Zwischen Lust und Scham
Mit dem Erzählband „Das Land der Jungen“ feiert Dénes Krusovszky hierzulande sein Debüt
Von Oliver Pfohlmann
Wann wird ein Mann erwachsen? Ist es der Tag, an dem er sein erstes Kind zeugt? Oder der, an dem er seine Eltern anlügt – ihnen erzählt, man würde zum Klamottenkauf in die Stadt fahren, während er in Wahrheit seine Freundin zur Abtreibung in die Klinik bringt? In Das Land der Jungen, der Titelgeschichte von Dénes Krusovszkys Erzählband, muss sich ein Siebzehnjähriger die Zeit vertreiben, bis er das Mädchen nach dem Eingriff abholen darf.
Ziellos durch die Stadt streifend, bleibt er vor dem Schaufenster eines Modellbauladens stehen:
Modellbau interessiert mich nicht mehr oder nicht mehr so wie früher, aber der alte Reflex ist geblieben. […] Ich schaue mir die Figuren mit ihren ausdruckslosen Gesichtern an, die sonnengebleichten Panzer und Flugzeuge, die Miniatur-Menschen, manche 1 : 35, andere 1 : 72 verkleinert, und ich denke daran, wie groß wohl ein zehn Wochen alter Embryo sein mag, kleiner oder größer als dieser Wehrmacht-Soldat, der gerade eine Handgranate auf einen russischen Panzer wirft.
So eindringlich wie die Szene vor dem Schaufenster ist auch der Rahmen dieser Erzählung: Jahre später ist der Protagonist mit einer anderen Frau zusammen; die Hochzeit steht an. Als er noch einmal sein Elternhaus besucht, lässt ihn seine Mutter im leeren Kinderzimmer eine letzte Tüte mit alten Klamotten aussortieren. Mitten in dem Haufen findet sich jene Hose, die er sich am Tag der Abtreibung als Alibi für seine Eltern gekauft hatte. Es ist ihr Anblick, der den Ich-Erzähler in den Abgrund seiner Erinnerungen stürzen lässt.
Auch in den anderen Erzählungen des 41-jährigen ungarischen Autors geht es um Momente des Umschlags oder existenziellen Bruchs. Augenblicke, in denen mit einem Mal tröstliche Selbstillusionen fragwürdig werden oder sich widersprüchliche Gefühle auf rätselhafte Weise vermischen: die Lust mit der Scham, der Stolz mit der Angst. In Die neuen Wilden fristet ein Fotokünstler, gefangen in einer trostlosen Ehe, sein Dasein als Tatortfotograf. Statt aufregender Avantgardekunst produziert er Aufnahmen einer Familie, die im Schlaf an einer Rauchvergiftung erstickt ist.
Seine Erektion dabei erscheint zunächst wie ein leiblicher Irrtum – bis sie nach der Heimkehr beim Anblick seiner schlafenden Frau zum beunruhigenden Vorboten eines heiklen Neuanfangs wird:
Sie rührte sich nicht, sie musste im Tiefschlaf sein, und wie er sie so betrachtete, hätte der Fotograf nicht beschwören können, dass sie noch lebte. Natürlich wusste er es, aber ihr Gesicht war so gespenstisch regungslos, dass er den Blick nicht davon wenden konnte. […] Und wie er so dastand, in Unterhosen und T-Shirt, kam ihm eine Idee, er ging hinaus ins Vorzimmer, nahm seine Kamera aus der Tasche.
Geordnet sind die von der Büchnerpreisträgerin Terézia Mora in ein präzises, geschmeidiges Deutsch übersetzten Erzählungen nach dem Lebensalter ihrer männlichen Protagonisten. Dénes Krusovszky erweist sich dabei als genauer Beobachter seines Personals. Da ist der Junge, der mitansehen muss, wie sich der betrunkene Vater im Zirkus „zersägen“ lässt. Da ist, in der wohl besten Erzählung des Bandes mit dem Titel „Tiefere Schichten“, der Student, der seinem Mitbewohner aus Ägypten zum ersten Liebeserlebnis verhelfen will und dabei nichtsahnend zum Komplizen einer Vergewaltigung wird. Und da ist zuletzt der Knochenkünstler František Rint, die Hauptfigur der längsten Erzählung des Bandes: Dieser Tischlermeister hatte Ende des 19. Jahrhunderts aus Abertausenden von Knochen dem Kreislauf von Leben und Tod ein gruseliges Denkmal gesetzt; Krusovszky lässt Rint als Künstler triumphieren, aber als Ehemann scheitern, weil er zu sehr der selbsterklärenden Kraft seiner Kunst vertraut.
Rints Unfähigkeit zur Kommunikation ist dabei ebenso ein wiederkehrendes Motiv in diesem Erzählband wie das des Orientierungsverlustes oder die Beobachtung von Menschen beim Sex, in immer neuen Varianten der Freudʼschen Urszene. Über die politische Gegenwart von Krusovszkys Heimatland erfährt man in diesen Erzählungen auf den ersten Blick nur wenig; tatsächlich aber ist die Zerbrechlichkeit dieser Männerfiguren ein eindringlicher Gegenentwurf zu dem im Ungarn Victor Orbáns grassierenden paternalistischen Männerbild. Krusovszky, der heute in Wien und Budapest lebt, begann als Lyriker, ehe er sich der Kurzprosa zuwandte. 2018 erschien sein 500-seitiger Generationen-Roman über die Desillusionierung der ungarischen Millenials, dessen realistische Schreibweise ihm den Titel „ungarischer Jonathan Franzen“ bescherte. Hoffentlich ist auch dieses Werk bald auf Deutsch zu lesen.
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