Es geht nicht um Tacitus

Über Gerald Krutzlers Studie „Kult und Tabu“

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die vorliegende Publikation ist eine überarbeitete Fassung der Dissertation des Verfassers, die von Walter Pohl, einem Doyen der Frühmittelalterforschung betreut wurde. Das mit knapp 450 Seiten recht umfangreiche Werk thematisiert anhand von Quellenüberlieferungen des Bonifatius und anderer Missionare die – vor allem religiösen – Verhältnisse in der ‚Germania‘ des 8. Jahrhunderts, also im zumindest mittelbaren Vorfeld der Epoche Karls des Großen.

In diesem Zusammenhang macht allerdings die Begriffswahl ‚Germania‘ (im Titel ohne Anführungszeichen und eben auch ohne die zeitliche Konkretisierung auf das 8. Jahrhundert) ein wenig stutzig, und so mag es zu entschuldigen sein, dass der Rezensent beim Lesen des Untertitels zunächst etwas anderes erwartet hat, da er bei der ‚Germania‘ den römischen Historiografen ‚Tacitus‘ mitkonnotierte und doch äußerst neugierig darauf war, in welcher Weise eine Tacitus-Adaption bei Bonifatius stattgefunden haben könnte.

Ist dieser Irrtum erst einmal geklärt und die vielleicht vorhandene leichte Enttäuschung verflogen, erweist sich das Buch zum einen als eine anregende Hinführung zur missionarischen Tätigkeit des Bonifatius, zum anderen – und das ist letztlich entscheidender – als eine Erweiterungshilfe für das Basiswissen, das im Allgemeinen bei am Mittelalter Interessierten über den angelsächsischen Missionar vorhanden sein dürfte.

Es werden Aspekte, deren Wahrnehmung in der Bonifatius-Forschung nicht unbedingt neu ist, hier allerdings in kompakter Weise zusammengefasst sind, in umfassender Weise angegangen, so dass etwa dem Feld der Religion ebenso ein eigener Abschnitt gewidmet ist, wie das auch für den Bereich der Speiseverbote bzw. der Ehehindernisse der Fall ist. Zuerst jedoch werden biografische Details der Autoren vorangeschickt, aus deren Quellen Gerald Krutzler schöpft beziehungsweise die von Bonifatius erwähnt werden respektive Empfänger seiner Schreiben sind. Zuvor stellt der Autor sowohl die Bonifatius-Briefe als auch Willibalds ‚Vita Bonifatii‘– angesichts des eben erwähnten folgenden recht umfangreichen biografischen Abschnitts vielleicht etwas zu kurz – vor.

Dies gilt bedingt auch für den dritten Abschnitt, ‚Germanien und die Gentes Germaniae‘, in denen einzelne Völker wie etwa Bayern (hier wäre meines Erachtens die Schreibung ‚Baiern‘ historisch korrekter), Friesen, Thüringer und Hessen sowie kleinere Völker beziehungsweise Unter-Völker behandelt werden, die „offenbar“ – so der Autor – als kleine gentile Gruppen im Umfeld der Hessen und Thüringer anzusehen wären, und in einen historischen Kontext gestellt sind. In vergleichbarer Weise werden auch Slawen und Wenden knapp thematisiert. Warum allerdings der Frage nach der genaueren Definition der ‚Barbarentopik in den Bonifatiusquellen‘ ein eigenes, jedoch lediglich drei Seiten umfassendes Oberkapitel gewidmet ist, erscheint schwer nachvollziehbar, vor allem auch deshalb, weil es als vierter Abschnitt dem Germanen-Schwerpunkt nachgestellt ist.

Im umfangreichsten Teil, der den Aspekt der ‚Religion‘ behandelt, werden in ansprechender Weise Quellenaussagen zu christlichen und nichtchristlichen religiösen Phänomenen aus der Zeit des Bonifatius mit der aktuellen Forschungslage zu den entsprechenden Unterthemen respektive Stichwörtern in Zusammenhang gebracht. Hier fällt zunächst auch das – ebenfalls etwas zu knapp ausgefallene – Unterkapitel ‚Arianismus und verwildertes Christentum‘ ins Auge, wobei Gerald Krutzler insofern überraschend argumentiert, als der Begriff des Arianismus in den Bonifatiusbriefen gar nicht vorkommt, der Autor über die ‚Historiae Francorum‘ lediglich indirekt argumentieren kann. Gleichwohl ist der Verweis Krutzlers auf die immer wieder zu beobachtende Gleichsetzung dieses Begriffs mit ‚Heidentum‘ insofern wichtig, als er zu recht auf die Heiden-Topik im Zusammenhang mit synkretistischen, also ‚verwilderten‘, Erscheinungen eines bereits zuvor bestehenden Christentums verweist.

Dieser nicht unwesentliche Hinweis wird immer wieder bei der Diskussion der einzelnen religiösen Phänomene, die Gerald Krutzler im Folgenden behandelt, gegeben, so dass – und das ist sicherlich eine der wesentlichen Leistungen der vorliegenden Publikation – eine Hilfestellung quellenkritischer Art gegeben ist, die insbesondere für diejenigen, die unbedarft an die verschiedenen Ausgaben der Bonifatius-Briefe herangehen, einen nicht zu unterschätzenden Vorteil darstellen wird. Dies gilt auch für die allgemeinhistorische und religions- beziehungsweise kirchengeschichtliche Unterfütterung der thematisierten Topoi in den Texten des Bonifatius. So kann die Publikation durchaus als eine Art Vademecum für die Lektüre der entsprechenden Quellen dienen. Ungeachtet der oben erhobenen Einwände ist das Buch gut lesbar und lesenswert und wird sicherlich insbesondere denjenigen Studierenden, die sich mit dem Frühmittelalter allgemein beziehungsweise frühmittelalterlicher Kirchengeschichte beschäftigen, eine nicht unwesentliche Hilfe sein.

Ein Einwand, der freilich nichts mit der Leistung Gerald Krutzlers zu tun hat, sei jedoch am Ende noch erhoben. Ärgerlich – und angesichts eines Verkaufspreises, der sich zugegebeneremaßen im durchschnittlichen Rahmen bewegt, aber gleichwohl kein ‚Discounter-Angebot‘ darstellt, auch befremdlich – ist die Tatsache, dass der Verlag auf der vierten Umschlagseite des vorliegenden Buches die Personeninformationen der Verfasserin des ersten Bandes der ‚Anthropologie des Mittelalters‘, Elisabeth Monyk, mit abgedruckt hat. Hier wurde offenkundig die Vorlage aus dem jungen Reihen-Format nur erweitert und das Ergebnis nicht noch einmal nachgeprüft.

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Gerald Krutzler: Kult und Tabu. Wahrnehmungen der Germania bei Bonifatius.
LIT Verlag, Wien ; Berlin ; Münster 2011.
439 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783643502513

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