Leben als Konflikt

Martin Dehlis Biografie Alexander Mitscherlichs

Von Ludger LütkehausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ludger Lütkehaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis zu seinem Tod 1982 war er die beherrschende Figur der deutschen Nachkriegspsychoanalyse. Ja, mit seinen Mentoren und Weggefährten von der "Kritischen Theorie" war er eine Zentralgestalt für die "intellektuelle Gründung der Bundesrepublik" überhaupt: Alexander Mitscherlich. Der Neuaufbau der Psychoanalyse nach 1945, gipfelnd 1960 in der Gründung des Sigmund-Freud-Instituts, und der Anschluss an die internationale Psychoanalyse waren ihm ebenso zu danken wie ein konturenscharfes gesellschaftliches und politisches Engagement. Die Verleihung des "Friedenspreises des deutschen Buchhandels" im Jahr 1969 krönte ein Lebenswerk, in dem sich der Aufstieg einer Person mit dem Aufbau einer Disziplin und eines demokratischen Gemeinwesens verband. Aber natürlich gab es bei dem 1908 geborenen Mitscherlich auch ein Leben vor der angeblichen "Stunde Null". Daran erinnert jetzt mit Vehemenz Martin Dehlis Mitscherlich-Darstellung "Leben als Konflikt", ein Porträt, das selbst Konflikte provozieren wird. Dass das Buch - nach verlagsinternen Querelen - nicht im S. Fischer Verlag erschienen ist, in dem man es erwartet hätte, sondern im Wallstein Verlag, darf man als Indiz werten.

Der Untertitel des als Dissertation am Europäischen Hochschulinstitut entstandenen Buches verspricht nur etwas "Zur Biographie" Mitscherlichs. In der Tat bietet Dehli keine umfassende Darstellung. Vor allem die letzten beiden Lebensjahrzehnte bleiben weitgehend ausgespart. Auch eine eigentlich analytische Biografie bietet Dehli bis auf skizzenhafte Hinweise zum autoritären Elternhaus und Mitscherlichs eigene Theorie und Praxis einer "vaterlosen Gesellschaft" nicht. Aber das Buch ist detailliert und gründlich recherchiert, dabei spannend zu lesen. Die Spannung nährt sich aus der Korrektur eines idealisierten Bildes. Dehli wirft einen ziemlich unfreundlichen Blick auf einen allseits gefeierten Helden. Das von Mitscherlich selbst wie auch von der Öffentlichkeit gerne gepflegte Bild einer linearen Biografie, die bruchlos von der Opposition gegen das "Dritte Reich" zum radikal-demokratischen Engagement in der BRD geführt hätte, wird teilweise revidiert.

Das heißt nicht, dass auch Mitscherlich wie so viele andere, die sich nach 1945 unversehens als Widerstandskämpfer outeten, nun als Sympathisant des NS-Regimes enttarnt würde. Er war Gegner des Regimes und wurde als solcher von der Gestapo beobachtet und wiederholt inhaftiert. Aber nach den Forschungen Dehlis stand er den Exponenten der nationalen "konservativen Revolution" nahe, die zwar das NS-Regime verachteten, aber zugleich zu den Feinden der demokratischen Weimarer Republik zählten und mit Teilen der NS-Ideologie übereinstimmten.

Dehli nennt hier vor allem Mitscherlichs lange Zeit bewundernde Beziehung zu Ernst Jünger, seine politische und publizistische Zusammenarbeit mit der nationalistischen Linken Ernst Niekischs, die ihm freilich als Mitglied der um die Zeitschrift "Widerstand" zentrierten nationalbolschewistischen, revolutionären "Widerstandsbewegung" die NS-Verfolgung eintrug, und - neben Affinitäten zu Oswald Spengler und Arnold Gehlen - vor allem die Bindung an seinen akademischen Lehrer Viktor von Weizsäcker. Dieser vertrat eine "ganzheitliche" anthropologische Orientierung der Medizin, die gegen die naturwissenschaftliche "Organmedizin" gerichtet war und mit ihrem methodischen Konzept einer "synoptischen" Psychotherapie schon der Psychosomatik die Wege bereitete.

So weit, so gut. Aber Weizsäcker hatte 1933 nicht nur die Nazis explizit unterstützt. Die im zynischen Sinn fürwahr ganzheitliche "ärztliche Vernichtungslehre", die er propagierte, brachte ihn auch in die Nähe der eugenischen nationalsozialistischen Vernichtungsmedizin. Dehli zögert hier, am heikelsten Punkt seiner Recherchen, auch nicht, Mitscherlich mit den eugenischen Komponenten der Weizsäcker`schen "Vernichtungslehre" und den Vorstellungen des französisch-amerikanischen Eugenikers und Nobelpreisträgers Alexis Carrel in Verbindung zu bringen. Tatsächlich finden sich in der 1943 abgeschlossenen, 1946 publizierten Schrift Mitscherlichs "Freiheit und Unfreiheit in der Krankheit" Sätze, in denen er sich seinen rigiden eugenischen Reim auf die "individualegoistische" Lebenserhaltung der "morbiden" und "dekadenten" Gegenwart macht: "Jetzt sind es nicht allein die Eugeniker und kritischen Biologen in aller Welt, wie z.B. Carrel, die überzeugt sind von der Notwendigkeit der Lebensvernichtung, um Gesundheit zu erhalten, auch ein in die metabiologische und philosophische Problematik so tief eingedrungener Forscher wie V. v. Weizsäcker beklagt es, dass der Arzt die Beteiligung an der Vernichtung 'nicht offen und darum auch nicht wissenschaftlich und nicht systematisch' betrieben habe: 'Es gab (und gibt heute noch) keine vollständige Vernichtungslehre, welche die rein als Erhaltungslehre aufgebaute Heilkunde ergänzt'."

Mitscherlich erschrak dann zwar selber "über das damals Gedachte" wegen des ",magischen' Zusammenhangs mit dem Gefälle der Zeit", obgleich er beharrte, dass die Niederschrift "ohne Kenntnis der gleichzeitig sich abspielenden 'systematischen' Anwendung der Vernichtungslehre erfolgte". Aber auch hier noch zieht er es vor, lieber die naturwissenschaftliche Organmedizin schuldig zu sprechen, als sich von ebenfalls der ganzheitlichen "Vernichtungsmedizin" seines Lehrers zu distanzieren. Außerdem datiert dieses Erschrecken erst auf die Nachkriegszeit, kurz bevor Mitscherlich als Beobachter des Nürnberger Ärzteprozesses zum engagiertesten Kritiker der nationalsozialistischen "Medizin ohne Menschlichkeit" wurde.

Im Zusammenhang mit diesem Prozess erfolgte indessen auch die entscheidende "Kehre" in Mitscherlichs Biografie, gerade deswegen um so höher zu schätzen, weil er der Weizsäcker`schen "ärztlichen Vernichtungslehre" keineswegs konsequent abgeneigt gewesen war. Als prominenter "Nestbeschmutzer" riskierte Mitscherlich nun Ruf wie Karriere. Doch von dieser "Kehre" will Dehli nur ungern wissen. Es spielt lieber den Be- als den Entlastungszeugen. "In dubio contra reum", "im Zweifel gegen den Angeklagten" ist allemal die Maxime. Insgesamt legt er lieber den Akzent auf die Kontinuitäten in Mitscherlichs Denken und Wirken, vor allem das andauernde Spannungsverhältnis zwischen elitären kulturkritischen Tendenzen und radikaldemokratischem Engagement.

Das kann, etwa bei der Analyse der Widersprüche zwischen Emanzipation und Konservatismus, Gesellschaftskritik und Kulturpessimismus in Mitscherlichs Sozialpsychologie der "vaterlosen Gesellschaft", erhellend wirken. Das Buch verbindet hier in anregender Weise wissenschaftsgeschichtliche und politische mit biografischen Fragestellungen.

Aber Dehlis Absicht, "ein freieres Verhältnis [...] als das der Abgrenzung oder der Identifikation" zur Biografie Mitscherlichs gewinnen zu wollen, lässt seiner immensen Lebensleistung nur widerwillig Gerechtigkeit widerfahren. Der Entlarvungsgestus dominiert, bis zur Entlarvung des personifizierten "Gewissens der Bundesrepublik" als "moralischer Charaktermaske". Das ist nicht nur unfair, es führt auch zu Fehlurteilen - vor allem dort, wo Dehli, um die These von der Mitscherlich`schen Neugründung der Psychoanalyse in der BRD attackieren zu können, das Berliner "Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie" unter Matthias Göring, einem Vetter des Reichsmarschalls, als angebliches Kontinuum ins Spiel bringen will.

In den jetzt zu erwartenden Auseinandersetzungen mit ihrer notorischen "Unfähigkeit zu trauern" wird das die Apologien auf den Plan rufen, "Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten" hat Freud seinen Patienten wie der von ihm begründeten Zunft ins Stammbuch geschrieben. Die revidierte Maxime "Erinnern, Korrigieren und Umschreiben" muss auf dem Weg zur "vaterlosen Gesellschaft" weder eine hagiografische Rettung noch einen Vatermord einschließen.


Titelbild

Martin Dehli: Leben als Konflikt. Zur Biographie Alexander Mitscherlichs.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
320 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835300637

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