Von der Unmöglichkeit, nicht zu kopieren

Philipp Theisohn und Dirk von Gehlen haben erhellende Bücher zur Frage literarischen Eigentums und zur ‚Krise des Originals‘ vorgelegt

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Literaturwissenschaftler mögen die Relevanz aktueller ‚Copy- & Paste‘-Debatten für die Zukunft ihres eigenen Faches noch immer nicht so ganz begriffen haben. Einige von ihnen bilden sich vielleicht sogar ein, es werde für sie bis auf Weiteres alles beim Alten bleiben, die Neuen Medien vermöchten an ihrem Text- und Literaturbegriff rein gar nichts zu ändern, und im Übrigen sei es nun wirklich nichts Besonderes, wenn etwa das Thema des Zweifels an Kategorien wie jener der Originalität oder der Authentizität in der Gegenwartsliteratur eine besonders auffällige Konjunktur erfahre. Dass die grenzenlose Erreichbarkeit und Kopierbarkeit von Texten im World Wide Web neue Fragen im Kontext sicher uralter Kontroversen um die Differenz von Intertextualität und Plagiarismus sowie der Bestimmbarkeit von Autorschaft aufzuwerfen vermöge, halten sie eventuell sogar ganz einfach für Unsinn. So weit komme es noch, kann man zumindest bei Gelegenheit schon einmal vernehmen, dass die Germanistik nun auch noch damit beginnen solle, sich ernsthaft mit Autorinnen wie Helene Hegemann auseinanderzusetzen.

Der an der ETH Zürich lehrende „Plagiats“-Experte Philipp Theisohn, der im vergangenen Sommersemester eine Professur in Frankfurt am Main vertrat, gehört nicht zu diesen Leuten. Mit seinem 2009 erschienenen Buch „Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte“ legte Theisohn bereits einen umfassenden literaturgeschichtlichen Abriss vor, den man wenig später sehr gut dazu benutzen konnte, um die kurz darauf entstandenen Plagiats-Debatten um Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ (2010) und Karl-Theodor zu Guttenbergs Dissertation (2011) vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte literarischer Plagiate und Kopien seit der Antike zu analysieren. Seitdem sind die Kontroversen um das Urheberrecht und die Rolle der Neuen Medien für das grassierende ‚Copy & Paste‘-Problem in Literatur und Wissenschaft jedoch geradezu eskaliert und füllen nunmehr seit vielen Monaten die Spalten der großen Tageszeitungen. Mehr noch: Die Debatte um die Kopierbarkeit künstlerischer Artefakte ist zu einem absoluten Mode- und Hauptthema der Medien avanciert, an dem gerade Literaturwissenschaftler kaum noch vorbeikommen, wenn sie sich nicht zum Gespött der Leute machen wollen.

Theisohn hat nun darauf mit seinem klugen ‚Essay‘ „Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter“ reagiert, der ebenso wie seine frühere Studie über die Geschichte des Plagiats im renommierten Stuttgarter Alfred Kröner Verlag erschienen ist. Wenn auch Theisohns zwar leserfreundlich gedachter, manchmal aber auch etwas selbstgefällig bis onkelhaft daherkommender Stil dem Leser bereits in dem Buch von 2009 gehörig auf den Zeiger gehen konnte, so gehört doch der neue Essay, in dem der Autor teils abermals etwas zu viel von sich selbst sprechen mag, zum Besten, was bislang zum Thema geschrieben worden ist. Der etwas ältliche rhetorische Kniff, die Leser mit einem kumpelhaften „Wir“ an der Hand zu nehmen, um sie passagenweise wie ein philisterhafter Erzähler in einem Wilhelm-Raabe-Roman durch die Argumentationen zu führen, fällt deshalb auch in diesem Fall nicht weiter ernsthaft ins Gewicht.

Theisohn streicht in seinem neuen Essay insbesondere die ethische Dimension des Umgangs mit Texten heraus. Er macht dabei zum Beispiel darauf aufmerksam, dass das grassierende ‚Durchscannen‘ von Büchern und Arbeiten mittels Anti-Plagiats-Software, das gerade dabei ist, auch den universitären Lehr- und Wissenschaftsbetrieb auf der Suche nach möglichen Plagiaten wie dem Karl-Theodor zu Guttenbergs auf der Basis gewisser Algorithmen zu durchdringen, zu einem hochproblematischen Umgang mit wissenschaftlichen Arbeiten führe. Dieser neue, rein maschinell generierte erste Blick auf Texte aller Art drohe das Lesen als Rezeptionsvorgang selbst in der Literaturwissenschaft abzuschaffen – also in einer geisteswissenschaftlichen Disziplin, in der das konzentrierte, geduldige und lineare Nachvollziehen von Texten seit jeher geradezu das basalste Wesen wissenschaftlichen Arbeitens und Schreibens ausmachte. Wer künftig mittels bloßer Rechnervorgänge über literaturwissenschaftliche Leistungen urteilen wolle, übersehe, dass sich sein Vorgehen von der Logik der Plagiatoren allein noch „durch seine Absichtserklärung“ unterscheide, argumentiert Theisohn. Damit drohe selbst in den Geisteswissenschfaften ein Denken um sich zu greifen, das „Wissenschaft in ihrer ethischen Dimension gar nicht mehr begreifen“ könne.

Das sind Gedanken, die so bisher noch kaum formuliert wurden, obwohl sie zu einer wichtigen Selbstbesinnung der Literaturwissenschaft zurückzuführen vermögen, einer Reflexion über ihre genuinen Arbeitsweisen und Aufgaben, die mit ‚sezierenden‘ maschinellen Abläufen überhaupt nicht zu erfassen und schon gar nicht letztgültig bewertbar sind: „Es gehört nämlich unabdingbar zur Kultur der Geisteswissenschaften, Texterfahrung zu vermitteln, Geschriebenes in neues Geschriebenes zu überführen und dadurch das Geschriebene neu lesbar zu machen. Das Feilen an der präzisen Formulierung, das Aufspüren alter und vergessener Metaphern, die Kombination scheinbar weit voneinander entfernter Bildlichkeiten, Systeme oder Quellen gehört zur grundlegenden Tätigkeit des Geisteswissenschaftlers“, erinnert Theisohn. Und weiter: „Die eigentliche Leistung der Geisteswissenschaften ist nur in der intersubjektiven Begegnung ertastbar, im Vermögen, eine Perspektive zu drehen, eine andere Sprache zu finden, ein neues Denken zu ermöglichen. ‚Geistiges Eigentum‘, das kann in dieser Kultur somit keine patentierbare Formel sein, es ist auch nicht der bloße Wortlaut, sondern im Wesentlichen herrscht in den Geisteswissenschaften die Vorstellung von geistigem Eigentum als einer Vermittlungsleistung.“

Wie nun Theisohn diese Einsichten über den besonderen Charakter literaturwissenschaftlicher Errungenschaften, die nur in einer konzentrierten Lektüre belesener Gelehrter wirklich erfassbar werden, von der handfesten Welt der Politik absetzt, die Skandale wie den um zu Guttenbergs „Dissertation“ hervorbrachte, ist ebenfalls lesenswert. Vielleicht verkürzt Theisohn an der Stelle aber auch etwas zu sehr: Fast hat es in seinen Analysen der in letzter Zeit so zahlreich enttarnten Plagiate unter von Politkern ‚verfassten‘ Doktorarbeiten den Anschein, als wolle Theisohn mit Max Webers Einsichten über die politische Tätigkeit als genuine Form der Gewalt- und Machtausübung, die sich mit der Relativität und der Dialektik des reflektierten und selbstkritischen Schreibvorgangs per se nicht vertragen könne, eine Art Naturgesetz festschreiben: „Das Verhältnis von Politik und literarischem Eigentum zeichnet sich dadurch aus, dass die Vorstellung des literarischen Eigentums einer Welt entstammt, die gerade nicht politikfähig ist, während umgekehrt Machtausübung resp. politische Entscheidungsgewalt nur denjenigen möglich wird, die mit dem Schreiben aufgehört und dafür gelernt haben, Sätze als Informationen und nur als Informationen zu lesen.“

Wenn dies tatsächlich so eindeutig gelten würde, hätte man sich in der Konsequenz des Gedankens wohl gleich ganz von der Idee der Demokratie zu verabschieden und die Utopie eines Politikers für immer zu vergessen, der zumindest theoretisch auch einmal anders handeln könnte als ein bloßer Lügen-Baron, der ‚übernommene‘ Informationen mit deren ‚charismatischer‘ Aneignung in der Öffentlichkeit zur Akkumulation von Macht nutzt. Wieso sollte es eigentlich nicht möglich sein, dass zur Abwechslung einmal ein kluger, selbstkritischer, belesener und akademisch rechtmäßig ausgewiesener Geisteswissenschaftler, der in der Lage wäre, seine Reden selbst zu schreiben, kluge Politik machte? Müssen diese Menschen wirklich alle immer so agieren wie zu Guttenberg, um für eine gewisse Zeit Erfolg bei den Wählern zu haben? Ist die Politik wirklich auf solche ruchlosen und gewissenlosen Selbstinszenierungen beschränkt, und sind die Menschen, die ihnen ihre Stimme geben, wirklich alle so unaufklärbar dumm? Zugegeben: Es wäre eine Weltneuheit, wenn dies einmal widerlegt würde, denn an dieser Stelle machtbewusste und allseits bejubelte Intellektuelle wie Papst Benedikt oder gar Joachim Gauck als ‚Lichtgestalten‘ zu nennen, würde wohl auch nicht exakt das treffen, was mit der Hoffnung, es könne tatsächlich irgendwann einmal anders sein, formuliert sein sollte.

Dass Theisohns ‚essayistischer‘ Versuch der Bündelung von Reflexionen über das weite Feld der Textgenese via Internet nicht immer und an allen Stellen ganz nachvollziehbar erscheinen mag, liegt jedoch bei seinen notwendigen Pointierungen in der Natur der Sache. Ein weiteres Beispiel wären hier, bei aller Luzidität von Theisohns betreffender Fallstudie, seine Ausführungen zum erwähnten Fall Helene Hegemanns. Verblüffte Theisohn während der Feuilleton-Debatte um „Axolotl Roadkill“ bereits in der „Neuen Zürcher Zeitung“ mit der überraschend dezidierten Einschätzung, bei dem Roman handele es sich in der Tat um ein Plagiat – „Was denn sonst.“ – so ist er in seinem aktuellen Buch in dieser Sache immerhin bereits weitaus vorsichtiger geworden. Davon, dass Hegemanns Text ein eindeutiges Plagiat sei, ist im neuen Essay jedenfalls an keiner Stelle mehr die Rede. Erstaunlich war diese eindeutige Verurteilung Hegemanns durch Theisohn seinerzeit schon allein deshalb, weil sich der Literaturwissenschaftler hier als jemand im Feuilleton zu Wort meldete, der immerhin gerade eine voluminöse Studie vorgelegt hatte, die deshalb so beeindruckte, weil sie die historische Relativität einer Kategorie wie der des ‚Plagiats‘ in der Literatur so eindrucksvoll und materialreich belegt hatte.

Umso fragwürdiger aber musste sich diese Kategorie bei einer Autorin aus der ‚Generation‘ der sogenannten Digital Natives ausnehmen, die es in ihrem gewiss überaus holperig und rekordverdächtig schlecht geschriebenen, aber dennoch zeitdiagnostisch aussagekräftigen Debütwerk ja gerade unternahm, diese Relativität der Kategorie literarischer Originalität darzustellen bzw. als offenes poetologisches Prinzip auszustellen. Dies sieht Theisohn allerdings auch in seinem aktuellen Essay immer noch anders: „Wenn Axolotl Roadkill tatsächlich so etwas wie eine belastbare poetologische These besitzt, dann liegt die eben darin, dass aus diesem Anhäufen und Herumtragen von fremdem Material überhaupt nichts mehr hervorgeht.“

Wieso ist sich Theisohn eigentlich hier, in diesem einen Fall, immer so überaus sicher in seinem Urteil? Fasst hat man den Eindruck, er wolle sich nicht die Blöße geben, seine frühere NZZ-Kritik an Hegemann in irgendeiner Weise offen relativieren zu müssen. Vielleicht wird der Ton seiner Polemik an der Stelle auch deshalb so scharf, wenn er über „Axolotl Roadkill“ dekretiert: „Es gibt in dieser Welt keinerlei Inspiration, weil es auch kein kompositorisches Bewusstsein mehr gibt, weil das, was da angeblich ‚Realität‘ sein soll, nicht einmal im Ansatz reflektiert worden ist oder reflektiert werden soll. Wer behauptet, hier würde ernsthaft noch ein anderer Ort erreicht, hier entstünde irgendein tieferes Verständnis der geborgten Wirklichkeit – der lügt.“ Hier klingt der Autor in seiner Polemik bereits endgültig wie eine grantelnde Figur Thomas Bernhards. Wenigstens bemerkt Theisohn an späterer Stelle noch einmal nachdenklicher: „Am Ende angekommen, fällt mir erneut auf, wie schwer es mittlerweile eigentlich geworden ist, über Besitz und Technologie zu reden, ohne augenblicklich reaktionär zu erscheinen.“

Kurz: Über Theisohns dezidierte Abkanzelung Helene Hegemanns ließe sich selbstredend immer noch trefflich streiten. Der Weisheit letzter Schluss dürfte sie zumindest aus literaturwissenschaftlicher Sicht kaum bleiben. Ähnlich verhält es sich damit auch bei Dirk von Gehlen, dessen überaus empfehlenswertes Buch „Mashup. Lob der Kopie“ in Sachen Hegemann mit Theisohns Einschätzung auf erstaunlich kurzschlüssige Weise konform geht. Auch von Gehlens Buch, das die Kopie als Kulturtechnik ausdrücklich als Akt der Kreativität neu zu profilieren und zu rehabilitieren sucht, watscht ausgerechnet Hegemanns Roman an einer Stelle als Plagiat ab, obwohl gerade dieser Text im Kontext der Ausführungen von Gehlens eine differenziertere Auseinandersetzung hätte lohnend erscheinen lassen. Stattdessen entsteht der Eindruck, von Gehlen beziehe sich mit seiner voreiligen Bewertung der Hegemann-Debatte eher auf diese selbst, als dass er den zugrunde liegenden Text eigens zur Kenntnis genommen hätte.

Diese Randbeobachtung ändert jedoch nichts an der Feststellung, dass auch „Mashup“ eines der wichtigsten Bücher zum Thema der Kopie im Zeitalter des Internets ist, die in der letzten Zeit erschienen sind. Es handelt sich dabei um ein ebenfalls eher schmales, bereits im Jahr 2011 bei Suhrkamp herausgekommenes Bändchen, dass sich fast schon spielerisch aus verschiedenen Einzelbeobachtungen, Interviews und teils auch mit Fußnoten versehenen Aufsätzen über das Thema der „Krise des Originals“ sowie der sogenannten „Remix-Kultur“ zusammensetzt und mit einem „Plädoyer für einen neuen Begriff des Originals“ endet. Ganz am Schluss des Bandes gibt es schließlich noch ein kommentiertes Glossar mit Begriffen, die für das Verständnis des Buches wichtig erscheinen. Dirk von Gehlens Vorgehen unterscheidet sich formal insofern von Theisohns Herangehensweise, als sich der Autor als Redakteur der Süddeutschen Zeitung beziehungsweise des Online-Forums jetzt.de seinem Thema weniger als Literaturwissenschaftler denn als recherchierender Journalist nähert.

Letztlich betont aber auch von Gehlen unermüdlich, dass das Wesen von ‚Originalität‘ seit jeher im Auge des Betrachters gelegen habe. Was als ein ‚Original‘ angesehen wurde, ging in der Geschichte und bis heute stets auf soziokulturell geformte und also wandelbare Zuschreibungen zurück, weshalb ein solches ‚Original‘ nicht etwa als ein als ‚naturgegeben‘ definierbares Faktum einzustufen sei: „Was wir für ein Original halten, hat mindestens ebenso viel mit dem Prozess der Entstehung und seinem oder seinen Schöpfern zu tun wie mit dem Prozess der Rezeption und Einordnung. Die Konstruktion eines Originals gelingt also nur, wenn es auch Rezipienten gibt, die es als ein solches wahrnehmen wollen.“

Man müsse deshalb endlich von der ‚Schwarz-Weiß‘-Vorstellung wegkommen, es gebe in Fragen der Originalität stets entweder ein klares ‚Ja‘ oder ein eindeutiges ‚Nein‘: „Man sollte also von eher schwachen und starken Originalen sprechen“, so der zugegebenermaßen auch etwas vage Vorschlag des Autors, „je nachdem, wie eng sich ein Werk an seine Quellen und Vorgänger anlehnt, wie kreativ der Übertrag auf einen neuen Kontext ist und wie originell die Bezugswelten sind, die dadurch eröffnet werden.“

Übrigens ist dies zumindest ein Kriterienkatalog, anhand dessen es mehr als zweifelhaft erscheinen muss, Hegemanns Roman „Axolotl Roadkill“ noch als ‚Plagiat‘ zu bezeichnen, da der Roman die geringfügigen und noch dazu stets umformulierten Anleihen bei dem Blogger Strobo, die seinerzeit so sehr skandalisiert wurden, neu kontextualisiert und so zum Teil von etwas komplett Neuen macht – doch dies nur nebenbei.

Ein weiterer Punkt, den von Gehlen herausstreicht, ist die tatsächliche Chance, die es seit jeher für einen Künstler bedeutet hat, kopiert zu werden. Was vor allem die Musikindustrie-Konzerne im Zusammenhang mit ihrem mittlerweile gescheiterten Projekt des Anti-Counterfeiting Trade Agreement (ACTA) immer wieder behauptet haben – dass nämlich die Möglichkeit, Kunstwerke im Internet unendlich zu vervielfältigen, nichts als gigantische finanzielle Verluste bedeute, erscheint aus dieser Perspektive durchaus zweifelhaft: „Es gibt Wege“, prognostiziert von Gehlen, „mittels deren es gelingen kann, den vagabundierenden Kopien Herr zu werden“ – und zwar „ohne die kreativen Potenziale der Kopie zu unterbinden“. Solche Zukunfstmodelle seien „nicht nur auf der konkreten Ebene des Vertriebs möglich“, betont der Autor, sondern sie würden sich auch „auf der abstrakten Ebene des Urheberrechts durchsetzen“.

Frappierend ist jedenfalls von Gehlens Beobachtung, dass die düsteren Weltungergangsszenarien, die Konzerne gerne immer dann beschwören, wenn sich ihre Vertriebswege als reformbedürftig erweisen, um daraufhin zu allererst die Verbraucher zu kriminalisieren, die nichts weiter tun als der sie umgebenden medialen Situation Rechnung zu tragen, im Grunde altbekannt sind und auch vor Jahrzehnten schon genauso bemüht wurden. Und zwar sowohl bei der Durchsetzung des Radios als Hörfunkmedium als auch beim Aufkommen der Audio-Leerkassette in den 1970er-Jahren: „Damals hieß es ‚Hometaping is killing music‘, heute heißt es ‚Raubkopierer sind Verbrecher‘“, erinnert Dirk von Gehlen und fasst zusammen, dass „die Befreiung der Kultur und des Wissens, die Dateien schutzlos dem Kopieren ausliefert, nicht zum Ende der Kultur, vielleicht aber zum Ende bestehender Geschäftsmodelle führen kann. Genauso wie das freie Versenden der Musik über das Radio auch nicht dazu geführt hat, dass keine Musik mehr gemacht wird.“

Mit anderen Worten: Dirk von Gehlen streicht in seinem Buch eindrucksvoll heraus, welche Chancen die Nutzung problemlosen Kopierens und also auch der Verbreitung von Kunst in Zukunft tatsächlich eröffnen sollte, wenn man das Internet nicht endgültig in einen gigantischen virtuellen Kontrollraum verwandeln möchte, der die verbriefte Freiheit der Bürger und Rezipienten alltäglich mit Füßen treten würde. „Stattdessen sollten auch wir die Sache nehmen, wie sie liegt“, schlägt von Gehlen vor, „und uns konstruktiv der Frage zuwenden, wie die digitale Welt aussehen soll, in der wir leben wollen.“ Überhaupt läuft in diesem Buch am Ende alles auf die simple Festellung hinaus, die sich aktuelle Kulturpessimisten hinter die Ohren schreiben sollten: „Wir können nicht nicht kopieren.“

Wenn die Bücher von Theisohn und von Dirk von Gehlen auch nicht in allen Punkten überzeugen mögen, so sind sie doch als besonnene und luzide Diskussionsbeiträge zu würdigen. Ihre Lektüre ist aber vor allem auch deshalb so besonders zu empfehlen, weil ihre Kenntnisnahme dazu geeignet erscheint, die mitunter allzu aufgeheizten Debatten um Fragen des Urheberrechts, wie sie im Moment in den Medien und auch in der Wissenschaft geführt werden, wieder zu versachlichen und auf die fast verloren erscheinenden Wege rationaler Lösungsfindungen zurückzumanövrieren.

Titelbild

Dirk von Gehlen: Mashup. Lob der Kopie.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
232 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126219

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Titelbild

Philipp Theisohn: Literarisches Eigentum. Zur Ethik geistiger Arbeit im digitalen Zeitalter.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2012.
137 Seiten, 11,90 EUR.
ISBN-13: 9783520510013

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