Mit den Augen des Archivs
Der von Jan Zimmermann herausgegebene Bildband „Die Augen der Lübecker Nachrichten“ gewährt Einblicke in Politik, Stadtentwicklung, Mode und Popkultur
Von Hartmut Hombrecher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Hamburger Junius-Verlag hat sich neben seiner bekannten Theoriereihe Zur Einführung in den letzten Jahren verstärkt darum bemüht, sein Programm um Regionalia zu erweitern. Dabei sind inzwischen nicht nur zu Hamburg, sondern auch zur benachbarten Hansestadt Lübeck einige Titel erschienen. Der nun vom Historiker und Bildagentur-Inhaber Jan Zimmermann herausgegebene Bildband Die Augen der Lübecker Nachrichten schließt eine dreiteilige Reihe ab, die sich mit der Pressefotografie im Lübeck der 1950er–1970er Jahre beschäftigt. Während die Bände zu den ersten beiden Jahrzehnten Bilder von Hans Kripgans enthalten, treten im abschließenden Band Fotografien von Marianne Schmalz (sowie vereinzelt Alice Kranz-Pätow und Jo Marwitzky) hinzu. Kripgans war ab 1950 für die neu gegründeten Lübecker Nachrichten tätig und fotografierte über 25 Jahre alles, was in Lübeck berichtenswert war. Nachdem er 1975 in den Ruhestand gegangen war, übernahm Marianne Schmalz, ebenfalls langjährige Mitarbeiterin der Zeitung, viele seiner Aufgaben.
Aus den mehreren hunderttausend Fotografien, die im LN-Archiv lagern, hat Zimmermann eine Auswahl getroffen, die mit kleinen Begleittexten spannende Momentaufnahmen von Politik, Stadtentwicklung, Mode und Popkultur bietet. Die Bilder ergeben ein Panorama des sich wandelnden Zeitgeistes und bieten oftmals Reflexe von Ereignissen, die ins kollektive Gedächtnis eingegangen sind – seien es Interrail, politische Proteste oder die Fußball-WM 1974. Einen recht großen Raum nimmt auch die Architektur ein. Das ist kein Zufall, denn in Lübeck werden bis heute zahlreiche Bauprojekte in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert, wobei sich die Partizipation und stellenweise Empörung nicht nur auf Maßnahmen in der seit 1987 als UNESCO-Weltkulturerbe geführten Altstadt beschränkt. Kripgans dokumentiert etwa Demonstrationen aus dem Juni 1971, die sich gegen den Bau des Maritim-Hotels in Lübeck-Travemünde richteten. Ebenso sind zahlreiche Aufnahmen von Gebäudeabrissen und funktionalistischen wie brutalistischen Neubauten abgedruckt. In den letzten 20 Jahren ist die Hansestadt hingegen dazu übergegangen, gerade Konstruktionen dieser Architekturstile wieder zurückzubauen oder in ihrer Nutzung und infrastrukturellen Einbettung zu verändern. Auch wenn solche städtebaulichen Aspekte aufgrund des umfassenden Anspruchs und der motivischen Vielfalt der Fotografien nur angedeutet werden können, gelingen dem Band immer wieder interessante Einblicke in die Entwicklung der Stadt.
Dass diese kulturhistorische Dokumentation glückt, liegt auch an der Einbindung von Textzitaten aus Artikeln der Lübecker Nachrichten. Der häufig saloppe Ton der Zeitungsautoren lässt manchmal schmunzeln, manchmal aber auch die historische Distanz besonders deutlich erkennen, wenn etwa Frauenfußball als Aufreger diskutiert wird oder es in einem Artikel von 1970, den der Herausgeber für „heute unvorstellbar“ hält, heißt: „Frau bleibt Frau, da helfen keine Uniformen! Auch Lübecks Politessen erinnern sich trotz strenger Miene und oft schnell verteilter Strafzettel an ihre eigentlichen Pflichten als Hausfrau.“
Andere Ungleichbehandlungen und Ungerechtigkeiten wurden aber im selben Jahr angeprangert: Nachdem Wolfgang Blankschein wegen seines linkspolitischen Engagements das Gymnasium Johanneum verlassen musste, regte sich in der lübschen Schülerschaft Protest, der auch auf die Straße getragen wurde. Der Begleittext informiert darüber präzise. Doch gerade bei solchen Ausschnitten zeigt sich auch eine Schwierigkeit, die die umfassende Anlage des Bandes mit sich bringt: Reaktionen und Folgen der Demonstration, etwa den Umstand, dass Blankschein seine Schullaufbahn auf der Oberschule zum Dom fortsetzen konnte, erfährt man nicht.
Diese Entscheidung macht den Band leserlicher und erlaubt, den Fokus auf die Fotografien als historische Momentaufnahmen zu legen. Sie ist aber mit Blick auf eine vertiefende, weiterführende Lektüre oder gar wissenschaftliche Recherche, die auf Zimmermanns herausgeberische Arbeit aufbauen könnte, ebenso bedauerlich wie der Umstand, dass weder Fotografien noch Textzitate so nachgewiesen werden, dass sie recherchierbar sind. Dafür erfährt man mit wenigen Ausnahmen aber zumindest recht zuverlässig, wer auf den Fotografien abgebildet ist. Helmut Schmidt und Willy Brandt sind ohnedies leicht zu erkennen. Das gilt aber nicht für alle Abgebildeten. Mit Antjekathrin Graßmann, die über Jahrzehnte des Lübecker Stadtarchiv leitete, oder Hans-Gerd Kästner, der als Leiter des Kulturamts zwischen 1969 und 1990 eine zentrale Stellung für die Kultur in der Stadt einnahm, werden zum Beispiel namentlich auch Persönlichkeiten sichtbar gemacht, die vor allem lokal einflussreich gewesen sind.
Mit Blick auf eine Zielgruppe, die vornehmlich unter denen zu finden sein dürfte, die die 1970er Jahre an der Trave selbst erlebt haben, treten aber ohnehin ganz andere Bereiche in den Vordergrund: die ekstatische Musikrezeption bei Rock-, Beat- und Disco-Konzerten, die Auftritte der ‚Blödelbarden‘ Ingo Insterburg und Karl Dall und die Hamburger Szene, die vom Onkel Pö und der Villa Kunterbunt mit Udo Lindenberg und Otto Waalkes auch für einige Abende nach Lübeck kam. Ganz deutlich knüpft man hier an einen gegenwärtigen Hang zu nostalgischen Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit an. Gerade, weil die Nostalgie aber nie ausschließlich im Vordergrund steht, sondern oft sozialhistorische Aspekte in den Blick geraten, ist der hochwertig gebundene Bildband auch unabhängig vom Interesse an der lübschen Geschichte allen zu empfehlen, die Freude an kulturhistorischer Dokumentation haben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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