit reichlich Vorschusslorbeeren erscheint in der Frankfurter Verlagsanstalt nun der Roman zum Auszug. Und bei der Lektüre von Walter Nowak bleibt liegen werden schnell zwei Dinge klar: Julia Wolf kann das Niveau halten, das ihr Klagenfurter Wettbewerbsbeitrag versprach – und der Text bleibt im Gesamtzusammenhang ähnlich kryptisch, wie das Fragment es angedeutet hat.

Walter Nowak bleibt liegen ist der zweite Roman der Berliner Autorin, deren Prosadebüt Alles ist jetzt von der Literaturkritik bereits begeistert aufgenommen wurde. Zuvor verfasste sie Theaterstücke, Filmdrehbücher und Hörspiele, die mit Preisen ausgezeichnet und mit Stipendien belohnt wurden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Wolf ein großes Talent dafür besitzt, Figuren durch Sprache darzustellen. Das wird schon im ersten Absatz ihres neuen Romans deutlich, der den Ich-Erzähler in nur wenigen Worten plastisch charakterisiert:

Ach Walter, hat sie gesagt und war schon zur Tür hinaus. In aller Frühe, wie angekündigt. Sie will den Berufsverkehr umgehen, will zügig durchkommen. Yvonne will sich noch ausruhen, bevor die Tagung beginnt. Ach Walter, statt Kuss, statt Tschüss, ich komme doch wieder. Ein lächerliches, ein kleines Gefühl, da beruhigt das Versprechen. Doch, das war ein Versprechen. Yvonne kommt wieder. Seitdem ich Yvonne kenne, war ich noch nie länger, wir waren noch nie länger als zwei Tage getrennt. Das ist nun wirklich. Kein Beinbruch, das ist kein Weltuntergang. Das lässt sich alles erklären, Yvonne wird es verstehen. Ich erzähle es ihr. Wo fange ich an?

Schon bei diesem kurzen Auszug fällt der außergewöhnliche Stil des Texts ins Auge. Wolfs Prosa besteht aus stakkatoartigen Satzfragmenten und fällt durch die parataktische Aneinanderreihung von Ellipsen auf. Häufig ist es dem Leser überlassen, die einzelnen Aussagen des Protagonisten zu vervollständigen. Ganze Absätze werden so auf Stichwörter reduziert, selbst Redewendungen existieren nur im unvollendeten Zitat: „Erst die Pflicht, dann das“, lautet etwa das Mantra des Protagonisten, und: „Das ist nicht von schlechten.“ Noch nicht einmal ein imaginiertes Selbstgespräch mit den Spatzen auf seiner Fensterbank bringt Walter flüssig über die Lippen: „Tut mir leid, ich kann keine Schnäbel lesen. Und Yvonne Piep piep, ha ha wie sie, hell und klar, gar nicht spöttisch. Warum auch.“

Julia Wolf verlangt ihren Leser*innen hohe Konzentration ab: Jedes Wort ist interpretationsbedürftig, jeder Satz muss dekonstruiert werden, weil oft nur ein Komma den Sprung zwischen Orten, Zeiten und Personen markiert: „Für wen hält sich mein Sohn?, ich pinkele, dass er meine Entscheidung, Reißverschluss, Spülung, ich dulde das nicht.“ Während sich solche Sätze noch mit etwas Mühe begreifen lassen, klingen andere fast nach dadaistischer Sprachspielerei: „Da können sie sagen, was sie wollen, komme wer wolle und sagt, wer wolle, sagt was, wolle komme, sage, was?“ In solchen Momenten wird die Unverständlichkeit von Walters Sprache zum Programm erhoben – und darin erweist sich die stilistische Meisterschaft der Autorin. Denn Wolf wirft ihren Leser*innen absichtlich Stolpersteine in den Weg: Sie setzt jede Auslassung bewusst, unterbricht mit jedem Punkt den Lesefluss an kalkulierter Stelle. Statt einen flüssigen Text zu schreiben, der sich selbst erklärt, liefert Wolf lieber sprachliche Mosaiksteine.

Es bleibt dem Leser überlassen, daraus die Handlung des Romans zusammenzusetzen – bis er irgendwann begreift, dass das Sprachmosaik selbst schon integraler Bestandteil des Plots ist. Was sich zunächst als sprachliche Unsicherheit oder als Redehemmung eines Protagonisten in Erklärungsnot interpretieren lässt, wird schließlich als ernstzunehmende Aphasie erkennbar. Denn Walter Nowak bleibt liegen ist – und das wird erst im späteren Verlauf des Romans klar – eigentlich eine Krankengeschichte.

Die Misere beginnt im Schwimmbad. Dort zieht Walter jeden Morgen in zwanghafter Regelmäßigkeit seine Bahnen, bis er sich eines Tages vom Anblick einer jungen Frau ablenken lässt und mit dem Kopf gegen den Beckenrand stößt. Walter fällt in Ohnmacht, erwacht im Delirium und schleppt sich schließlich nach Hause, wo er das Geschehene zu verstehen versucht – nackt, auf seinem Badezimmerboden liegend, mit Platzwunde am Kopf. Diese äußere Bewegungslosigkeit, die schon im Titel des Romans angekündigt wird, steht im Gegensatz zur inneren Hektik des Protagonisten: Unablässig denkt Walter darüber nach, wie er seiner jüngeren Freundin Yvonne den Unfall und seinen voyeuristischen Aussetzer verständlich machen soll. Und was als imaginierter Rechtfertigungsmonolog beginnt, erwächst zur ausführlichen Autobiographie eines alternden Alphatiers.

Doch schnell wird klar, dass der Badeunfall nicht spurlos an Walter vorübergegangen ist. Noch Stunden nach dem Unglück wirkt er völlig zerstreut, er handelt irrational und denkt in kaum nachvollziehbaren Bahnen. Als Leser ist man Walters Wahrnehmungsstörungen schutzlos ausgeliefert, muss jede überraschende Wendung seines Bewusstseinsstroms mitmachen. Dadurch schafft es Wolf, das Leid ihres Protagonisten nicht nur zu beschreiben, sondern fühlbar zu machen. Erbarmungslos lässt sie ihr Publikum an Walters Zerstreutheit teilhaben; sie konfrontiert mit Vergessenem und Verschusseltem, führt die Missgeschicke ihres Protagonisten vor und reiht Halluzinations- an Wirklichkeitsbeschreibung, bis man sich selbst ganz orientierungslos fühlt.

Wolf beschränkt sich dabei so sehr auf Andeutungen, dass bis zum Schluss des Romans nicht ganz klar ist, wie die „schwere Diagnose“, von der der Text immer wieder berichtet, eigentlich lautet: Der Protagonist hat wohl Prostatakrebs, leidet jedoch vor allem unter Verwirrung und Vergesslichkeit. Ob diese Symptome einer frühen Demenz zuzuschreiben sind oder doch nur infolge seines Badeunfalls auftreten, bleibt vage. Denn Wolf diagnostiziert nicht und benennt nichts Konkretes; stattdessen zeichnet sie abstrakte Bilder der Hilflosigkeit und der Überforderung eines Siebzigjährigen.

Dementsprechend ignoriert Walter in Gedanken die Chronologie der Ereignisse und schert sich nicht um den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Er assoziiert frei drauflos, erinnert sich an Biographisches, imaginiert Dialoge und fabuliert über Elvis Presley. Hinter all dem schimmert immer wieder Walters Sehnsucht auf: Er träumt sich zurück in eine Zeit, in der er und seine Freundin noch unzertrennlich waren, in der er „Zigeuner“ noch „Zigeuner“ nennen durfte und in der er seiner Wahrnehmung noch trauen konnte. Vor allem aber denkt er an seinen Sohn Felix, der bei seiner Exfrau aufwächst und für den im Leben eines selbstständigen Geschäftsführers nur selten Platz war.

Es erstaunt, wie viele Themen Julia Wolf in einem Roman behandelt, der nur 160 Seiten umfasst – und wie facettenreich und einfühlsam ihr das gelingt. Walter Nowak bleibt liegen ist gleichzeitig die Geschichte einer gescheiterten Ehe, einer schwierigen Vater-Sohn-Beziehung und einer Liebe zwischen einer jüngeren Frau und einem älteren Mann, ist aber auch die Pathographie eines Krebspatienten und eine Erzählung darüber, wie der ehemalige Chef einer erfolgreichen Hochbaufirma die Kontrolle über seine eigene Kaffeemaschine verliert. Und in all diesen Bereichen überzeugt das Buch auf ganzer Linie.

Titelbild

Julia Wolf: Walter Nowak bleibt liegen. Roman.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2017.
160 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002336

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